abc.Etüden KW 38/39 I

abc.etüden 2022 38+39 | 365tageasatzaday

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

es ist mal wieder Zeit für eine der von Christiane organisierten Etüden, diesmal zur Wortspende von Ellen und ihrem Blog nellindreams. Auf gehts:

„Na, worüber reden wir? Die Italien-Wahl?“

„Nein – Italien hatte nach Kriegsende schon fast 70 Regierungen. Reden wir Weihnachten nochmal drüber …“

„Okay, worüber dann!?“

„Über die Kunstfreiheit.“

„Okay. Aus welchem Anlass?“

„Bastian Bielendorfer!“

„Kenne ich – ein Comedian, oder!?“

„Genau.“

„Und?“

„Und der hat sich kürzlich recht abfällig über seine Heimatstadt Gelsenkirchen geäußert.“

„Und?“

„Und daraufhin hat Gelsenkirchens OB, Frau Welge, erklärt, ihn nicht mehr auf den Bühnen Gelsenkirchens auftreten lassen zu wollen. Später bezeichnete sie das dann als „Scherz“, den auch jeder verstanden habe, der ihr vorurteilsfrei gegenübergetreten wäre.“

„Autsch.“

„Exakt. Und der Vorgang ist nicht der einzige, der darauf schließen lässt, dass wir die Kunstfreiheit so langsam in die Regentonne treten können.“

„Ich glaube, die Redensart geht anders …“

„Egal. Zweites Beispiel: Hier um die Ecke im Mittelzentrum gab es in den letzten Monaten eine Lokalpolitikposse, weil der Stadtrat putzmuntere Linden in der Fußgängerzone fällen wollte, weil die ja sowieso nur noch so 20 Jahre halten würden, mutmaßlich, weil es für die Maßnahme viel Fördergeld gab.“

„Und?“

„Und es entwickelte sich ein monatelanger Protest, Unterschriftenaktionen usw.“

„Und?“

„Und kürzlich bei einer großen Kulturveranstaltung in der Stadt wurden deren Teilnehmer, unter anderem Satiriker, Impro-Theater und so, darum gebeten, dazu angehalten, das Thema doch in ihren Vorträgen nicht zu erwähnen.“

„Oha!“

„Na eben! Ich bin nun wirklich nicht sensibel, aber mir fällt schon auf, dass es immer wieder Angriffe auf Rechte gibt, die eigentlich sakrosankt sein sollten und die hoffenlich nie ins Schwanken geraten. Das beginnt bei Altbundespräsident Wulffs versuchtem Angriff auf die Pressefreiheit, geht mit der Posse um Lisa Eckhart vor einiger Zeit weiter bis zu den oben genannten Beispielen und der Frage, ob man banale Mallorca-Döp-Döp-Döp-Songs verbieten sollte – während Mickie Krause im „Fernsehgarten“ das Lied „Kann ich so nicht sagen, müsst ich nackt sehen“ singt.“

„Du siehst dir den „Fernsehg…?“

„Schnauze!“

300 Worte.

Werbung

abc.Etüden KW 36/37 III

abc.etüden 2022 36+37 | 365tageasatzaday

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

aller guten Dinge sind drei, sagt der Volksmund. Und unter der Annahme, dass man meine Etüden auch unter diesen guten Dinge subsumieren könnte, ist es daher vollkommen logisch, dass hier nun mein dritter Beitrag zur aktuellen Runde der Etüden, weiterhin organisiert von Christiane und zur Wortspende des Etüdenerfinders Ludwig Zeidler, folgt. Diesmal in einer von mir lange vernachlässigten Form. Wenn ichs hinkriege. Man wird sehen.

 

Stelldichein

Die Sitze sind so anschmiegsam,
drum fahr‘ ich mit der Deutschen Bahn.

Im Bordbistro des Zuges sitzend,
um mich herum die Kellner flitzend,
wend‘ ich mich der Zeitung zu,
und flugs vorbei ist’s mit der Ruh‘,

Die Rechten sind nun auch in Schweden,
da hilft kein lamentieren oder reden,
Die Bahntickets sind wieder teuer,
und dann salbadert noch der Scheuer.

Ich will das alles ignorieren,
mich in mein Reiseziel verlieren,
bin auf dem Weg zur Stadt der Sünde,
nicht Las Vegas – Travemünde.

Derweil ganz vorn im Führerhaus,
tickt nun der Fahrzeugführer aus.
Ein Brechreiz bemächtigt sich bald seiner,
des armen Fahrzeugführers Heiner.

Er hat am Telefon den Jeff,
der seines Zeichens Stellwerkchef.
„Stell doch nun die Weiche um!“, ruft Heiner.
„Entweder du tust’s, oder keiner!“

Doch Jeff sitzt stehts am läng’ren Hebel,
hat auch meist den höh’ren Pegel,
und nach Tagen voller Suff,
ist er auch heut‘ Morgen druff.

Heiner schreit: „Stell um, die Weiche!“
Jeff: „Nur über meine Leiche!
Ich hasse meinen blöden Job!“,
beschied er Heiner ziemlich grob.

Drum fährt der Zug alsbald ’ne Kehre,
pflügt sich, fast wie eine Fähre,
’nen anderen Weg durchs Gleisenmeer,
Heiner wütet derweil sehr.

Im Bordbistro bleibt alles leise,
ich wende mich – nicht allzu weise -,
wieder meiner Zeitung zu,
der Blutdruck steigt quasi im Nu:

Es scheppert nun in Karabach,
eine mehr als traurig‘ Sach‘,
England hat jetzt einen König,
und die Russen rennen fröhlich.

Heiner – derweil auf allen vieren –
bereit, dem Jeff zu buchstabieren,
was genau er von ihm will,
doch im Telefon bleibt’s still.

So bleibt ihm nur, den Zug zu fahren,
sich weit’res Ungemach zu sparen,
zu seh’n, wohin die Reise führt,
ob nach Bremen, ob nach Hürth.

Im Bordbistro das Bier wird schal,
der Zug strandet in Wuppertal.

 

290 Wörter.

 

abc.Etüden KW 36/37 2022 II

abc.etüden 2022 36+37 | 365tageasatzaday

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

unter der Rubrik „Dinge, dich ich als Randnotiz stehen lassen könnte, aber einen Blutrausch bekäme, wenn ich sie unwidersprochen lasse“ gibt es heute meinen nächsten Beitrag zur aktuellen Etüden-Ausgabe, die –  wie könnte es anders sein? – weiterhin von der zauberhaften Christiane organisiert werden. Die Wortspende stammt vom Etüdenerfinder Ludwig Zeidler. Auf gehts:

„Du siehts nicht gut aus. Irgendwie grün im Gesicht!?“

„Ja, ich hab auch schon wieder mit Brechreiz zu kämpfen.“

„Lass mich raten: Jemand hat wieder irgendwas gesagt, was dir auf den Magen schlägt?“

„Exakt!“

„Und, wer isses diesmal?“

„Hans Peter Wollseifer, seines Zeichens Präsident des Zentralverbands des Deutschen Handwerks.“

„Und? Was hat er gesagt?“

„Er äußerte sich in einem Interview mit der „Rheinischen Post“ zum geplanten Bürgergeld und sagte: „Es sorgt für Demotivation bei denjenigen, die mit einem geringen Gehalt regulär arbeiten. Am unteren Ende verschwimmen immer mehr die Grenzen zwischen regulärer Arbeit und dem Bürgergeld“. Und außerdem: „Die Verbesserungen für die Bezieher beim Schonvermögen, der Wegfall von Sanktionen, die deutliche Anhebung des Regelsatzes, die komplette Übernahme der stark gestiegenen Heizkosten – all das wird dazu führen, dass sich für mehr Menschen als bisher das Nichtarbeiten mehr lohnt als das Arbeiten.“ 

„Alllllter, das ist …“

„Ja, oder!? Wer kennt sie nicht, diese stinkfaulen, ewig sturzbesoffenen Arbeitslosen ohne jede intrinsische Motivation, die es sich in der ach so anschmiegsamen, sozialen Hängematte bequem gemacht haben!? Nun ja, zumindest, wenn man dem Bild, das FDP, RTL Zwei und die journalistische Rohstoffverschwendung mit den vier großen Buchstaben in den vergangenen Jahren von dieser Personengruppe gezeichnet haben, glauben will.“

„Kommt der Mann vielleicht auf die Idee, dass nicht die Ausgestaltung des Bürgergelds das Problem ist, sondern der Niedriglohnsektor?“

„Nein, nicht mal dann, wenn man es ihm buchstabieren würde. Fast acht Millionen Menschen sind hierzulande im Niedriglohnsektor beschäftigt – einer der größten in Europa. Nun könnte man diese Menschen auch einfach besser bezahlen …“

„…was aber das Geld der Klientel von Herrn Wollseifer kosten würde?“

„Eben – deswegen muss man Verteilungskämpfe schüren! Nicht der Arbeitgeber, der mir einen beschissenen Lohn zahlt, ist der Schuldige, sondern der da, dieser arschfaule, strunzdumme Arbeitslose!“

„Ein Ablenkungsmanöver, das leider immer noch gut funktioniert.“

„So isses.“

300 Worte.

„Der Fänger im Roggen“ von J. D. Salinger

Buch: „Der Fänger im Roggen“

Autor: J.D. Salinger

Verlag: Rowohlt

Ausgabe: Taschenbuch, 272 Seiten

Der Autor: J.D. Salinger, geboren am 1. Januar 1919 in New York, erlangte Weltruhm mit seinem 1951 erschienenen Roman »Der Fänger im Roggen«, der zu einem der erfolgreichsten Romane des 20. Jahrhunderts wurde. Daneben hat Salinger nur drei weitere Bücher mit Erzählungen veröffentlicht. Salinger starb am 27. Januar 2010. (Quelle: Rowohlt)

Das Buch: Der sechzehnjährige durch New York irrende Holden Caulfield ist zu einer Kultfigur ganzer Generationen geworden. „Der Fänger im Roggen“ war J. D. Salingers erster Roman, mit dem er weltweit berühmt wurde. (Quelle: Rowohlt)

Fazit: In der Reihe „Klassiker der Weltliteratur, die bislang am Verfasser dieser Zeilen vorbeigegangen sind“ wenden wir uns heute einem handelsüblichen Wochenende von Holden Caulfield zu. Salingers 16 Jahre alter Protagonist hat es geschafft, innerhalb kurzer Zeit von der dritten Schule hintereinander zu fliegen. Wie jeder andere Teenager in dieser Situation, verspürt auch Holden nicht unbedingt den Drang, mit dieser Nachricht im Gepäck freudestrahlend ins Elternhaus zurückzukehren. Stattdessen begleiten wir ihn als Leser während eines, einer Art Flucht gleichenden, langen Wochenendes auf seinem Streifzug durch New York.

Holden fungiert dabei selbst als Erzähler und das Buch ist daher im ihm eigenen, eher rauen und umgangssprachlichen Duktus gehalten, aus dem sehr bald klar wird, was der Protagonist so von sich, anderen und der Welt als solcher hält. Der Junge braucht nur wenige Seiten Text, um auf den Leser den Eindruck eines überheblichen, arroganten, selbstgefälligen, wohlstandsverwöhnten Drecksblags zu machen. Den eines jungen Menschen, der über alle Maßen von sich selbst überzeugt ist und für sich in Anspruch nimmt, die Welt, das Universum und den ganzen Rest als einziger durchschaut zu haben, während alle anderen ja so oberflächlich und „piefig“ seien. „Piefig“, da haben wir es ja. Zusammen mit „und so“ und ähnlichem scheint „piefig“ Holdens Lieblingsformulierung zu sein. Und wenn der Roman insgesamt sprachlich durchaus überzeugen kann, so ist dieser Begriff meines Erachtens Beispiel genug dafür, dass man das Buch vielleicht sprachlich behutsam in aktuelle Zeiten versetzen könnte. Oder sagt hier noch jemand „piefig“?

Zurück zu Holden: Durch seine ganze Art und (Ausdrucks)Weise braucht der Jungspund also etwa 50 Seiten, um im bis dahin durchaus geneigten Leser den intensiven Wunsch auszulösen, ihm nach allen Regeln der Kunst eine zu fenstern. Ungefähr dieser Zeitpunkt war es auch, der im Verfasser die Frage aufkommen ließ, ob es nicht sinnvoller sei, das Buch einfach zur Seite zu legen, als sich über 200 weitere Seiten mit der selbstgefälligen Nabelschau eines eingebildeten Teenagers zu beschäftigen.

Dann jedoch … bekommt Holden plötzlich Konturen. Man erfährt mehr aus seiner persönlichen, aus seiner Familiengeschichte. Thematisiert wird hier beispielsweise das Verhältnis zu seiner jüngeren Schwester Phoebe oder auch der frühe Tod seines Bruders Allie, den Holden wohl nie so wirklich verarbeitet hat. Dass das vielleicht aber hätte notwendig sein können, wird schon daran deutlich, dass Holden beschreibt, wie er nach Erhalt der Todesnachricht sämtliche Scheiben in der Garage mittels seiner Faust demoliert hat und dann zum Familienauto übergegangen wäre, wenn das besagte Faust noch mitgemacht hätte. Es entsteht der Eindruck, seine Eltern hätten sich um Scheiben und Auto mehr Gedanken gemacht, als über ihren Sohn.

Eine weitere erhellende Szene ist die, in der Holden versucht, für die Nacht bei einem der wenigen Lehrer unterzukommen, zu denen er ein gutes Verhältnis hat, dort dann nachts auf der Couch wach wird und bemerkt, dass besagter Lehrer vor dieser Couch sitzt und offensichtlich gerade versucht, Holden über den Kopf zu streichen. Entweder sehr fürsorglich. Oder aber – sehr viel wahrscheinlicher – sehr, sehr gruselig! Im folgenden, überstürzten Aufbruch Holdens wird in Ansätzen – viele Informationen über den Protagonisten werden von Salinger nur nebenbei angedeutet, nicht aber ausufernd explizit erklärt – deutlich, dass Holden bereits ähnliche Erfahrungen gemacht haben muss. Und das mehr als einmal.

Auf diese Weise wird aus dem verzogenen Schnösel dann Stück für Stück ein Mensch.

Und sowohl die Schilderung der Entwicklung von Salingers Protagonisten – denn selbstverständlich findet diese statt, nur soll das Wie an dieser Stelle unerwähnt bleiben – als auch dieses stückweise Zusammenfügen seines Protagonisten, diese scheibchenweise Erklärung, warum Holden so tickt, wie er tickt, all das ist Salinger schon ziemlich gut gelungen. Und hat aus meiner Sicht einen sehr aktuellen Bezug, da die Menschen heute, zumindest in meiner Wahrnehmung, zwar schnell dabei sind, „Hängt ihn höher!“ zu brüllen, sich aber nur sehr wenig darum scheren, warum ein Mensch so ist wie er eben ist. Natürlich, wenn in der Zeitung steht, dass nachts um drei ein 15-Jähriger vor einer Disko verdroschen wurde, dann fragen diese Menschen ja schon reflexartig „Was macht der um die Zeit da?“. Nur hat eben die Frage nicht den Hintergrund, verstehen zu wollen, welcher familiäre, welcher Lebenshintergrund besagten 15-Jährigen dazu gebracht haben mag, sich um diese Zeit dort aufzuhalten, sondern den, zu sagen: „Tja, selbst schuld!“ Ach, sei´s drum!

Zum Endes des Romans stellt man als Leser jedenfalls fest, es hier mit einem vergleichsweise gut gealterten Klassiker der Literaturgeschichte zu tun zu haben, der allenfalls sprachlich etwas entgratet werden könnte und dem das Kunststück gelingt, seine irgendwo zischen „Peter Pan“ und „Systemsprenger“ verlorene Hauptfigur von einem reinen Scheusal zu einem Jungen, an dessen Schicksal man wirklich anteil hat, werden zu lassen.

Demnächst in diesem Blog:„Der unsichtbare Roman“ von Christoph Poschenrieder

abc.Etüden KW 36/37 2022 I

abc.etüden 2022 36+37 | 365tageasatzaday

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

die Sommerpause ist vorbei, die zauberhafte Christiane ruft wieder zu den Etüden auf, diesmal zu einer Wortspende des Etüdenerfinders Ludwig Zeidler. Auf gehts:

„Anschmiegsam!“

„WAS!?“

„Ich .. äh… keine Ahnung – etwas hat mich gezwungen, das zu sagen …“

„Äh … Alter – gehts dir gut!?“

„Nein – ich leide unter einem massiven First-World-Brechreiz!“

„Bitte?“

„Ich will sagen: Das Schöne am Internet ist, dass jeder Idiot seine Meinung kundtun kann, das Beschissene am Internet ist, dass jeder Idiot das auch tut.“

„Nur nicht konkret werden!“

„Konkret gehts um die neue Amazon-Serie „Der Herr der Ringe:Die Ringe der Macht“.“

„Und?“

„Selbige leidet derzeit unter einem massiven Review-Bombing.“

„Unter was?“

„Kurz gesagt: Eine kleine Anzahl an Menschen bewertet etwas bewusst schlecht, mit dem Ziel, den Erfolg den Produkts zu mindern.“

„Und was ist bei dieser Serie nun deren Problem?“

„Nun, ganz vorne dabei ist, dass einige Elben und Zwerge von People of Colour gespielt werden … Man „argumentiert“, dass es die so bei Tolkien nicht gegeben hat und auch nicht geben kann. Es folgen fadenscheinige geografische und biologische Erklärungen und sinngemäßes Geblubber wie „In einem Film über den Zweiten Weltkrieg hätte auch nicht die Hälfte aller deutschen Soldaten eine dunkle Hautfarbe!“

„Oh, ja, die großen historischen Ereignisse der Menschheitsgeschichte, wer kennt sie nicht: Punische Kriege, Franzöische Revolution, Zweiter Weltkrieg, Herr der Ringe … Und außerdem: Biologische Erklärungen? Haben die dann auch eine dafür, dass die unterirdische lebenden Zwerge nicht blind und transparent sind?“

„Keine Ahnung, aber mich kotzt so etwas an. Menschen, die ihren Rassismus selbst dann nicht erkennen könnten, wenn man ihn buchstabieren würde. Menschen, die offenbar so wenige Probleme im Leben haben, dass sie freidrehen, weil jemand „ihr“ HdR-Universum zerstört. Menschen, die den Eindruck vermitteln, nur noch mit Stift und Zettel vor dem Fernseher zu sitzen, um „Fehler“ zu finden, anstatt einfach mal etwas genießen zu können. Menschen, die zudem nicht wissen, was eine Adaption ist. Menschen, die über so wenig Frustrationstoleranz verf…“

„Lass gut sein!“

„Ja, vielleicht hast du recht …“

300 Worte.

„Carl Haffners Liebe zum Unentschieden“ von Thomas Glavinic

Buch: „Carl Haffners Liebe zum Unentschieden“

Autor: Thomas Glavinic

Verlag: dtv

Ausgabe: Taschenbuch, 204 Seiten

Der Autor: Thomas Glavinic wurde 1972 in Graz geboren und arbeitet seit 1991 als freier Schriftsteller. 1998 erschien sein viel beachtetes Debüt ›Carl Haffners Liebe zum Unentschieden‹, das vom ›Daily Telegraph‹ zum Buch des Jahres gewählt wurde. 2001 folgte der Roman ›Der Kameramörder‹, für den Glavinic mit dem Friedrich-Glauser-Preis ausgezeichnet wurde. Weitere Romane folgten. Thomas Glavinics Werke sind in zahlreiche Sprachen übersetzt. (Quelle: dtv)

Das Buch: Im Winter des Jahres 1910 steht die Schachwelt Kopf: Der in Wien ausgetragene Kampf um die Weltmeisterschaft nimmt in der fünften Partie eine unvorhergesehene Wendung. Der als unschlagbar geltende Titelverteidiger Emanuel Lasker, berühmt auch als Dichter und Philosoph, ist durch einen Fehler, den sonst nur Anfänger machen, in Rückstand geraten.

Im Schlaglicht des Interesses steht nun plötzlich der Herausforderer Carl Haffner. Der bis dahin kaum bekannte Österreicher ist ein Defensivkünstler, ein Meister des Remis. Jetzt bietet sich ihm die Gelegenheit, Lasker die Krone zu entreißen – die zehnte und letzte Partie muss die Entscheidung bringen. (Quelle: dtv)

Fazit: Vollkommen egal, ob es sich nun um Zweigs „Schachnovelle“, um „Lushins Verteidigung“ von Nabokov oder eben um „Carl Haffners Liebe zum Unentschieden“ handelt – allen literarischen Werken, die sich des Schachthemas annehmen, scheint immanent zu sein, einen möglichst verschrobenen, abseits des Schachbretts eigentlich kaum überlebensfähigen Protagonisten zu zeichnen. Gut, Zweigs Dr. B. hatte allen Grund, zu sein, wie er nun ist. Und ja, Nabokovs Lushin tatsächlich auch. Und eigentlich wohl auch der für Glavinics Novelle namensgebende Carl Haffner. Trotzdem bleibt die Hauptfigur aber irgendwie diffus, seine Persönlichkeit in einigen Punkten wenig nachvollziehbar – und das obwohl sich der Autor relativ ausführlich, gemessen am Gesamtumfang des Buches, mit der Vorgeschichte von Haffner beschäftigt.

Angelehnt ist der Protagonist an die real existierende historische Figur des Carl Schlechter, einem um die Jahrhundertwende auf sich aufmerksam machenden Schachspieler, der im Übrigen so gut gewesen sein muss, dass er sich mit seiner besten erreichten Elo-Zahl noch über 100 Jahre später in den Top 30 der besten Schachspieler der Weltgeschichte einreihen würde. Thematisch beschäftigt sich das Buch mit der zwischen Schlechter und dem bis heute in Fachkreisen bekannten Emanuel Lasker im Jahr 1910 stattgefundenen Schachweltmeisterschaft.

Nachdem der Autor die Leserschaft in seinen Handlungsrahmen eingeführt hat, verlässt er den eingeschlagenen, erzählerischen Pfad und wendet sich Haffners Vergangenheit, inklusivere früherer Familiengenerationen zu. Und ja, aus diesen Schilderungen lässt sich einiges zur Person Haffner ableiten. Die Bindung zum alkoholkranken Vater, der die Familie später verlassen wird, fehlt im Grunde völlig. Die glücklichsten Zeiten erlebt der junge Carl, als dann doch mal so eine Art Interaktion zwischen ihm und seinem Vater stattfindet: Auf einem im Haus aufgebauten Schachbrett beginnen die beiden eine Partie, bei der jeder einen Zug pro Tag macht, was den jungen Carl jeden Morgen aufgeregt aus dem Bett und zum Schachbrett springen lässt, um zu sehen, welchen Zug der Vater am Vorabend getätigt hat. Abseits dieses Schachspiels scheint der Sohn dem Vater aber recht egal zu sein.

Jahre später ist aus dem jungen Carl ein erfolgreicher Schachspieler geworden, der allerdings dauerhaft mit Geldproblemen zu tun hat. Neben dem Schachspiel als Einnahmequelle entwirft er zwar Schachrätsel und Artikel für Zeitschriften, aufgrund seiner maßlos übersteigerten Zurückhaltung verzichtet er zuweilen aber darauf, dafür sein Honorar einzufordern und hungert deswegen auch schon mal den einen oder anderen Tag. Andererseits käme er mit seinem Geld vielleicht über die Runden, wenn er sich nicht verpflichtet sehen würde, seine Halbschwester finanziell zu unterstützen. Diese wiederum will Carl finanziell unterstützen. Da beide aber ihrerseits zu stolz wären, solche Hilfe auch anzunehmen, und darüber hinaus nie diesbezügliche Gespräche zwischen beiden stattfinden, steckt der Halbbruder der Halbschwester schon mal unbemerkt Geld in den Mantel, während gleichzeitig die Halbschwester dem Halbbbruder ebenso unbemerkt die identische Summe in den Geldbeutel wandern lässt.

Dinge wie die bemerkenswerte Zurückhaltung Haffners, der manisch darauf zu achten scheint, in Interaktionen mit anderen Menschen – sofern er sich dazu überhaupt in der Lage sieht – keine Grenzen zu überschreiten – die meistens ohnehin nur in seinem Kopf bestehen -, sind in Ansätzen aus Haffners Vorgeschichte abzuleiten, schon der junge Carl war eher ein zurückhaltender, einzelgängerischer Junge. Für die intensive Verbindung zu seiner Halbschwester, die irgendwie den Gedanken an eine inzestuöse Beziehung aufkommen ließ, gilt das allerdings nicht in dieser Deutlichkeit. Warum die beiden miteinandern umgehen, wie sie es eben tun, hat sich mir persönlich nicht erschlossen. Und warum Haffner offensichtlich in der Lage ist, eine derart fragwürdige Beziehung zu seiner Halbschwester zu unterhalten, aber keine „richtige“, weniger problembeladene Beziehung mit einer Frau zu führen – auch eine ihm im Verlauf der Handlung recht nahekommende bzw. nahestehende Journalistin, die die Weltmeisterschaft beobachtet, scheint dafür nicht infrage zu kommen – eigentlich auch nicht.

Haffners Zuückhaltung steht ihm aber nicht nur im „echten“ Leben, sondern auch hinsichtlich seines Schachspiels im Weg. Er ist kein Hasardeur, der im Spiel mutig nach vorne prescht und mit dem Risiko, auch eigene Figuren zu verlieren, den Sieg anstrebt. Lieber mauert er sich mit seinen Figuren in einer praktisch unangreifbaren Defensivposition ein, was letztlich dazu führt, dass übermäßig viele seiner Partien remis enden. Auch Vorteile auszunutzen, die ihm beispielsweise dadurch geboten werden, dass sein Gegner viel zu spät zur anberaumten Partie erscheint, liegt Haffner fern.

Die Auswirkungen auf die Handlung sowie der weitere Verlauf der Weltmeisterschaft zwischen Haffner und Lasker soll an dieser Stelle nicht geschildert werden.

Wichtiger als der Handlungsverlauf ist ohnehin einerseits, dass es Glavinic gelungen ist, sein schmales Buch mit einem überzeugenden Figurenensemble auszustatten. Darin weist vielleicht ausgerechnet der Protagonist einige Lücken auf. Vielleicht sehen andere Leserinnen und Leser das aber auch vollkommen anders. Aber egal wie man zu Haffner steht, zumindest kann man nach Abschluss der Lektüre nach Herzenslust auf diesem Protagonisten herumdenken.

Wichtiger ist andererseits aber auch der Subtext, das was Glavinic – möglicherweise – mit seinem Buch vermitteln will. Denn in der Attitüde Haffners, in jeder Hinsicht defensiv, rückhaltend, zuvorkommend zu agieren, steckt ja eigentlich auch viel Schönes. Es wirft in einer Leistungsgesellschaft, deren Auswirkungen seit einigen Jahren immer deutlicher zutage treten, durchaus die Frage auf, ob man immer gewinnen, ob man immer der Beste sein muss. Oder ob man nicht vielleicht auch mal gönnen können sollte.

Nicht nur unter diesem Aspekt habe ich Glavinics Buch außerordentlich gerne gelesen. Und wende mich dann irgendwann sicherlich auch nochmal dem „Jonas-Komplex“ zu. Ganz bestimmt …

Demnächst in diesem Blog: „Fänger im Roggen“ von J.D. Salinger