Buch: „Die Erfindung des Countdowns“
Autor: Daniel Mellem
Verlag: dtv
Ausgabe: Hardcover, 286 Seiten
Der Autor: Daniel Mellem, geboren 1987, lebt in Hamburg. Sein Studium der Physik schloss er mit einer Promotion ab, bevor er sich am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig der Arbeit an seinem ersten Roman widmete. Für »Die Erfindung des Countdowns« wurde er bereits mit dem Retzhof-Preis für junge Literatur und dem Hamburger Literaturförderpreis ausgezeichnet. (Quelle: dtv)
Das Buch: Nach dem Ersten Weltkrieg bricht das Zeitalter der Utopien an. Während der junge Hermann Oberth den Menschheitstraum von einer Mondrakete verwirklichen will, steht seine lebenslustige Frau Tilla vor der Herausforderung, ein Familienleben möglich zu machen. Als Hermanns Forschung in den 1930er Jahren das Interesse der Nazis weckt, stellt sich beiden mit voller Wucht die Frage nach der eigenen Verantwortung vor der Geschichte. (Quelle: Klappentext)
Fazit: Wenn man bereits seit einer ganzen Weile über Bücher schreibt, stellt sich früher oder später immer öfter – zumindest in meiner Wahrnehmung – der Effekt ein, dass man nicht genau weiß, was man denn nun über dieses oder jenes Buch schreiben soll. Man hat den Eindruck, dass im Laufe der Zeit jeder Satz schon mal geschrieben, jede Formulierung bereits benutzt worden ist. Und im schlimmsten Fall passiert das irgendwann sogar bei Büchern, die einem – wie eben Daniel Mellems Roman – sogar gefallen haben. Und wenn dann die Lektüre sogar schon eine Weile zurück liegt, eben weil man sich zu ausgiebig mit der Frage beschäftigt hat, was man denn nun darüber schreiben soll, dann macht es das auch nicht einfacher. Um meiner Chronistenpflicht genüge zu tun – und weil „Die Erfindung des Countdowns“ ein wirklich lesenswerter Roman ist -, versuche ich im Folgenden, doch noch das eine oder andere Wort darüber aufs virtuelle Papier zu bekommen.
Mellem beschreibt in seinem Roman die Lebensgeschichte des mir bis dato völlig unbekannten Hermann Oberth, der als einer der Begründer der wissenschaftlichen Raketentechnik und Raumfahrt gilt. Aufgewachsen als Sohn eines Arztes scheint für den jungen Hermann der Lebensweg vorgezeichnet, der Junge soll natürlich ebenfalls Arzt werden. Zumindest wenn es nach seinem Vater geht, mit dem Hermann wegen seiner eigenwilligen Interessen immer öfter aneckt.
Das Anecken wird ihn durch sein gesamtes Leben begleiten, denn schon recht früh wird deutlich, dass Hermann Oberth in zwischenmenschlicher Hinsicht ein bisschen anders funktioniert als andere. Er hat schlicht kein Gespür für die menschliche Natur als solche und erst recht keines dafür, was man in welcher Situation sagen oder eben manchmal auch besser nicht sagen sollte. Manchmal ist das unterhaltsam, beispielsweise als er sich bei seinem Ausbilder während des Ersten Weltkriegs über die Waffen der Truppe beschwert, darauf hinweist, dass man auf deutscher Seite im Besitz von Repetierwaffen sei und im Folgenden detailliert die Funktionsweise dieser Gewehre erklärt, bis der Vorgesetzte irrtiert fragt:
„Wollen Sie damit sagen, wir sollten all unsere schönen Gewehre am besten wegschmeißen?“
Hermann trat von einem Fuß auf den anderen. „Gründe hätte man.“ (S. 36)
Manchmal ist das aber eben auch tragisch, weil es sich auch im Umgang mit seiner Familie fortsetzt. Hinzu kommt noch die Tatsache, dass Oberth seine Forschungen jederzeit an die erste Stelle in seinem Leben setzt, eben noch vor besagter Familie. Dabei scheitert er eigentlich regelmäßig, die Familie zieht häufig um und schließlich scheint Oberth so überhaupt kein Problem mehr damit zu haben, zum Lebensunterhalt das Geld seines Vaters anzunehmen, mit dem er sich in jungen Jahren wegen seiner angestrebten Forschung doch so in die Haare gekriegt hat. Und so wundert es nicht, dass sich seine Frau an der Seite eines solchen Menschen von einer anfangs liebenswürdigen, freundlichen Person in eine zynische und überhebliche, verletzte Frau wandelt, die eigentlich im weitesten Sinne schließlich ebenfalls macht, wozu sie Lust hat. Als Regulativ für ihren Mann bleibt sie jedoch durchgehend nicht zu unterschätzen.
Überhaupt sind es eben diese Charaktere, die diesen Roman so lesenswert machen. Nicht nur, aber eben auch. Mellems Protagonist ist als Person, die sich in der Interaktion mit anderen Menschen nicht immer ganz geschickt anstellt und sich augenscheinlich dabei auch nicht immer so wirklich wohlfühlt, bemerkenswert gut gezeichnet. Gleiches gilt für seine Ehefrau Tilla.
Der Plot selbst, also die Beschreibung des Lebenswegs von Hermann Oberth, kann auch mit der Materie unkundige Leser wie mich überzeugen und führt idealerweise, zumindest in meinem Fall, zu einer nach der Lektüre erfolgten Suchmaschinenrecherche, wonach ich festgestellt zu haben glaube, dass „Die Erfindung des Countdowns“ gut recherchiert ist und der Autor sich erfreulich nahe an die historischen Tatsachen gehalten hat.
Viel passiert in diesem Roman allerdings abseits der Handlung, im Inneren des Lesers selbst, auf der, sagen wir mal, Deutungsebene. Wesentlich hierfür ist natürlich die Frage nach der Verantwortung des Menschen für seine Schöpfungen, wenn deutlich wird, dass diese für Zwecke missbraucht werden, hinter denen man nicht stehen kann. Im vorliegenden Fall führt Oberths eigentlicher Wunsch nach einer Weltraumrakete eben dazu, dass er an der Entwicklung der V2 beteiligt war. Von einem moralisch erhobenen Standpunkt aus müsste man natürlich anmerken, dass ein vollständig integrer Mensch sich an diesem Punkt von seiner Forschung verabschiedet hätte und die Beteiligung an der Entwicklung von Waffen schlicht abgelehnt hätte. Aber so einfach ist es halt eben selten im Leben. Und so versucht sich Oberth, die Entwicklung der Waffe dahingehend schönzureden, dass sie zu einer Verkürzung des Krieges und damit zur Rettung von Menschenleben beitragen könne. Allerdings scheint er dem NS-Regime und dessen Ideologie auch alles andere als ablehnend gegenübergestanden zu haben, und so erscheint es nur folgerichtig, dass Oberth 1965 in bereits fortgeschrittenem Alter in die NPD eintrat.
Ein durchaus streitbarer Charakter also, dem Daniel Mellem hier versucht, mit seinem Debütroman in literarischer Hinsicht gerecht zu werden. Und dieser Versuch, so darf man konstatieren, ist nicht nur besser geglückt als Oberths erste Raketenversuche in jugendlichem Alter auf einem Friedhof, verbunden mit anschließenden Löschversuchen der ortansässigen Flora, sondern tatsächlich vollständig geglückt.
Ein sehr lesenswerter Debütroman!
Demnächst in diesem Blog: „Schachnovelle“ von Stefan Zweig.