Buch: „Cox oder Der Lauf der Zeit“
Autor: Christoph Ransmayr
Verlag: Fischer
Ausgabe: Taschenbuch, 304 Seiten
Der Autor: Christoph Ransmayr wurde 1954 in Wels/Oberösterreich geboren und lebt nach Jahren in Irland und auf Reisen wieder in Wien. Neben seinen Romanen »Die Schrecken des Eises und der Finsternis«, »Die letzte Welt«, »Morbus Kitahara«, »Der fliegende Berg«, »Cox oder Der Lauf der Zeit«, »Der Fallmeister. Eine kurze Geschichte vom Töten« und dem »Atlas eines ängstlichen Mannes« erscheinen Spielformen des Erzählens, darunter »Damen & Herren unter Wasser«, »Geständnisse eines Touristen«, »Der Wolfsjäger« und »Arznei gegen die Sterblichkeit«, im Juli 2022 »Jägerin im Sonnenbad. Dreizehn Balladen und Gedichte«. Zum Werk Christoph Ransmayrs erschien der Band »Bericht am Feuer«. Für seine Bücher, die in mehr als dreißig Sprachen übersetzt wurden, erhielt er zahlreiche literarische Auszeichnungen, unter anderem die nach Friedrich Hölderlin, Franz Kafka und Bert Brecht benannten Literaturpreise, den Kleist-Preis, den Premio Mondello und, gemeinsam mit Salman Rushdie, den Prix Aristeion der Europäischen Union, den Prix du meilleur livre étranger und den Prix Jean Monnet de Littérature Européenne. (Quelle: Fischer)
Das Buch: Der mächtigste Mann der Welt, Qiánlóng, Kaiser von China, lädt den englischen Automatenbauer und Uhrmacher Alister Cox an seinen Hof. Der Meister aus London soll in der Verbotenen Stadt Uhren bauen, an denen die unterschiedlichen Geschwindigkeiten der Zeiten des Glücks, der Kindheit, der Liebe, auch von Krankheit und Sterben abzulesen sind. Schließlich verlangt Qiánlóng, der gemäß einem seiner zahllosen Titel auch alleiniger Herr über die Zeit ist, eine Uhr zur Messung der Ewigkeit. Cox weiß, dass er diesen ungeheuerlichen Auftrag nicht erfüllen kann, aber verweigert er sich dem Willen des Gottkaisers, droht ihm der Tod. Also macht er sich an die Arbeit. (Quelle: Fischer)
Fazit: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“ hat der geschätzte Herr Wittgenstein mal geschrieben. Und mag er es auch im völlig anderen Zusammenhang gemeint haben, so hätte er im Bezug auf Ransmayrs Roman fast richtig gelegen, denn gemessen daran, wie lange meine Lektüre des Romans bereits zurückliegt, hätte ich nicht gedacht, dass ich nochmal versuchen würde, meiner Begeisterung über das Buch Ausdruck zu verleihen. Nun gibt es aber eben Bücher, über die zu schweigen unmöglich ist – und „Cox oder Der Lauf der Zeit“ ist so eines.
England im 18. Jahrhundert: Der Automatenbauer und Uhrmacher Alister Cox befindet sich in einer Schaffenskrise. Seine Tochter Abigail verstarb im Alter von nur fünf Jahren, seine Frau hat seitdem kein Wort mehr gesprochen. Und Alistair kann sich einfach nicht dazu aufraffen, weitere Uhren zu entwerfen. Geräte, deren Sinn letztlich doch nur darin liegt, die Zeit zu messen. Zeit, von der seine Tochter viel zu wenig hatte und die ohnehin ja für uns alle abläuft – auch wenn ich den Gegenbeweis und in 2.000 Jahren das Universum zu regieren gedenke.
In seiner verzweifelten Situation bekommt Cox Besuch von chinesischen Gesandten, die ihm einen Auftrag unbekannter Art des chinesischen Kaisers Qianlong antragen wollen, verbunden mit einer Einladung an den dortigen Hof. Cox hat den Eindruck, dass ihn in seiner nebligen Heimat nicht viel hält und bricht an der Seite dreier seiner Mitarbeiter nach China auf.
Dort stellt sich schließlich heraus, dass Alistair ausgerechnet wieder Uhren entwerfen soll. Allerdings ganz spezielle Uhren, die dem Umstand Rechnung trägt, dass die Zeit zwar immer beständig und gleichbleibend vergehen mag – wenn man von physikbasierten Spitzfindigkeiten absieht -, dass sie aber je nach Lebenssituation gefühlt mal schneller, mal langsamer vergeht. So wie eben eine Wurzelbehandlung gefühlt länger dauert als eine Silvesterparty, das Ausfüllen der Steuererklärung länger als die Lektüre eines guten Romans.
Alistair macht sich mit seinen Mitstreitern ans Werk und was folgt, ist ein ganz wunderbarer Roman, für den Denis Scheck seinerzeit vollkommen berechtigt den Begriff „Meisterwerk“ verwendete.
Zunächst mal ist das Buch – wenig überraschend – tatsächlich eine ganz großartige Allegorie zum Thema Zeit und Vergänglichkeit und unserem Umgang mit beidem. Während sich Alistair in diesem Zusammenhang der Frage ausgesetzt sieht, ob es wirklich so clever ist, für einen Kaiser, der auch „Herr der zehntausend Jahre“ genannt wird, der somit im Verständnis seiner Untertanen auch über die Zeit gebietet und dementsprechend widerspruchslos bestimmen kann, dass während seine Aufenthalts im Sommersitz selbst dann noch Sommer ist, wenn bereits der erste Schnee fällt, während sich also Alistair der Frage ausgesetzt sieht, ob es wirklich so clever ist, diesem Herrn Uhren zu bauen, die ihn, den Kaiser, selbst nur an seine eigene Vergänglichkeit erinnern, ist Ransymayrs Roman aber noch viel mehr.
So gelingt ihm auf wunderbare Weise, in erster Linie über die Figur des Dolmetschers Kiang, die kulturellen Unterschiede, die unterschiedlichen Sichtweisen auf das Leben, das Universum und den ganzen Rest von Engländern und Chinesen darzustellen, und dabei auch wirklich beide Seiten zu beleuchten, ohne diesbezüglich eine Wertung vorzunehmen. So reagieren die Chinesen auf die vergleichsweise Ungezwungenheit der Briten mit derselben Befremdung, mit der eben diese auf die Sitten und Gebräuche sowie die übermäßige Unterwürfigkeit unter den Kaiser der Chinesen reagieren.
Präsentiert wird das Ganze in einer sehr zielsicheren Sprache zu der sich zuweilen eine wunderbare Bildsprache, eine tiefe Symbolik addiert. Wenn etwa nach einem Todesfall in Cox Umfeld Schneefall einsetzt, sich der Schnee als geschlossene Decke über alles legt, sodass man keine besonderen Konturen mehr wahrnehmen kann, dann könnte das bildhaft für die Ankunft des großen Gleichmachers, der früher oder später eben trotz aller Standesunterschiede eben doch alle findet, stehen und dann großes Kino sein – es könnte aber auch meinem Hang zur Überinterpretation entspringen. Was der Szene nichts von ihrer Wirkung nimmt.
Mag sich der Autor auch gewisse, künstlerische Freiheiten genommen haben – so hieß der historische Cox James und nicht Alistair, lieferte zwar nach China, war aber nie dort, ging dafür aber mehrfach pleite -, die Umsetzung des Ganzen ist mehr als gut gelungen.
Unbedingt lesen!
Demnächst in diesem Blog: Entweder „1793“ von Niklas Natt och Dag – Zeit wäre es mal langsam dafür – ooooder „Zwölf Ausschweifungen“ von Sören Heim.