Buch: „Carl Haffners Liebe zum Unentschieden“
Autor: Thomas Glavinic
Verlag: dtv
Ausgabe: Taschenbuch, 204 Seiten
Der Autor: Thomas Glavinic wurde 1972 in Graz geboren und arbeitet seit 1991 als freier Schriftsteller. 1998 erschien sein viel beachtetes Debüt ›Carl Haffners Liebe zum Unentschieden‹, das vom ›Daily Telegraph‹ zum Buch des Jahres gewählt wurde. 2001 folgte der Roman ›Der Kameramörder‹, für den Glavinic mit dem Friedrich-Glauser-Preis ausgezeichnet wurde. Weitere Romane folgten. Thomas Glavinics Werke sind in zahlreiche Sprachen übersetzt. (Quelle: dtv)
Das Buch: Im Winter des Jahres 1910 steht die Schachwelt Kopf: Der in Wien ausgetragene Kampf um die Weltmeisterschaft nimmt in der fünften Partie eine unvorhergesehene Wendung. Der als unschlagbar geltende Titelverteidiger Emanuel Lasker, berühmt auch als Dichter und Philosoph, ist durch einen Fehler, den sonst nur Anfänger machen, in Rückstand geraten.
Im Schlaglicht des Interesses steht nun plötzlich der Herausforderer Carl Haffner. Der bis dahin kaum bekannte Österreicher ist ein Defensivkünstler, ein Meister des Remis. Jetzt bietet sich ihm die Gelegenheit, Lasker die Krone zu entreißen – die zehnte und letzte Partie muss die Entscheidung bringen. (Quelle: dtv)
Fazit: Vollkommen egal, ob es sich nun um Zweigs „Schachnovelle“, um „Lushins Verteidigung“ von Nabokov oder eben um „Carl Haffners Liebe zum Unentschieden“ handelt – allen literarischen Werken, die sich des Schachthemas annehmen, scheint immanent zu sein, einen möglichst verschrobenen, abseits des Schachbretts eigentlich kaum überlebensfähigen Protagonisten zu zeichnen. Gut, Zweigs Dr. B. hatte allen Grund, zu sein, wie er nun ist. Und ja, Nabokovs Lushin tatsächlich auch. Und eigentlich wohl auch der für Glavinics Novelle namensgebende Carl Haffner. Trotzdem bleibt die Hauptfigur aber irgendwie diffus, seine Persönlichkeit in einigen Punkten wenig nachvollziehbar – und das obwohl sich der Autor relativ ausführlich, gemessen am Gesamtumfang des Buches, mit der Vorgeschichte von Haffner beschäftigt.
Angelehnt ist der Protagonist an die real existierende historische Figur des Carl Schlechter, einem um die Jahrhundertwende auf sich aufmerksam machenden Schachspieler, der im Übrigen so gut gewesen sein muss, dass er sich mit seiner besten erreichten Elo-Zahl noch über 100 Jahre später in den Top 30 der besten Schachspieler der Weltgeschichte einreihen würde. Thematisch beschäftigt sich das Buch mit der zwischen Schlechter und dem bis heute in Fachkreisen bekannten Emanuel Lasker im Jahr 1910 stattgefundenen Schachweltmeisterschaft.
Nachdem der Autor die Leserschaft in seinen Handlungsrahmen eingeführt hat, verlässt er den eingeschlagenen, erzählerischen Pfad und wendet sich Haffners Vergangenheit, inklusivere früherer Familiengenerationen zu. Und ja, aus diesen Schilderungen lässt sich einiges zur Person Haffner ableiten. Die Bindung zum alkoholkranken Vater, der die Familie später verlassen wird, fehlt im Grunde völlig. Die glücklichsten Zeiten erlebt der junge Carl, als dann doch mal so eine Art Interaktion zwischen ihm und seinem Vater stattfindet: Auf einem im Haus aufgebauten Schachbrett beginnen die beiden eine Partie, bei der jeder einen Zug pro Tag macht, was den jungen Carl jeden Morgen aufgeregt aus dem Bett und zum Schachbrett springen lässt, um zu sehen, welchen Zug der Vater am Vorabend getätigt hat. Abseits dieses Schachspiels scheint der Sohn dem Vater aber recht egal zu sein.
Jahre später ist aus dem jungen Carl ein erfolgreicher Schachspieler geworden, der allerdings dauerhaft mit Geldproblemen zu tun hat. Neben dem Schachspiel als Einnahmequelle entwirft er zwar Schachrätsel und Artikel für Zeitschriften, aufgrund seiner maßlos übersteigerten Zurückhaltung verzichtet er zuweilen aber darauf, dafür sein Honorar einzufordern und hungert deswegen auch schon mal den einen oder anderen Tag. Andererseits käme er mit seinem Geld vielleicht über die Runden, wenn er sich nicht verpflichtet sehen würde, seine Halbschwester finanziell zu unterstützen. Diese wiederum will Carl finanziell unterstützen. Da beide aber ihrerseits zu stolz wären, solche Hilfe auch anzunehmen, und darüber hinaus nie diesbezügliche Gespräche zwischen beiden stattfinden, steckt der Halbbruder der Halbschwester schon mal unbemerkt Geld in den Mantel, während gleichzeitig die Halbschwester dem Halbbbruder ebenso unbemerkt die identische Summe in den Geldbeutel wandern lässt.
Dinge wie die bemerkenswerte Zurückhaltung Haffners, der manisch darauf zu achten scheint, in Interaktionen mit anderen Menschen – sofern er sich dazu überhaupt in der Lage sieht – keine Grenzen zu überschreiten – die meistens ohnehin nur in seinem Kopf bestehen -, sind in Ansätzen aus Haffners Vorgeschichte abzuleiten, schon der junge Carl war eher ein zurückhaltender, einzelgängerischer Junge. Für die intensive Verbindung zu seiner Halbschwester, die irgendwie den Gedanken an eine inzestuöse Beziehung aufkommen ließ, gilt das allerdings nicht in dieser Deutlichkeit. Warum die beiden miteinandern umgehen, wie sie es eben tun, hat sich mir persönlich nicht erschlossen. Und warum Haffner offensichtlich in der Lage ist, eine derart fragwürdige Beziehung zu seiner Halbschwester zu unterhalten, aber keine „richtige“, weniger problembeladene Beziehung mit einer Frau zu führen – auch eine ihm im Verlauf der Handlung recht nahekommende bzw. nahestehende Journalistin, die die Weltmeisterschaft beobachtet, scheint dafür nicht infrage zu kommen – eigentlich auch nicht.
Haffners Zuückhaltung steht ihm aber nicht nur im „echten“ Leben, sondern auch hinsichtlich seines Schachspiels im Weg. Er ist kein Hasardeur, der im Spiel mutig nach vorne prescht und mit dem Risiko, auch eigene Figuren zu verlieren, den Sieg anstrebt. Lieber mauert er sich mit seinen Figuren in einer praktisch unangreifbaren Defensivposition ein, was letztlich dazu führt, dass übermäßig viele seiner Partien remis enden. Auch Vorteile auszunutzen, die ihm beispielsweise dadurch geboten werden, dass sein Gegner viel zu spät zur anberaumten Partie erscheint, liegt Haffner fern.
Die Auswirkungen auf die Handlung sowie der weitere Verlauf der Weltmeisterschaft zwischen Haffner und Lasker soll an dieser Stelle nicht geschildert werden.
Wichtiger als der Handlungsverlauf ist ohnehin einerseits, dass es Glavinic gelungen ist, sein schmales Buch mit einem überzeugenden Figurenensemble auszustatten. Darin weist vielleicht ausgerechnet der Protagonist einige Lücken auf. Vielleicht sehen andere Leserinnen und Leser das aber auch vollkommen anders. Aber egal wie man zu Haffner steht, zumindest kann man nach Abschluss der Lektüre nach Herzenslust auf diesem Protagonisten herumdenken.
Wichtiger ist andererseits aber auch der Subtext, das was Glavinic – möglicherweise – mit seinem Buch vermitteln will. Denn in der Attitüde Haffners, in jeder Hinsicht defensiv, rückhaltend, zuvorkommend zu agieren, steckt ja eigentlich auch viel Schönes. Es wirft in einer Leistungsgesellschaft, deren Auswirkungen seit einigen Jahren immer deutlicher zutage treten, durchaus die Frage auf, ob man immer gewinnen, ob man immer der Beste sein muss. Oder ob man nicht vielleicht auch mal gönnen können sollte.
Nicht nur unter diesem Aspekt habe ich Glavinics Buch außerordentlich gerne gelesen. Und wende mich dann irgendwann sicherlich auch nochmal dem „Jonas-Komplex“ zu. Ganz bestimmt …
Demnächst in diesem Blog: „Fänger im Roggen“ von J.D. Salinger
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