„Kryonium“ von Matthias A. K. Zimmermann

Buch: „Kryonium“

Autor: Matthias A. K. Zimmermann

Verlag: Kulturverlag Kadmos

Ausgabe: Hardcover, 352 Seiten

Der Autor: Matthias A. K. Zimmermann (Matthias Alexander Kristian Zimmermann) wurde 1981 in Basel (Schweiz) geboren. Er ist Schriftsteller, Maler und Medienkünstler. Sein Werk erfuhr eine breite Rezension und befindet sich in Sammlungen und Archiven diverser Museen und Institutionen. Er studierte musikalische Komposition, Kunst & Vermittlung, Game Design, Art Education und Pädagogik. (Quelle: Kadmos)

Das Buch: Gefangen an einem unbekannten Ort, schmiedet der Erzähler heimlich Fluchtpläne. Die Tatsache, ohne Erinnerungen zu sein, erschwert das Vorhaben. Doch der Drang, endlich auszubrechen aus diesem furchteinflößenden, schneeverwobenen Schloss, lässt ihn jedes Risiko eingehen. Und so gerät der Erzähler immer tiefer hinein in einen wirren Strudel aus rätselhaften Begegnungen und magischer Paranoia, die er spielerisch zu entschlüsseln hofft, was ihn letztlich zum Ursprung seiner Erinnerungen führt.

Der All-Age-Roman ist ein technoides Märchen, das sich mit Virtualität auseinandersetzt und die Frage aufwirft, was Erinnerungen sind und was sie bedeuten. Nichts ist so, wie es scheint in der Geschichte und die Frage, was Realität ist, muss immer wieder neu überdacht werden. (Quelle: Kadmos)

Fazit: „Kyronium“ ist eines dieser Beispiele für Bücher, in die man sich manchmal wirklich hineinarbeiten muss, um letztlich dann aber doch noch ein recht faszinierendes Leseerlebnis zu bekommen. So hat mir der Verlag das Rezensionsexemplar freundlicherweise schon vor einer halben Ewigkeit zukommen lassen und ich machte mich auch bald frisch ans Werk – nur um daraufhin mehrmals bereits im ersten der insgesamt drei Teile des Buches zu scheitern.

In erster Linie lag das daran, dass in diesem ersten Teil alles irgendwie seltsam anmutete. Die Protagonistin befindet sich in einem Schloss und hat ihr Gedächtnis verloren. Sie weiß weder, wer sie ist, noch wie sie in dieses Schloss gekommen ist oder wo sich selbiges genau befindet. Sie kennt lediglich ihre Aufgabe – die Leitung der sogenannten Lichtwerkstatt, in der unzählige Glühlampen hergestellt werden – sowie die Hierarchie im Schloss, an deren Spitze sich der König und dessen Ritter befinden, gefolgt von einer aus Wachen und Hofdamen gebildeten Mittelschicht. Darunter wiederum befinden sich alle weiteren Untertanen. Das Schloss steht auf einer kleinen Insel, nebenan liegt ein von Zwergen, Kobolden, Gnomen sowie vereinzelten Einhörnern und einer verhaltensoriginellen Hexe bewohnter Wald. Die Insel ist umschlossen von einem eisbedeckten See und unter der Eisschicht wiederum lautert ein sagenumwobenes Monster, das gelegentlich in Form von, sagen wir, schwarzem Nebel erscheint und sämtliche Fluchtversuche von der Insel vereitelt, weil diese mit dem Tode der Flüchtenden enden. Man fühlt sich als Leser ein bisschen wie in „Lost“ und ist es auch. Also verloren halt.

Der Einstieg wurde zusätzlich durch die Verwendung von eher kryptisch wirkenden Elementen erschwert, wie beispielsweise einer wahren Palindrom-Flut, die der Autor nicht nur in Form der Namen seiner Figuren wie u.a. Nora, Aron und Hannah auf die Leserschaft loslässt, sondern noch weit darüber hinausgeht, was in Summe aber irgendwann so wirkt, als hätte der Autor einfach eine Liste von Palindromen gegoogelt und dann versucht, möglichst viel davon halbwegs sinnvoll im Buch unterzubringen, als Beispiel sei hier mal der „Legovogel“ genannt. Ähnlich seltsam wirken die im Buch genannten Uhrzeiten. Wann immer jemand auf die Uhr sieht, ist es 09:09 Uhr, 08:08 Uhr, 07:07 Uhr etc. pp.

Das alles sorgte im Hinblick auf die Frage „Was will mir der Autor nur damit sagen?“ für Schulterzucken und Stirnrunzeln bei mir und in der Folge dann für den mehrmaligen Abbruch der Lektüre.

Nun wusste ich, unter anderem aufgrund der Vita des Autors, ja, dass es in „Kryonium“ irgendwie auch um Videospiele gehen sollte und das ist ja eigentlich schon so ein bisschen mein Thema, also bin ich drangeblieben und wurde letztlich doch belohnt.

„Get out of the Hinterlands“ heißt ein unter PC-Spiel-Fans – übrigens völlig zu Recht – gut gemeinter Rat über das Rollenspiel „Dragon Age: Inquisition“, womit man ausdrücken möchte, dass man das „Die Hinterlande“ genannte Startgebiet in diesem Spiel möglichst schnell hinter sich lassen möge, um einen extrem zähen Spieleinstieg zu verhindern. Und hier gilt das ebenso, mein Rat kann daher nur sein, möglichst schnell diesen ersten Teil hinter sich zu lassen.

Denn dann ergibt plötzlich alles einen Sinn. Auch der erste Teil. Und die Palindrome. Und auch die Zusammenhänge zu Videospielen werden deutlich: Der Fluchtversuch der Hauptfigur aus dem Schloss im ersten Teil ähnelt einem klassischen „Point & Click Adventure“, aus einem eben solchen, nämlich „The Secret auf Monkey Island“ hat sich der Autor ein Zitat über einen dreiköpfigen Affen entliehen – davon hätten es gerne noch mehr sein können, die Zielgruppe hätte sicherlich auch Anspielungen auf einen Pfeil im Knie oder den immer gleich bleibenden Krieg verstanden -, die genannte verhaltensoriginelle Hexe fungiert als „Endgegner“ im Stile eines Action-Adventures, die Protagonistin muss sich später levelartig durch verschiedene „Welten“ arbeiten, die an „Pac-Man“, „Zelda“, einen Hauch „Populous“ oder das aus seligen 64er-Zeiten entstammende „Junge Hunt“ erinnern und zwischenzeitlich fühlt man sich an den „Animus“ von „Abstergo Industries“ aus „Assassin’s Creed“ erinnert. Böhmische Dörfer? Tja, Pech … ;-) Ich bin mir überdies sicher, dass das Buch noch weitere derartige Bezüge enthält, die mir gar nicht aufgefallen sind.

Ähnlich wie die Bezüge zu Platons Höhlengleichnis, was mir, wie ich gerne zugebe, erst durch die Lektüre des Nachworts klar wurde, da meine Kenntnisse in der griechischem Philosophie belagenswert überschaubar sind. Dafür kenne ich „Assassin’s Creed“ …

„Kryonium“ lässt sich in erster Linie als literarisches Experiment mit spannender Fragestellung und philosophischem Hintergrund begreifen. Es lässt sich sicherlich aber auch als Unterhaltungsroman lesen, wenn man es denn möchte. Nur geht dann ein bisschen die Wirkung verloren. Und das wäre schade.

Kurz: „Kryonium“ ist ein phasenweise forderndes Leseerlebnis mit nicht niedrigem Anspruch, auf das man sich einlassen muss und mit einem nahe an einer literarischen Wurzelbehandlung vorbeigehenden Einstieg. Wer sich darauf einlässt, wird jedoch durchaus belohnt.

Ich bedanke mich beim Kulturverlag Kadmos für die freundliche Übersendung des Rezensionsexemplars. Die Tatsache, dass es sich um ein Rezensionsexemplar handelt, beeinflusst meine Meinung selbstredend nicht.

Wertung:

8 von 10 Punkten

Demnächst in diesem Blog: „Fragen zu „Corpus Deliciti““ von Juli Zeh ooooder „Staub zu Staub“ von Felix Weber.

„Dunkel“ von Ragnar Jónasson

Buch: „Dunkel“

Autor: Ragnar Jónasson

Verlag: btb

Ausgabe: Taschenbuch, 384 Seiten

Der Autor: Ragnar Jónasson, 1976 in Reykjavík geboren, ist Mitglied der britischen Crime Writers‘ Association und Mitbegründer des »Iceland Noir«, dem Reykjavík International Crime Writing Festival.
Seine Bücher werden in 21 Sprachen in über 30 Ländern veröffentlicht und von Zeitungen wie der New York Times und Washington Post gefeiert.
Ragnar Jónasson lebt und arbeitet als Schriftsteller und Investmentbanker in der isländischen Hauptstadt. An der Universität Reykjavík lehrt er außerdem Rechtswissenschaften. Die preisgekrönte Hulda-Trilogie erscheint bei btb erstmals auf Deutsch. (Quelle: Random House)

Das Buch: Hulda Hermannsdóttir, Kommissarin bei der Polizei Reykjavík, soll frühzeitig in Ruhestand gehen, um Platz für einen jüngeren Kollegen zu machen. Sie darf sich einen letzten Fall, einen cold case, aussuchen – und sie weiß sofort, für welchen sie sich entscheidet. Der Tod einer jungen Frau wirft während der Ermittlungen düstere Rätsel auf, und die Zeit, um endlich die Wahrheit ans Licht zu bringen, rennt. Eine Wahrheit, für die Hulda ihr eigenes Leben riskiert … (Quelle: Random House)

Fazit: Jónassons Trilogie wurde allenthalben von Kritikern und Leserschaft gelobt. Und tatsächlich hinterlässt der Auftakt zur Reihe um die Kommissarin Hulda Hermannsdóttir streckenweise einen recht guten Eindruck, so ganz kann ich mich dem Lob aber dann doch nicht anschließen.

Das beginnt bereits mit der Hauptfigur. Dabei wird insbesondere Hulda von den lobenden Stimmen eigentlich als positiver Aspekt hervorgehoben. Und im Grunde stimmt das auch. Die Protagonistin ist tatsächlich gut und detailliert herausgearbeitet, teils so detailliert, dass sich das Buch phasenweise eher mit seiner Hauptfigur und ihrer Hintergrundgeschichte als mit dem eigentlichen Kriminalfall beschäftigt. Im Laufe der Buches lernt die Leserschaft Hulda und ihre Beweggründe immer  besser kennen und erfährt, warum sie so handelt, wie sie handelt.

Nur leider muss ich sagen, dass Hulda mich persönlich auf emotionaler Ebene nie erreicht hat und dafür ist sie auch selbst verantwortlich. Denn ganz zu Beginn des Buches – insofern ist das kein Spoiler, aber wer es nicht wissen will, überspringt den restlichen Absatz einfach – begeht sie einen folgenschweren Fehler, der dazu führt, dass ich ihr voreingenommen gegenübertrete: Sie deckt eine Straftäterin, gegen die wegen schwerer Körperverletzung ermittelt wird, einfach, weil sie mit den Motiven dieser Frau übereinstimmt, weil sie das Opfer der Körperverletzung für einen schlechten Menschen hält. Und ja, ihr Handeln wird begründet – ob man die Begründung schlüssig findet oder nicht, sei jedem selbst überlassen -, stellt aber doch aus meiner Sicht gerade für eine Kommissarin, und seien ihre Motive noch so gut, eine absolut verantwortungslose, moralisch werfwerliche Handlung dar. Und eine Figur, die sich in moralischer Hinsicht schon zu Beginn eines Buches derartig selbst diskreditiert, hat es in der Folge bei mir eben schwer.

Meine Probleme mit dem Buch beschränken sich aber nicht auf Hulda alleine. Auch der eigentliche Kriminalfall schwächelt an manchen Stellen, insbesondere, was die eigentliche Ermittlungsarbeit angeht. Zwar bietet die Handlung eine, zumindest für mich, durchaus überraschende Auflösung, der Weg bis dahin ist aber bemerkenswert unspektakulär. Huldas Ermittlungsergebnisse beruhen häufig darauf, dass sie zufällig jemanden kennt, der etwas weiß oder wissen könnte oder aber, dass sie jemanden kennt, der jemanden kennt, der jemanden kennt, der etwas weiß oder wissen könnte. Irgendwie ging das alles zu glatt und war mir in Summe einfach ein bisschen zu wenig.

Und auch im Hinblick auf Form und Stil kann ich nicht in Jubelarien ausbrechen. Jónasson wechselt zwischen Kapiteln, die sich mit den heutigen Ereignissen und der Ermittlungsarbeit beschäftigen und solchen, die mehr oder weniger aus Sicht eines Mordopfers zeigen, wie es zu der Gewalttat kommen konnte, ab. Und während man das guten Gewissen so machen kann, ist es mehr der Stil, mit dem ich hier meine Probleme habe, denn der Autor hat eine seltsam nüchterne, reduzierte und schnörkellose Erzählweise, die nicht ganz an die Hauptsatz-Flut eines von Schirach heranreicht, aber dennoch dazu beiträgt, dass mich neben der Hauptfigur auch die Handlung nur bedingt errreichen konnte.

Und das ist überaus schade, denn wenn man den Fokus ein bisschen mehr auf  den Plot rund um eine russische Einwanderin, ihre Sorgen und Nöte, gelegt hätte, dann hätte man eine emotionalere Geschichte erzählen können.

Insgesamt klingt das vielleicht negativer als es beabsichtigt ist und wer mit einer Ermitterfigur mit fragwürdigem moralischen Kompass weniger Probleme hat und mit einer Handlung, die nicht gerade vor atemloser Spannung strotzt, dafür aber segenswerterweise recht unblutig und ohne Effektheischerei auskommt, der dürfte mit „Dunkel“ durchaus seinen Spaß haben.

Und auch ich werde dranbleiben an dieser Reihe, die demnächst mit „Insel“ fortgesetzt wird. Und da es sich bei dieser Fortsetzung eher um ein Prequel handelt, die Hauptfigur in diesem Buch daher vielleicht noch keinen defekten moralischen Kompass hat, komme ich dann möglicherweise auch besser mit ihr klar.

Man wird sehen …

Ich danke dem Bloggerportal und dem btb Verlag für die freundliche Übersendung des Rezensionsexemplars. Die Tatsache, dass es sich um ein Rezensionsexemplar handelte, beeinflusst meine Meinung selbstredend nicht.

Wertung:

Handlung: 6,5 von 10 Punkten

Charaktere: 6,5 von 10 Punkten

Stil: 7,5 von 10 Punkten

Spannung: 6,5 von 10 Punkten

Gesamtwertung: 6,75 von 10 Punkten

Demnächst in diesem Blog: „Kryonium“ von Matthias A. K. Zimmermann.

 

abc.Etüden KW 26/27

abc.etüden 2020 26+27 | 365tageasatzaday

 

Hallo, liebe Leserinnen und Leser,

zugegeben, die von Christiane organisierten Etüden genießen gerade keine Priorität bei mir – ich müsste diesbzüglich mal eine Umfrage durchführen … – aber zwischendurch gibt es ja doch Anlass, etwas zu schreiben, diesmal zu einer Wortspende aus dem Blog „Weltall. Erde. Mensch…und Ich„.

 

„Na, worüber reden wir heute?“

„Tja, da es wohl noch eine ganze Weile dauern dürfte, bis ein Impfstoff aus dem Reagenzglas hüpft, würde sich als Thema …“

„Das beschäftigt mich jeden Tag auf geradezu übermächtige Weise, also: Nein!“

„Na gut, dann … bayerische Politiker, das geht immer!“

„Da kriege ich nur wieder Söderbrennen! Wobei, es gibt ja noch andere … mit Ämtern auf Bundesebene …“

„Seehofer?“

„Seehofer!“

„Was hat er verbrochen?“

„Oh, vieles. So hat er offensichtlich ein sehr individuelles Verständnis von Pressefreiheit …“

„Ach komm, die Kolumne in der taz war aber auch echt nicht gut geschrieben!“

„Mag sein. Macht sie das in irgendeiner Weise strafrechtlich relevant?“

„Ähm, nein?“

„Eben! Schon durch Bundespräsident a. D. Wulff hätte er ja gelernt haben können, der nahm es mit der Pressefreiheit auch nicht so genau. Außerdem hat er, also Seehofer, doch gerade erst einen Rechtsstreit verloren, so dusselig kann er doch eigentlich … ach, vergiss es. Es geht mir auch um etwas anderes.“

„Nämlich?“

„Stuttgart!“

„Oh, ja. Schlimme Sache das.“

„Zweifellos.“

„Und? Was hat Seehofer da verbockt?“

„Einerseits fuhr er schon kurz nach den Taten nach Stuttgart.“

„Ja, und?“

„Tja, was man beinahe schon vergessen hat: In Chemnitz war er seinerzeit nicht. Stattdessen äußerte er „Verständnis“ für die Demonstranten und sagte: „Ich wäre in Chemnitz als Staatsbürger auch auf die Straße gegangen“. Bei Gewalt gegen Menschen scheint es bei ihm also darauf anzukommen, gegen wen sich diese richtet und von welcher Seite sie ausgeübt wird …“

„Ist das neu?“

„Leider nicht. Aber das eigentliche Problem: Er forderte – völlig zu Recht natürlich – „harte Strafen“ gegen die Täter, denn, und jetzt kommt es, „Strafen sind immer noch das beste präventive Mittel“.

„Ähm, nein!?“

„Natürlich nicht, sonst verhängen wir einfach zukünftig auf alles die Todesstrafe und haben gar keine Straftaten mehr! Prävention bedeutet: Bildung, Aufklärung, familiäre und soziale Stabilität und vieles mehr!“

 

300 Worte.

„Mord in der Sonntagsstraße“ von Peter Englund

Buch: „Mord in der Sonntagsstraße“

Autor: Peter Englund

Verlag: Rowohlt

Ausgabe: Hardcover

Der Autor: Peter Englund, geboren 1957, arbeitete als Kriegsreporter unter anderem auf dem Balkan, in Afghanistan und im Irak, lehrte Geschichte an der Universität Uppsala und wurde Professor für Historische Narratologie in Stockholm. Er schrieb zahlreiche Bücher zu historischen Themen, die zu Bestsellern wurden. Von 2009 bis 2015 war er Ständiger Sekretär der Schwedischen Akademie, die den Nobelpreis vergibt. 2011 erschien bei Rowohlt Berlin sein Geschichtsepos «Schönheit und Schrecken. Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen», das in rund zwanzig Sprachen übersetzt wurde. (Quelle: Rowohlt)

Das Buch: Es sollte das perfekte Verbrechen sein, und es wurde ein Mord, der ein ganzes Land erschütterte. Schweden in seinen «Wunderjahren», als alles sicher und geregelt schien, die Zukunft verheißungsvoll, blickte in einen Abgrund. Im Juli 1965 wird eine junge Frau tot in ihrem Elternhaus an der idyllischen Sonntagsstraße in Stockholm gefunden. Die Ermittler stehen vor einem Rätsel. Was genau ist geschehen? Warum musste sie sterben? Und vor allem: Wer ist der Mörder? (Quelle: Rowohlt)

Fazit: Meine Kenntnisse in schwedischer Geschichte erschöpfen sich im Wesentlichen mit den Geschehnissen des Dreißigjährigen Krieges, also mit Ereignissen wie dem Tode Gustav Adolfs oder dem Untergang der „Vasa“. Die restliche schwedische Geschichte ist mir ein großes Mysterium, gleich nach der Frage, warum mich Thronfolgerin Victoria eigentlich nie angerufen hat sowie der Existenz von Surströmming.

Zu Surströmming habe ich ja eine ganz eigene Theorie, die wie folgt lautet: Die Schweden essen das Zeug gar nicht! Sie behaupten nur, sie würden es essen, um gutgläubige Urlauber und unbedarfte, integrationswillige Einwanderer dazu zu bringen, es ihnen vermeintlich nachzutun, damit sie – also die Schweden – sich später, wenn sie wieder alleine sind, angesichts der Reaktionen der beiden genannten Gruppen, die vermutlich zwischen Michel-Courtemanche-Mimik und handfestem Brechdurchfall sämtliche vorstellbaren Reaktionen abdecken dürften, stundenlang vor Lachen auszuschütten können. Möglichkeit B wäre, dass Surströmming das Ergebnis einer Wette zwischen stark angetrunkenen schwedischen Studenten ist, die mit der Frage „Ob man den Fisch hier wohl noch essen kann?“ angefangen hat.

Ich schweife ab …

Glücklicherweise schickt sich Peter Englund an, einen Teil dieser Wissenslücken zu schließen, denn „Mord in der Sonntagsstraße“ ist nicht nur die Schilderung eines Schlagzeilen machenden Kriminalfalls, sondern eben auch ein schwedisches Sittengemälde. Eines, das eine Zeit schildert, in denen sich die schwedische Bevölkerung von den Schrecken des Zweiten Weltkriegs entfernt wähnt. Einer Zeit, in der man sämtliche Ideologien für überwunden hält und ein grundpositives Bild der Zukunft malt.  Eine Zeit, die sich vom konservativen Gesellschaftsbild der Vergangenheit zunehmend verabschiedet, was beispielsweise daran zu merken ist, dass allenthalben neue Pornozeitschriften mit mehrheitlich ganz putzigen Namen aus dem Boden schießen. Aber eben auch einer Zeit, in der die Schweden realisieren müssen, dass viele der Hoffnungen, die man dort für die Zukunft hatte, sich nicht bewahrheiten.

Und auch wenn sich der Autor dem eigentlichen, tatsächlich so stattgefundenen Kriminalfall zuwendet, dann begnügt er sich nicht mit einer einfachen Schilderung der Ereignisse.

Wie erkläre ich das jetzt … ?

Nun, Englund wiederholt mehrfach den Satz „Fakten und Fiktion kommunizieren miteinander. “ und eben dieser Satz könnte als eine Art Motto für seine Herangehensweise gelten. Mehrfach führt der Autor beispielsweise Abgleiche durch zwischen der Realität einerseits und dem, was man in der einschlägigen, populären Kriminalliteratur so lesen kann andererseits. Beispielsweise wenn es um die Verwendung von Chloroform geht. Aus unzähligen, meist noch in schwarz-weiß gehaltenen Filmen, „wissen“ wir, dass sich jemand mit einem chloroformgetränkten Tuch ganz einfach ins Reich der Träume befördern lässt. Und daher nutzt der Mörder im vorliegenden Fall eben auch dieses „Wissen“, obwohl die Realität eher darin besteht, dass man sich im besten Fall mit dem Zeug selbst ausknocken kann und im schlimmsten Fall das Opfer innerhalb kürzester Zeit daran stirbt, so wie eben hier auch.

Dieser Ansatz, der Leserschaft klar zu machen, das in einem realen Mordfall tatsächlich nahezu nichts so ist, wie es in der modernen Mord-und-Totschlag-Literatur so dargestellt wird, hat seinen Reiz und er bietet vor allem eine Möglichkeit, die die fiktionale Literatur viel zu wenig nutzt: Dem Opfer eine Stimme geben. Englund tut das ausgiebig, beispielsweise indem er Briefe des Mordopfers Eva Marianne Granell, die man „Kickan“ nannte, veröffentlicht, indem er Personen aus ihrem Umfeld befragte usw. All das dient dem hehren Ziel, den Lesern klarzumachen, dass man es hier nicht einfach mit einer namenlosen, toten Person zu tun hat, an der man sein voyeuristisches „True-Crime“-Bedürfnis stillen kann, sondern mit einer ganz realen, jugen Frau, die viel zu früh sterben musste, nur weil ein frustrationsintoleranter „Incel“ von christlich-fundamentalreligiösen Erziehungsberechtigten versaut wurde und keine anderen Problembewältigungsstrategien gelernt hat.

In die genannten Vorgehensweisen fügen sich auch Stil und Aufbau nahtlos ein. Einerseits bedient sich Englund eines angemessen distanzierten Stils. Andererseits fügt er aber auch immer wieder Passagen aus den Notizen des Täters ein – hier ist man dann wieder beim Abgleich mit der Realtiät -, die für ein bemerkenswertes Unwohlsein sorgen können, auch weil sie nicht nur aus wirrem und irrem Geschreibsel bestehen, sondern tatsächlich den Eindruck machen, es hier mit einer im Grunde hochintelligenten Person zu tun zu haben.

In Summe ist „Mord in der Sonntagsstraße“ ein offensichtlich herovrragend recherchiertes Sachbuch, das sich liest wie ein Thriller, dafür aber segenswerterweise ohne die effektheischenden Elemente dieses Genres auskommt.

Sehr lesenswert.

Wertung:

8,5 von 10 Punkten

Demnächst in diesem Blog: „Dunkel“ von Ragnar Jónasson.

 

Freitagsfragen #107 am Montag

 

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

unlängst wurden im Brüllmausblog die aktuellen Freitagfragen gestellt, an deren Beantwortung ich mich jetzt begebe. Allerdings in – für mich völlig untypisch – recht verkürzter Form. Aus Gründen. Man könnte auch sagen: Weil halt.

Die Fragen und Antworten lauten:

1.) Teile Dein Wissen! Welchen Ratschlag, Einsicht oder Idee kannst Du mit uns teilen?

Ich denke nicht, dass die Welt auf einen Ratschlag meinerseits wartet, allerdings könnte ich mit einer Einsicht aufwarten, die – frei nach Loriot und aus gegebenem Anlass – lauten würde: Das literarische Leben ohne Carlos Ruiz Zafón ist möglich, aber sinnlos.

2.) Was war das Blödeste, das Du je gemacht hast?

Ich habe im Laufe meines Lebens schon unfassbar viele blöde Dinge unterschiedlichen Dummheitsgrades gemacht. Und ich denke, das trifft auch auf die meisten Menschen zu. Allerdings ist keins dieser Dinge dazu angetan, hier in aller Öffentlichkeit verbreitet zu werden, weswegen ich davon auch Abstand nehme.

3.) Hast Du eine Idee für eine App oder ein Programm, das nützlich oder cool sein könnte? Falls nein: Welche App oder welches Programm nutzt Du gerne?

Ich kann für mich in Anspruch nehmen, die Idee für eine hintergundbeleuchtete Tastatur gehabt zu haben, bevor es sie zu kaufen gab. Aber bei Apps oder Programmen bin ich raus, auch weil ich einer dieser unfassbar anachronistischen Typen bin, die ihr Handy nur offline nutzen und auch auf Dinge wie WhatsApp verzichten, weil sie nicht dauernd mit Katzenvideos, Sinnsprüchen und Banalitäten genervt werden wollen.

4.) Die Wahl der Qual: Wärst Du lieber ein begnadeter Virtuose an einem Musikinstrument Deiner Wahl, aber nur wenn Du nackt spielst, oder fließend in allen Sprachen, aber nur wenn Du dabei die Augen schließt und tanzt?

Wichtig ist hierbei die Formulierung „Musikinstrument Deiner Wahl“. Ich würde mich für ein Instrument entscheiden, das von seiner schieren Größe her geeignet ist, sich ein bisschen dahinter zu verstecken, sodass das mit der Nacktheit gar nicht mehr so auffällt. Insofern brächte es mir nichts, ein Virtuose auf der Maultrommmel zu sein, das würde ich dankend ablehnen. Ein Alphorn dagegen könnte man … nein, dummes Beispiel, das sähe irgendwie seltsam aus. Nein, es müsste schon ein Cello, ein Kontrabass oder etwas ähnliches sein. Ein Flügel! Ja, natürlich, so ein schöner Bechstein-, Schimmel- oder Steinway-Flügel, das wäre es. (Aus der Rubrik „Träges Wissen“: Im Jahr 2015 kostete der teuerster Flügel der Welt von Bechstein übrigens eine knappe Million Euro.)

Das wäre auch im Vergleich zu den Fremdsprachenkenntnissen die wesentlich bessere Wahl, denn sind wir mal ehrlich: Jemandem, der nur Fremdsprachen beherrscht, wenn er dabei tanzt, hört doch ohnehin niemand zu …

 

Das war es dann auch schon wieder. Ich wünsche allseits einen guten Start in die Woche.

Gehabt euch wohl.

Bleibt gesund.

„Cyril Avery“ von John Boyne

Buch: „Cyril Avery“

Autor: John Boyne

Verlag: Piper

Ausgabe: Taschenbuch, 736 Seiten

Der Autor: John Boyne, geboren 1971 in Dublin, ist einer der renommiertesten zeitgenössischen Autoren Irlands. Seine Bücher wurden in mehr als vierzig Sprachen übersetzt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Der internationale Durchbruch gelang ihm mit seinem Roman „Der Junge im gestreiften Pyjama“, der in vielen Ländern auf den Bestsellerlisten stand und von der Kritik als „ein kleines Wunder“ (The Guardian) gefeiert wurde. (Quelle: Piper)

Das Buch: Schon vor seiner Geburt steht Cyril Averys Leben unter einem ungünstigen Stern. Als uneheliches Kind hat er keinen Platz in der konservativen irischen Gesellschaft der 1940er Jahre. Ein exzentrisches Dubliner Ehepaar nimmt ihn schließlich bei sich auf, doch auch dort fühlt er sich nicht zu Hause. Bis eines Tages ein Junge im Hausflur steht – und mit ihm ein Abenteuer beginnt, das Cyril genau das finden lässt, wonach er immer gesucht hat: seinen Platz in dieser verrückten Welt. (Quelle: Klappentext)

Fazit: Hach, was für ein Buch! Nun gut, wenn ich solche Aussagen tätige, dann sind die immer dann mit Vorsicht zu genießen, wenn es um Romane von John Boyne geht, denn ich bin bekennender John-Boyne-Fan, aber hey: Was für ein Buch! :-)

Aufgrund einer kürzlich eingeschobenen Urlaubswoche habe ich für die gut 730 Seiten lediglich zwei Tage gebraucht und hätte gerne noch zwei weitere Tage 730 zusätzliche Seiten davon gelesen.

Allerdings muss ich gestehen, dass auch ich zwei Anläufe für das Buch gebraucht habe. Boyne beschreibt in seinem Buch anhand seiner titelgebenden Hauptfigur das Aufwachsen und Leben eines homosexuellen Mannes in Irland und zeichnet an diesem Beispiel gleichzeitig ein Sittengemälde in diesem erzkatholischen Umfeld, in dem die Macht des Klerus deutlich stärker zutage tritt, als beispielsweise hierzulande.

Und ich habe mich beim ersten Lektüre-Versuch gefragt: „Trägt diese monothematische Ausrichtung die Handlung über die gesamte nicht unerhebliche Länge des Romans, insbesondere für jemanden, der sozusagen „nicht im Thema“ ist?“, diese Frage dann für mich verneint und den Leseversuch für lange Zeit unterbrochen. Aber ich hatte ja keine Ahnung, ich hätte nur unwesentlich weiter lesen müssen, um zu erkennen, dass dieses alles beherrschende Thema den Roman doch trägt und er ein ganz besonderes Leseerlebnis bietet.

Um zu begründen, warum das so ist, kann man eine Fülle von Gründen anführen, beispielsweise die Figuren. So etwa die Handvoll irischer Berühmtheiten, die man vielleicht außerhalb Irlands nicht unbedingt kennt, die aber trotzdem alle einen sinnvollen bis denkwürdigen Auftritt haben, hier sein nur mal derSchriftsteller Brendan Behan genannt, nach dessen alkoholbedingten Ableben im Alter von nur 41 Jahren die „Daily Express“ schrieb, er sei „zu jung, um zu sterben, aber zu betrunken, um zu leben.“.

Das gilt aber natürlich auch und in erster Linie für die Figuren, die eine wichtigere Funktion haben, ganz vorne – neben einer Bekannten namens Mary-Margaret Muffet, die eindeutige Züge von Amy Farrah Fowler aus „The Big Bang Theory“ trägt – stehen da Cyrils Adoptiveltern. Eigentlich interessieren sich die beiden nämlich nicht im Geringsten für ihren Adoptivsohn oder für das, was er so tut und erwecken den Eindruck, ein Kind nur deshalb adoptiert zu haben, weil es für den Moment eine gute Idee schien. In erster Linie sind beide dann aber nicht mit Cyril beschäftigt sondern, im Falle das Adoptivvaters, eher damit Geld zu verdienen, aus diesen Verdiensten die notwendigen Steuern zu hinterziehen und deswegen gelegentlich im Knast zu landen, während seine Adoptivmutter den ganzen Tag in einem zugequalmten Arbeitszimmer sitzt, um Bücher zu schreiben. Allerdings nicht, um diese dann auch zu verkaufen, denn literarischen Erfolg findet sie eindeutig vulgär.

Um sich ein kurzes Bild dieser beiden schrägen Menschen zu machen, genügt vielleicht der Verweis auf ihre jeweiligen Antworten auf Cyrils Frage, wie die beiden sich kennengelernt hätten. Sein Adoptivvater Charles antwortet darauf mit einem dreiseitigen Monolog, der im Wesentlichen daraus besteht, darauf zu beharren, seine erste Frau nicht umgebracht zu haben, die Monogamie als Prinzip insgesamt infrage zu stellen und über die Oralverkehrfähigkeiten von Cyrils Adoptivmutter Maude zu sinnieren ( „Bevor dich deine Adoptivmutter nicht mit dem Mund befriedigt hat, Cyril, weißt du nicht, was ein richtiger Blowjob ist.“ S. 101), während Maude schlicht antwortet mit: „Ich kann mich wirklich nicht erinnern. Vielleicht war es ein Mittwoch, wenn Dir das hilft. Oder auch ein Donnerstag.“ (Seite 101)

Es sind aber nicht nur die Charaktere, die diesen Roman tragen. Auch stilistisch ist „Cyril Avery“ überaus gelungen. Boyne beherrscht das Kunststück, eine Geschichte zu erzählen, die man mit Fug und Recht als tragikomisch bezeichnen kann, allerdings ohne, dass das Buch an auch nur einer Stelle in die eine oder andere Richtung kippt. So wechseln sich beständig Szenen, in denen er mit massiver Homophobie der verbalen, aber auch mal der physischen Art konfrontiert wird, und die ihn letztlich selbst glauben lassen, er sei nicht „normal“, mit beispielsweise solchen Szenen ab, in der Cyril zum wiederholten Male seinen Adoptivvater im Gefängnis besucht und dort auf eine ältere Dame trifft. Diese will ihren Sohn besuchen, der angeblich seine Frau umgebracht haben soll, was die ältere Dame jedoch vehement bestreitet und sagt: „Aber es gibt keine wirklichen Beweise, nur Fingerabdrücke, DNA und einen Augenzeugen.“ (S. 552) Ich habe so gelacht! :-)

Die eigentliche Handlung präsentiert Boyne vor dem Hintergrund, dass der Volksmund sagt, dass sich der Mensche alle sieben Jahren ändert: In eben diesen Zeitintervallen verfolgt er die Lebensgeschichte seines Protagonisten von den 40er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts bis in die heutige Zeit. Ganz besonders gelungen finde ich dabei, dass sich verschiedene Charaktere der Geschichte, die sich (noch) nicht kennen, im Laufe der Geschichte bereits über den Weg gelaufen sind. Teils mehrfach.

Und diese Geschichte spielt auf einem sehr umfangreichen Teil der Emotionsklaviatur der Leserschaft. Mal ist de Roman witzig, mal tieftraurig, mal skurril und mal zynisch, mal hoffnungslos satirisch überzogen, mal ernsthaft gesellschaftskritisch.

Im Grunde könnte man sagen, „Cyril Avery“ bietet alles, was einen hervorragenden Schmöker ausmacht, mit dem man einfach mal eine Weile alles um sich herum vergessen kann, wenn nur das Wort „Schmöker“ nicht negativ besetzt wäre.

Hach, was für ein Buch!

Wertung:

Handlung: 9,5 von 10 Punkten

Charaktere: 10 von 10 Punkten

Stil: 9,5 von 10 Punkten

Atmosphäre: 10 von 10 Punkten

Gesamtwertung: 9,75 von 10 Punkten

Demnächst in diesem Blog: „Mord in der Sonntagsstraße“ von Peter Englund.

 

„Der Beginn“ von Carl Frode Tiller

Buch: „Der Beginn“

Autor: Carl Frode Tiller

Verlag: btb

Ausgabe: Hardcover, 352 Seiten

Der Autor: Carl Frode Tiller, geboren 1970, ist ein norwegischer Autor, Historiker, Musiker und Komponist. Er gilt als Meister der psychologischen Zwischentöne. Seine Romane sind vielfach preisgekrönt und in 16 Sprachen übersetzt. »Wer du heute bist« ist nach »Kennen Sie diesen Mann?« der zweite Teil der Trilogie um den gedächtnislosen David. (Quelle: Random House)

Das Buch: Terje liegt nach einem Suizidversuch im Sterben. Er lässt sein verpfuschtes Leben Revue passieren. Auf der Suche nach Antworten gräbt er sich immer tiefer in die schmerzhafte Vergangenheit, soghaft getrieben von den blinden Flecken des eigenen Lebens: der depressiven, alkoholkranken Mutter, dem abwesenden Vater, dem Abrutschen in Ticks und Gewalt als junger Mann, und dem quälenden Gefühl des Verlassenseins, das ihn immer bestimmt hat. Momente des Friedens fand er nur in der Natur. Ruhelos stellt Terje sich im Krankenhaus seinem Leben vom Ende bis zum Anfang, vom Tod bis zur Kindheit. Ein bewegendes Buch, erzählt wie im Rausch – über endgültige Entscheidungen, Vorherbestimmung und die Freiheit des Einzelnen. (Quelle: Random House)

Fazit: „Das Leben kann nur rückwärts verstanden werden, gelebt werden muss es vorwärts.“, sagte der dänische Philosoph Søren Aabye Kierkegaard und der Volksmund sagt, dass, wenn man stirbt, nochmal das ganze Leben an einem vorbei zieht.

Und an beides hält sich Carl Frode Tiller bei der formalen Gestaltung seines Romans „Der Beginn“. Dieser fängt nämlich tatsächlich am eigentlichen Ende der Ereignisse an, als Tillers Protagonist Terje nach einem Suizidversuch im Krankenhaus liegt, denn scheinbar unvermittelt hat er beschlossen, seinen Pkw um den nächstbesten entgegenkommenden Lkw zu wickeln.

Und es ist durchaus anzunehmen, dass er das nicht überleben wird, denn ähnlich wie der redensartliche Film, der an einem vorbeiziehen soll, wenn man stirbt, driftet er gedanklich in die Zeit kurz vor dem Zusammenstoß ab und von dort Kapitel für Kapitel immer weiter zurück in die Vergangenheit, bis hin zurück in die Kindheit des Protagonisten. Stück für Stück entschlüsselt Tiller die Motive seines Protagonisten und zeigt auf, wie es letztlich zu Terjes Suizidversuch kommen konnte, dessen Auslöser, so seltsam das für Nicht-Leser des Romans klingen mag, zumindest aus meiner Sicht das Verschwinden des Südskandinavischen Felsenblümchens sein dürfte.

Die Erzählweise vom Ende her ist nicht neu, aber wohl selten so sinnvoll wie hier, auch wenn sie ihre so ihre Fallstricke birgt, dazu später mehr. Stück für Stück wird Tillers Protagonist sozusagen dekonstruiert, um aufzuzeigen, wie aus einem Kind,  das seine eigenen Sätze leise wiederholt hat, ein engangierter Umweltschützer, schließlich ein Familienvater und letztlich ein Selbstmörder werden konnte.

Der Autor entscheidet sich sinnigerweise für einen personalen Erzähler, der die Ereignisse aus Sicht der Hauptfigur schildert. Das alles passiert aber in einem meiner Meinung nach irritierend unpersönlich Ton und erzeugt in Verbindung mit den praktisch ausnahmslos unsympathisch wirkenden Personen eine Stimmung, die ich bestenfalls als unangenehm bezeichnen kann. Ja, phasenweise, insbesondere zu Beginn, war die Lektüre des Buches tatsächlich unangenehm. Das mag allerdings vor dem Hintergrund des jetzt auch nicht gerade umwerfend komischen Themas des Romans beabsichtigt gewesen sein, und in dem Fall müsste man Tiller ein Talent für die Erzeugung von Stimmungen attestieren.

Mag formal, stilistisch und inhaltlich auch viel stimmen, so hat Tillers Roman aus meiner Sicht ein elemantares Problem. Eines das dann leider auch Auswirkungen auf alle anderen Bereiche des Romans hat. Und das ist die Hauptfigur. Spätestens hier kommen dann auch die Schwierigkeiten der chronologischen Anordnung der Kapitel zum Tragen.

Denn Terje ist, man möge mir die Wortwahl nachsehen, ein ätzendes, überhebliches, sarkastisches, bewusst verletzendes Arschloch! Und ja, das war er natürlich nicht immer, und es ist ja gerade Ziel der Autors, aufzuzeigen wie es dazu kommen konnte. Nur: Dass er nicht immer so war und wie es letztlich dazu kam, ist mir nach nur wenigen Dutzend Seiten – man verzeihe mir nochmals die Wortwahl – scheißegal. Und zwar so scheißegal, dass ich mir als Leser in dem Moment, in dem Terje beschließt, sich um den Lkw zu wickeln – und da befinden wir uns tatsächlich erst auf Seite 23 – dachte: „Ja, dann mach doch!“

Das intensive Problem, das ich mit Terje habe, basiert darauf, dass ich zwar einerseits logischerweise verstehe, dass es immer Gründe gibt, warum Menschen so geworden sind, wie sie eben sind. Andererseits bin ich aber eben der Ansicht, dass es nichts gibt, was man erlebt hat, was einen dazu berechtigt, für sich in Anspruch zu nehmen, sich wie ein Arsch verhalten zu dürfen. Man kann meinetwegen gerne Zyniker sein. Man kann gerne auf Distanz zu Menschen gehen, die es nicht immer gut mit einem meinten. Man kann auch meinetwegen gerne sarkastisch sein, ich selbst bin der Meinung, dass man ohne eine großzügige Protion Sarkasmus deutlich schwerer durchs Leben kommt. Man kann von mir aus auch gerne ein der Welt und den Menschen gegenüber misstrauisch gewordener Mensch sein. Aber nichts berechtigt einen Menschen dazu, sich aufzuführen wie der letzte Penner! Terje ist eine Person, die die Menschen in seinem Umfeld, vorzugsweise aus seiner Familie, gerne bewusst und umfassend verletzt. Ein Mensch, der dann auch noch Spaß daran hat. Ein Mensch, der Fremdscham verursacht und der mir dann, als Tiller die Gründe für seine Entwicklung aufzeigt – die übrigens völlig logisch daherkommt, auch wenn man sich vieles bereits denken kann, weil auch Tiller das Rad der Psychologie nicht neu erfinden kann -, bereits von Herzen egal ist.

Und die Hauptfigur hat eben auch ihre Auswirkungen auf andere Bereiche des Romans. Durch seine ganze Art, seinen Umgang mit anderen, für den man sich nur fremdschämen kann, trägt er intensiv dazu bei, die ohnehin schon triste Stimmung des Romans zu verstärken bis hin dazu, dass ich während der Lektüre phasenweise tatsächlich eine Art körperliches Unwohlsein verspürt habe. Im Grunde wollte ich nur weg. Das erklärt vielleicht auch, dass ich für das Buch so unfassbar lange gebraucht habe, denn es trudelte bereits vor einer halben Ewigkeit bei mir ein.

All das mag seitens des Autors so beabsichtigt gewesen sein und sollte dem so sein, ist Carld Frode Tiller ein recht großer Wurf gelungen. Für mich bleibt „Der Beginn“ jedoch ein zwar handwerklich sehr gut gemachter, inhaltlich aber einfach viel zu trister Roman, den man vielleicht nur dann lesen sollte, wenn man mit wirklich ätzenden Hauptfiguren klarkommt sich allgemein vielleicht auch gerade nicht in allzu schlechter Stimmung befindet. Die kommt dann schon von ganz alleine …

Wertung:

Handlung: 8,5 von 10 Punkten

Charaktere: 4,5 von 10 Punkten

Stil: 8 von 10 Punkten

Stimmung: 6,5 von 10 Punkten

Gesamtwertung: 6,875 von 10 Punkten

Demnächst in diesem Blog: „Cyril Avery“ von John Boyne.

Freitagsfragen #106 – Am Freitag!

 

Hallo, liebe Leserinnen und Leser,

erneut wird im Brüllmausblog zur Beantwortung der Freitagsfragen aufgerufen. Und erneut leiste ich diesem Aufruf gerne Folge. Die Fragen und Antworten lauten:

1.) Könntest Du eine fiktive Kreatur als Begleiter haben, welches würdest Du wählen?

Der Einfachheit halber würde ich mich da für Lübke, den Assistenten von S. Atan, seines Zeichens Eigentümer und Geschäftführer der „Fate LLP“ mit Sitz in der Hölle entscheiden. Einerseits kenne ich ihn ganz gut, andererseits scheint er ein netter Kerl zu sein. Neulich erst …

… wir befinden uns in der Hölle, dem Stammsitz der „Fate LLP“ mit Sitz in der Hölle, deren Eigentümer und Geschäftsführer S. Atan nach seinem Assistenten ruft.

„LÜBKE!“

„Hier, mein Herr und Gebieter! Was kann ich für Sie tun?“

„Lübke, mir ist so fad!“

„Na, dann sollten wir vielleicht den Feldmarschall zum Freischuss abgeben, äh, zum Abschuss freigeben!?“

„Bitte was?“

„Ach, nicht weiter wichtig. Ihnen ist also langweilig, ja!?“

„In der Tat! Bringen Sie mir die Akte von diesem Reisswolfblog-Spinner und lesen Sie mir vor, was der so schreibt.“

„Worüber?“

„Na, über alles, der schreibt doch manchmal über Gott und die W…, ähm, ich meine, über alles mögliche halt. Politik und so. Es passiert doch derzeit wirklich genug. Ich würde gerne mal lesen, was er dazu so geschrieben hat.“

„Nichts, Chef!“

„Nichts?“

„Nichts!“

„Moment, nichts über die Situation in den USA, nichts über die angebliche Entlastung von Frau von der Leyen, nichts über den Eiertanz um den Parteiausschluss von Kalbitz aus der AfD, nichts über das Konjunkturpak…“

„Nichts, Chef!“

„Ja, was macht er denn dann?“

„Der schreibt derzeit nur so langweilige Buchrezensionen.“

„Och nä, dieser pseudo-kulturelle Mist, nee, geh mir wech damit.“

„Tja, es ist nun mal, wie es ist.“

„Er schreibt gar nichts anderes mehr?“

„Nun, doch … heute gerade schreibt er augenscheinlich über, ähm, über mich!?“

„Über Sie?“

„Jawohl, Chef!“

„Och, näää, dann bekommt das Ganze wieder so ´ne nervtötende Meta-Ebene. Außerdem: Ich wüsste jetzt gar nicht, was er über Sie so schreiben könnte.“

„Na, witzigerweise weiß er das auch nicht so genau …“

„Heißt das, das wird dann wieder so eine Geschichte gänzlich ohne Pointe?“

„Scheint so, Chef!“

„Na, dann bin ich ja mal gespannt, wie er sich da mal wieder rausschreibt. Ähm, Lübke!?“

„Ja, bitte!?“

„Hören Sie das auch?“

„Was denn, Chef!“

„Na, dieses … Piepen!?“

„Oh, das … ich schätze, das ist der Feuermelder.“

„Der Feuerm… – wir haben einen Feuermelder an der Decke? Wir sind in der verfluchten Hölle, verdammt. Was ergibt das Ding hier drin für einen Sinn?“

„Bauliche Vorschriften, Chef.“

„Na, dann … sollten wir wohl mal das Gebäude verlassen!?“

„Ich schätze schon, Chef!“

„Na, da hat der Reisswolfblog-Spinner ja nochmal Glück gehabt, sonst hätte er sich jetzt doch tatsächlich noch etwas Sinnvolles einfallen lassen müssen. Okay, Lübke, weg hier!“

 

2.) Welchen Film sollte man mal gesehen haben?

Ich bin kein umfassend informierter Cineast, deswegen sind sämtliche Filme, die mir hier einfallen würden, schon etwas älteren Datums. Und davon sind wiederum viele so altbekannt, dass man sie nicht nochmals thematisieren müsste. „Good Will Hunting“, „Club der toten Dichter“, „Before Sunrise“ wären solche Kandidaten. Und natürlich „Robin Hood – Helden in Strumpfhosen“, allein für: „Schlagy hat wieder zugeloxt! äh….Loxley hat wieder zugeschlagen!“ oder für „Ich kann wieder sehen! … Doch nicht! Hm, hab mich geirrt.“ und ähnlichen Unfug.

Einer der Filme, die vielleicht nicht (mehr) alle auf dem Schirm haben, den man meines Erachtens aber zwingend gesehen haben sollte, ist „Amistad“. Dass der seinerzeit ohne jegliche Oscar-Prämierung blieb, ist mir völlig unerklärlich.

Dass ich irgendwann nochmal ein umfassend informierter Cineast werde, schließe ich indes allein schon deshalb aus, weil das Kino sich mittlerweile darauf beschränkt, die achtundreißigte Version von „Fast & Furios“ mit zunehmend dämlichen Titeln, eine Version der „Ghostbusters“ in weiblich, 382 Marvel-Filme pro Woche sowie regelmäßige Star-Wars-Fortsetzungen stetig abfallender Qualität zu produzieren. Oder Fortsetzungen von Pocahontas in blau, sprich „Avatar“.  Aber jetzt mal ehrlich, die zehn erfolgreichsten Filme weltweit 2019 waren:

1. Avengers: Endgame
2. Der König der Löwen
3. Die Eiskönigin II
4. Spider-Man: Far From Home
5. Captain Marvel
6. Joker
7. Star Wars: Der Aufstieg Skywalkers
8. Toy Story 4
9. Aladdin
10. Jumanji: The Next Level

Da bin ich ja so was von umfassend raus. Gesehen habe ich davon zwei. Einer davon war gut, wegen Joaquin Phoenix, und einer war schlecht aus einer Fülle von Gründen, die aufzuzählen die Kapazität des Internets an seine Grenzen bringen würde. Insgesamt zeigt sich jedenfalls: Wenn man nicht auf Marvel steht oder älter als 12 ist, sieht es düster aus.

Und wenn doch mal ein Film dabei ist, der mein Interesse weckt, „1917“ wäre so einer gewesen, dann verpasse ich ihn auch …

*seufz*

3.) Gibt es ein Zitat, ein kurzes Gedicht, eine Strophe, Vers oder ähnliches, das Dich begleitet, nach dem Du lebst oder das Dich inspiriert?

Ich fand früher ja „Schützt die Bäume, esst mehr Biber!“ ganz witzig, fürchte aber, dass man den heute nicht mehr bringen kann …

Nein, also ich fürchte, dass ich hier nicht mit einer sinnvollen Antwort dienen kann. Ich finde beispielsweise Kalendersprüche genauso schrecklich, wie beispielsweise die Ausrichtung auf ein bestimmtes sogenanntes Lebensmotto. Wenn man mir ein Lebensmotto gewordenes Zitat wie das allgegenwärtige „Carpe diem“, das Churchill zugeschriebene „Die Kunst ist, einmal mehr aufzustehen, als man umgeworfen wird.“ oder das Mark Twain zugeschriebene “Gib jedem Tag die Chance, der schönste deines Lebens zu werden.“ um die Ohren haut, dann lebt man potenziell gefährlich, auch und gerade weil dieser vermeintlich motivierende Mist dann meistens von Leuten kommt, die a) den Tag in erster Linie selbst für nichts nutzen, b) niemals in ihrem Leben wirklich richtig auf die Schnaue gefallen sind oder c) selber durchs Leben laufen, als hätte man ihnen gerade eröffnet, dass heute ihr letzter Tag auf Erden ist.

Abseits dieses Motivationsgedöns bringe ich allerdings immer wieder gerne Zitate an. So habe ich beispielsweise gerade gestern erst den großen zeitgenössischen Philosophen „Alf“ zitiert. ;-)

Was Gedichte und/oder Verse angeht, bin ich ähnlich raus, weil Lyrik nicht meine bevorzugte Textform ist. Dabei gibt es da viel Schönes. So mag ich Rilkes „Herbsttag“ ebenso gerne wie Georg Heyms „Der Gott der Stadt“. Aber als „inspirierend“ kann ich nichts davon bezeichnen.

Mich inspirieren in erster Linie Menschen. Schade, dass man derzeit so wenige von ihnen sieht …

4.) Die Wahl der Qual: Hättest Du lieber, dass alle elektrischen Geräte plötzlich aufhören zu funktionieren (potentiell für immer) oder dass sämtliche Länder regiert werden von pubertierenden Teenagern?

Der Totalausfall aller elektrischen Geräte würde ja nicht nur Unterhaltungselektronik und ähnlichen vielleicht verzichtbaren Schnickschnack betreffen, sondern beispielsweise auch viele medizinische Geräte und die Medizin somit um gefühlte Jahrhunderte zurückwerfen. Das Risiko wäre es mir nicht wert.

Dann würde ich lieber das Risiko eingehen, die Welt von pubertierenden Teenagern regieren zu lassen. Ich glaube sogar, das hätte einen positiven Effekt auf die Welt und die Menschheit ganz allgemein. Mag der pubertierende Teenager als solcher vielleicht manchmal impulsiv sein, so würde er wohl kaum die Nationalgarde gegen Demonstranten aufmarschieren lassen, aus wirtschaftlichen Gründen den Amazonas abfackeln, ein Gesetz erlassen, dass die positiv konnotierte Erwähnung von Homosexualität unter Strafe stellt oder mehrere tausend Menschen pro Jahr hinrichten lassen, um mal Beispiele aus den USA, Brasilien, Russland und China anzubringen.

Nein, so was ist dann meistens das Ergebnis einer Art multilateralen Schwanzvergleichs zwischen Männern im mittleren bis gehobenen Alter in politischen Positionen. Und es hätte noch eine Menge weitere Beispiele gegeben.

Schlimmer könnten das auch die pubertierenden Teenager nicht, die die Sache wenigstens mit einer gehörigen Portion Idealismus angehen würden, der in der Politik der letzten Jahrzehnte irgendwann mal verschüttgegangen ist und durch Klientelpolitik ersetzt wurde.

Das weiß auch Herr Habeck von den Grünen, weswegen seine kürzliche Forderung, das Wahlalter auf 16 herabzusenken, sicherlich nicht als altruistisches Geschenk an die junge Generation zu werten ist, sondern rein aus dem Kalkül entspringt, dass die potenzielle Grünen-Wählerschaft in diesem Alterssegment vergleichsweise hoch ist.

Kurz: Lieber Teenager als machtgetriebene, überhebliche Ärsche.

 

Das war es dann auch schon wieder!

Ich wünsche allseits einen guten Start in ein hoffentlich schönes Wochenende.

Gehabt euch wohl.

 

„Im Westen nichts Neues“ von Erich Maria Remarque

Buch: „Im Westen nichts Neues“

Autor: Erich Maria Remarque

Verlag: Kiepenheuer & Witsch

Ausgabe: Taschenbuch, 325 Seiten

Der Autor: Erich Maria Remarque, 1898 in Osnabrück geboren, besuchte das katholische Lehrerseminar. 1916 als Soldat eingezogen, wurde er nach dem Krieg zunächst Aushilfslehrer, später Gelegenheitsarbeiter, schließlich Redakteur in Hannover und Berlin. 1932 verließ Remarque Deutschland und lebte zunächst im Tessin/Schweiz. Seine Bücher »Im Westen nichts Neues« und »Der Weg zurück« wurden 1933 von den Nazis verbrannt, er selber wurde 1938 ausgebürgert. Ab 1939 lebte Remarque in den USA und erlangte 1947 die amerikanische Staatsbürgerschaft. 1970 starb er in seiner Wahlheimat Tessin. (Quelle: Kiepenheuer & Witsch)

Das Buch: Die Geschichte des neunzehnjährigen Paul Bäumer, der als ahnungsloser Kriegsfreiwilliger von der Schulbank an die Front kommt, ist inzwischen Allgemeingut – und doch bei jeder Lektüre aufs Neue erschütternd: Wie Bäumer statt der erhofften Kriegsbegeisterung und eines kurzen Abenteuers die ganze Brutalität des Gemetzels und das sinnlose Sterben seiner Kameraden erlebt, ist anrührend und empörend. (Quelle: Klappentext)

Fazit: Mit Klassikern verbindet mich eine lange, schwierige Geschichte voller Missverständnisse. Zumeist führen Klassiker und ich eine Art friedlicher Koexistenz. Das hat im Wesentlichen zwei Gründe. Zum Einen den, dass ich mir ziemlich sicher bin, den Werken mit dem was ich schreibe nur selten gerecht werden zu können. Zum Anderen aber auch den, dass über diese Bücher eigentlich schon alles gesagt ist, nur noch nicht von jedem.

So kam es denn auch, dass ich mir seinerzeit anlässlich des 100. Jahrestags des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs erschienene Ausgabe frohen Mutes gekauft, dann aber nie gelesen habe. Bis jetzt jedenfalls. Und es hat sich durchaus gelohnt, denn „anrührend und empörend“ trifft die Wirkung dieses Werkes schon ganz gut.

Nach einer kurzen Einführung der wichtigsten Figuren wendet sich der Autor gleich der in der deutschen Heimat augenscheinlich vorherrschenden Kriegsbegeisterung  zu, namentlich in Form von Bäumers Lehrer Kantorek, der die komplette Klasse die er unterrichtet davon überzeugen kann, sich spontan freiwillig zu melden. Und dieser Glaube an eine vermeintlich allgemein vorherrschende Kriegsbegeisterung hat sich lange gehalten, wird aber mittlerweile immer mehr in Zweifel gezogen. Und auch Remarque könnte man, angesichts der Tatsache, dass er die Begeisterung lediglich durch eine Figur beschreibt, so eine Art anekdotischer Evidenz vorwerfen. Tatsächlich allerdings stellt er die Tatsachen offensichtlich vollkommen richtig dar. Denn begeistert war damals in erster Linie das Bildungsbürgertum – hier durch Kantorek repräsentiert -, während beispielsweise die SPD Anti-Kriegs-Demonstrationen mit über 100.000 Teilnehmern organisierte. Folgerichtig schreibt Remarque dann auch „Am vernünftigsten waren eigentlich die armen und einfachen Leute; sie hielten den Krieg gleich für ein Unglück, während die bessergestellten vor Freude nicht aus noch ein wußten, obschon sie sich über die Folgen viel eher hätten klar werden können.“ (S. 16).

Dieses Thema taucht später dann während Bäumers Heimaturlaub nochmals auf. Wildfremde Menschen geben ihm für seinen Dienst am Vaterland ein Bier aus und diskutieren voller Inbrunst darüber, welche Gebiete Deutschland annektieren sollte und fordern: „Nun macht mal ein wenig vorwärts da draußen mit eurem ewigen Stellungskrieg. Schmeißt die Kerle raus, dann gibt es auch Frieden.“ (S. 150) Und das alles ohne jegliche Kenntnis der tatsächlichen Gegebenheiten an der Front, woher sollten sie diese auch haben!? Bäumer fühlt sich unverstanden, sehnt sich schließlich schon fast nach seinen Kameraden und kehrt letztlich desillusioniert an die Front zurück.

Den Löwenanteil des Buches machen die Schilderung vom grausame Alltäglichkeit gewordenen Leben und Sterben an der Front aus. Tage, an denen die Soldaten tagelang nichts tun außer Karten spielen, wechseln sich ab mit sinnlosen Angriffen und Gegenangriffen mit zahlreichen Todesopfern, woraufhin beide Seiten zumeist doch wieder nur dort landen, wo sie vorher waren. Und die Schilderung dieser Angriffe kann man gut und gerne als schonungslos bezeichnen, für Zartbesaitete ist das eher nichts.

Was Remarques Figurenensemble angeht, so lohnt sich hier insbesondere natürlich ein Blick auf den Protagonisten, der auch als Erzähler fungiert. Und Remarque gibt nicht nur Einblicke in das, was mit und um seinen Protagonisten herum passiert, sondern oftmals auch in das, was in ihm vorgeht. Zumeist ist das vergleichsweise monothematisch, die meisten Gedanken Bäumers sind auf den Krieg ausgelegt, darauf, was dieser Krieg mit ihm gemacht und was er ihm und seinen Altergenossen genommen hat. Und wie sollte ein so junger Mann, der Ewigkeiten in den Schützengräben der Westfront überleben muss, auch an andere Dinge denken, die nichts mit dem Krieg zu tun haben!?

Der Ton in Remarque Roman ist zumeist angemessen ernst, nur ganz selten mal blitzt so etwas wie Humor hervor. Beispielsweise in der Szene, in der einer von Bäumers Kameraden sinniert, zukünftig mögen doch bitte die Leute einen Krieg ausfechten, die ihn begonnen haben. Namentlich also Staats- und Regierungschefs sowie Generäle. In der Vorstellung dieses Soldaten würde dieses „Event“, so würde man das wohl heute nennen, in einer Art Arena stattfinden, man könnte Eintrittskarten dafür sowie vor Ort dann Speisen und Getränke erwerben und dann würden sich Regierende und Generäle der Kriegsparteien in der Arena so lange mit Knüppeln verdreschen, bis nur noch einer steht. Und der hat dann gewonnen. Ich finde, diese Idee hat ihren Charme, man sollte versuchen, sie in der Charta der Vereinten Nationen unterzubringen. Wobei – darin heißt es in den Ziffern 3 und 4 des Artikels 2 ohnehin schon:

3. Alle Mitglieder legen ihre internationalen Streitigkeiten durch friedliche Mittel so bei, daß der Weltfriede, die internationale Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden.

4. Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.

Hm – funktionert super …

In stilistischer Hinsicht mag Remarques Roman zuweilen etwas antiquiert klingen, aber insgesamt lässt er sich gut lesen und punktet, zumindest bei mir, damit, dass er in einer Sprache bzw. Rechtschreibung gehalten ist, die unreformiertreformiertreformiert, ungegendert und unanglizis … unanglim … die ohne unnötige Anglizismen auskommt, wiewohl man augenscheinlich schon zu Zeiten von Remarques Roman „ausgepowert“ sein könnte, was mich zugegebenermaßen etwas wundert.

Über dem Inhalt des Buches, seinem Stil und seinen Figuren steht im vorliegenden Fall natürlich die Botschaft, die Remarque mit seinem Roman verbreiten wollte. Diese sollte man nicht nur auf „Krieg ist beschissen!“ herunterbrechen, denn das versteht sich von selbst. Der Autor richtet seinen Fokus dagegen oft eher auf die Frage, was ein solcher Krieg mit einer ganzen Generation junger Menschen anstellt, die frisch von der Schulbank weg und ohne jegliche Ahnung vom Leben und ohne Vorstellung dessen, was sie erwartet, sich plötzlich an der Westfront wiederfindet. Und die dann später traumatisiert und ohne Perspektive zurückkehrt. Falls sie zurückkehrt.

Nach der Lektüre dachte ich spontan daran, dass Remarques Roman, zumindest in der Oberstufe, Schullektüre sein sollte. Mir würden da so ein, zwei wirklich unlesbare Bücher meiner Oberstufenzeit einfallen, die ich gerne gegen diesen Roman getauscht hätte. Aber offensichtlich ist der Roman vereinzelt bereits Schullektüre. Denn es gibt dazu doch tatsächlich Interpretationshilfen. Nu ja, wer´s braucht …

Zumindest in der Ausgabe von Kiepenheuer & Witsch befinden sich am Ende des Buches Anmerkungen sowie ein erläuternder Text zur erstmaligen Veröffentlichung des Romans. Und dieser war sehr interessant zu lesen – da bricht der halbstudierte Literaturwissenschaftler wieder aus mir heraus – und brachte erhellende Erkenntnisse. So fällt bei der Lektüre von „Im Westen nichts Neues“ durchaus auf, dass das Buch abseits seiner Botschaft vergleichsweise unpolitisch ist, also nicht versucht, die Schuld am Krieg Monarchisten, Demokraten oder irgendwelchen Parteien in die Schuhe zu schieben. In früheren Versionen des Romans war das wohl deutlich anders. Aber das würde jetzt wirklich zu weit führen.

An wem dieser Klassiker der Weltliteratur vorbeigegangen ist, dem kann ich ihn wärmstens empfehlen, auch wenn man dafür, wie bereits erwähnt, nicht zu zartbesaitet sein sollte.

Wertung:

9 von 10 Punkten

Demnächst in diesem Blog: „Der Beginn“ von Carl Frode Tiller.

„Kein Freund außer den Bergen“ von Behrouz Boochani

Buch: „Kein Freund außer den Bergen“

Autor: Behrouz Boochani

Verlag: btb

Ausgabe: Hardvover

Der Autor: Behrouz Boochani, geboren 1983, ist ein kurdisch-iranischer Journalist, Autor und Filmemacher. Bis zu seiner Flucht vor den iranischen Sicherheitsbehörden im Juni 2012 war er in Teheran Chefredakteur eines liberalen Magazins für Kunst und Kultur. Für seinen Satz für Satz auf einem Mobiltelefon geschriebenen, autobiografischen Roman erhielt er Anfang 2019 den wichtigsten australischen Literaturpreis. Trotz der teils massiven Einschränkungen erscheinen seine Texte regelmäßig in zahlreichen Zeitungen und Nachrichtenportalen, darunter The Guardian, Huffington Post, Financial Times und Sidney Morning Herald. Außerdem ist er Preisträger zahlreicher Menschenrechts-, Journalisten- und Aktivistenpreise, u.a. des Anna-Politkowskaja-Award for Journalism 2018. Im November 2019 kam er nach monatelangem Bemühen internationaler Unterstützer endlich frei. (Quelle: Klappentext)

Das Buch: Der kurdisch-iranische Journalist Behrouz Boochani wurde Anfang 2013 auf der berüchtigten Abschiebeinsel Manus Island in einem von Australien betriebenen Auffanglager als staatenloser Flüchtling interniert. Bald wurde er als Sprecher der unter unfassbaren Zuständen festgehaltenen »Boatpeople« erneut zur Zielscheibe von Repression und Erniedrigung. Die bewegende Geschichte seiner Flucht und seiner über sechs Jahre andauernden Inhaftierung hat er über Monate hinweg als Kurznachrichtengewitter an seinen Übersetzer geschrieben. Satz für Satz. Auf einem Handy. (Quelle: Random House)

Fazit: Wenn der in Sidney geborene Historiker Christopher Clark im ZDF oder dessen digitalen Ablegern zur Australien-Saga anstimmt, dann vermittelt er ein Bild von zwar gestählten und Kummer gewöhnten, nichtsdestotrotz aber auch sehr freundlichen Menschen. Und sicherlich stimmt das auch vollumfänglich. Das schließt aber eben nicht aus, dass die australische Regierung wiederum in der Vergangenheit nicht trotzdem die eine oder andere Entscheidung getroffen hat, die man bestenfalls als zweifelhaft bezeichnen konnte.

Dazu gehört einerseits die Abschottungspolitik hinsichtlich der Aufnahme von Bootsflüchtlingen und im Zusammenhang dazu eben auch die Eröffnung der Flüchtlings…, ach, sagen wir besser Internierungslager auf Nauru und Manus. Noch im September 2019, als die Auswirkungen dieser Politik und die Zustände in den Lagern allenthalben bekannt waren, war Alice Weidel der Meinung, dass man sich diese Abschottungspolitik zum Vorbild nehmen solle, und untermauerte ihre Argumentation mit unzutreffenden Behauptungen. Ich lasse das mal so stehen.

Die Logik, die hinter der Eröffnung der Flüchtlingslager steckt, ist so simpel wie perfide. Wer als Flüchtling australischen Boden betritt, hat damit automatisch das Recht auf eine Asylprüfung erworben. Daher drängt die australische Marine einerseits in großem Stil Flüchtlingsboote mit allen Menschen an Bord wieder auf das offene Meer ab, andererseits werden aber auch immer wieder Flüchtlinge an Bord genommen, die dann nach Nauru und Manus gebracht werden. Denn weder der Inselstaat Nauru noch die zu Papua-Neuguinea gehörende Insel Manus sind eben australisches Hoheitsgebiet, die Flüchtlinge haben somit keinerlei Ansprüche an Australien auf irgendwas und damit hat es sich für die Verantwortlichen dann weitgehend erledigt.

Behrouz Boochani legt nun einen Erfahrungsbericht aus erster Hand vor, für dessen Lektüre man, das gebe ich gerne zu, nicht zu zart besaitet sein sollte.

Er beginnt, chronologisch sinnvoll, mit der Überfahrt nach Australien. Und bereits hier wird deutlich, dass eben diese Überfahrt etwas ganz anderes ist, als der sogenannte „Shuttleservice“, von dem unser ehemaliger Verfassungsschutzpräsident in entweder nahezu rührender Ahnungslosigkeit oder aber grenzenloser Menschenverachtung seinerzeit salbaderte.

Bereits in diesem Teil fällt auf, dass Boochani seinen Text immer wieder durch Verse unterbricht. Oder sagen wir besser, er ergänzt ihn durch besagte Verse. Und die sind mehrheitlich sehr schön zu lesen, so wenig ich auch sonst von Lyik verstehe.

Nach den dramatischen Umständen der Überfahrt wendet sich der Autor dem Lager selbst zu.

Er beschreibt Abläufe, wie die Essensausgabe, bei der die Internierten gezwungen sind, stundenlang in sengender Sonne anzustehen und dabei Gefahr laufen, nichts mehr zu bekommen, wenn sie das Pech haben, am Ende der Schlange zu stehen. In Ermangelung eines strukturierten Tagesablaufs richten einige Flüchtlinge ihren Tagesablauf vollständig auf die Essensausgabe aus und versuchen, immer vorne in der Schlange zu stehen.

Er beschreibt den Umgang der Wärter mit den Internierten. Die Gruppe der Wärter setzt sich einerseits aus den Einheimischen zusammen, die eigentlich geregelten Tätigkeiten, zumeist in der Landwirtschaft und ähnlichem, nachgingen, dann aber von Australien „überzeugt“ wurden, doch lieber im Lager zu arbeiten. Und andererseits aus Australiern. Und während die Erstgenannten zumeist recht fair mit den Flüchtlingen umgehen, schauen die Letztgenannten sowohl auf die einheimischen Wärter und erst recht auf die Flüchtlinge herab und nehmen sich viele Freiheiten heraus, ihnen das Leben so beschwerlich wie nur möglich zu machen. Ich vermute, sie lassen hier ihren Frust heraus, der sich entwickelt, wenn sie so darüber nachdenken, wo in ihrem Berufsleben sie falsch abgebogen sein müssen, um jetzt auf einer kleinen Insel mitten in der Bismarcksee Flüchtlinge zu drangsalieren …

Er beschreibt anhand einzelner Schicksale der Männer im Lager die Willkür, der die augenscheinlich völlig rechtlosen Flüchtlinge ausgesetzt sind, die wochenlang auf den versprochenen juristischen Beistand warten. Als dieser Beistand dann kommt, kommt er in Form mehrerer wohlriechender und hübscher Anwältinnen in Businesskleidung, was vor dem Hintergrund, dass die Flüchtlinge  zu diesem Zeitpunkt alle bereits seit Wochen keine Frauen mehr zu Gesicht bekommen haben, sicherlich so gewollt ist. Anstatt aber wirklich juristischen Beistand zu leisten, haben diese Anwältinnen lediglich ein Schreiben im Gepäck, das die Internierten unterzeichnen sollen und mit dem sie auf jegliche Anprüche an die australische Regierung verzichten und sich zur Rückreise in ihre Heimatländer verpflichten würden.

Und er beschreibt die Gewalt, die im Lager herrscht. Die Gewalt untereinander, aber auch die Selbstverletzungen und die Selbstmordversuche. Manche davon erfolgreich. Bis zum Erscheinen des Buches sind in den Internierungslagern mindestens 16 Menschen ums Leben gekommen. Auch das wird Frau Weidel sicherlich wissen …

Geblieben ist ein wirklich eindringliches Zeitdokument, das beeindruckend beschreibt, wie man etwas nicht machen und wie man nicht mit Menschen umgehen sollte.

Und vielleicht trägt dieses Buch ja auch ein bisschen dazu bei, die Flüchtlingsthematik auch in Zeiten von Corona im Gedächtnis zu behalten. Flüchtlinge sind nämlich nicht plötzlich alle weg, nur weil man nicht mehr darüber berichtet. Um das zu erkennen, muss man auch gar nicht bis nach Australien sehen, das zugegebenermaßen weit weg ist.

Man könnte auch nach Jordanien, in den Libanon oder die Türkei blicken. Oder nach Griechenland, wo nach wie vor über 40.000 Menschen in überfüllten Flüchtlingslagern festsitzen. Ganze 47 davon hat die Bundesregierung im April nach Deutschland holen und sich dafür feiern lassen wie für die Entdeckungs des Penicillins. „Dies ist das Ergebnis monatelanger Vorbereitungen und intensiver Gespräche mit unseren europäischen Partnern.“ sagte Horst Seehofer seinerzeit.

Ernsthaft, die Aufnahme ganzer 47 Flüchtlinge von über 40.000 ist das Ergebnis „monatelanger Vorbereitungen“?

Na dann, das lasse ich auch lieber unkommentiert so stehen.

Wertung: 10 von 10 Punkten

Demnächst in diesem Blog: „Im Westen nichts Neues“ von Erich Maria Remarque.