„Deutsche Lebenslügen: Der Antisemitismus, wieder und immer noch“ von Philipp Peyman Engel

Buch: „Deutsche Lebenslügen“

Autor: Philipp Peyman Engel

Verlag: dtv

Ausgabe: Hardcover, 192 Seiten

Der Autor: Philipp Peyman Engel, geboren 1983 in Herdecke, ist als Sohn einer persischen Jüdin und eines deutschen Vaters im Ruhrgebiet aufgewachsen. Er studierte Philosophie, Pädagogik und Literatur und Medienpraxis in Bochum sowie Essen. Der Journalist ist Chefredakteur der Wochenzeitung »Jüdische Allgemeine«. Das »Medium Magazin« zeichnete ihn 2023 mit dem renommierten Medienpreis »Chefredakteur des Jahres« aus. Texte von Engel zum jüdischen Leben, Antisemitismus und Israel erscheinen regelmäßig im »Spiegel«, »FAZ« und »Deutschlandfunk«. (Quelle: dtv)

Das Buch: Der brutale Terroranschlag der Hamas vom 7. Oktober ist zu einer Nagelprobe politischer und moralischer Haltung in Deutschland geworden. Das Schweigen der Linken und der Jubel muslimischer Einwanderer, die Unterstützung der Palästinenser durch die Klima-Aktivistin Greta Thunberg, die abgerissenen Plakate der Entführten in London, das Entsetzen der Politiker, die die Aufnahmen der Täter gesehen haben – viele Gewissheiten hat der 7. Oktober erledigt. In Deutschland – selbst in Deutschland – zeigt sich der Antisemitismus wieder so offen, dass man vermuten könnte, er wäre nie weg gewesen.

Der deutsche Jude Philipp Peyman Engel ist schockiert, dass die Empörung in Deutschland so zögerlich zum Ausdruck kommt – aber nicht überrascht. Seit Jahren verfolgt der Chefredakteur der »Jüdischen Allgemeinen« die Anbiederung der deutschen Politik an die Feinde Israels und den alltäglichen Antisemitismus aus allen Ecken der Gesellschaft – von Rechten, von Linken, von muslimischen Migranten. Der 7. Oktober hat endgültig gezeigt, sagt Engel, dass es in Deutschland so nicht weitergehen kann.

Philipp Peyman Engel begibt sich auf die Straßen von Neukölln und er begleitet Bundespräsident Steinmeier nach Israel, er schreibt über die Verlogenheit der deutschen Debatte und erzählt von seiner Jugend als Sohn einer persischen Jüdin in Nordrhein-Westfalen. Sein Buch ist auf der einen Seite eine Abrechnung mit denen, die zum Terror schweigen und eine Aufforderung, Haltung zu zeigen. Auf der anderen Seite ist es die schonungslose Beschreibung der moralischen Krise dieses Landes. (Quelle: dtv)

Fazit: Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich meine, es war Ivar Buterfas-Frankenthal, 91 Jahre alt, Sohn einer Christin und eines Juden, sowie Holocaustüberlebender, der einige Zeit nach dem Terroranschlag der Hamas vom 7. Oktober und der daraufhin einsetzenden Entwicklung in Deutschland sinngemäß sagte, wenn seine Kinder oder Enkel ihm eröffnen würden, sich in Deutschland nicht mehr sicher zu fühlen und darüber nachdenken würden, das Land zu verlassen, dann könne er das verstehen und würde notfalls seinen letzten Groschen zusammenkratzen, um ihnen das zu ermöglichen.

Ich finde, wenn jemand, wie Herr Buterfas-Frankenthal so etwas sagt, dann wäre es eigentlich an der Zeit, mal aufmerksam zuzuhören.

Aufmerksames Zuhören oder gar die Annahme von Kritik scheint aber nun nicht jedem gegeben zu sein, denn nur so ist es meines Erachtens zu erklären, dass vor gut zwei Wochen zu lesen war, dass in der Düsseldorfer Buchhandlung Dussmann mehrere Exemplare von Philipp Peyman Engels neuem Buch „Deutsche Lebenslügen: Der Antisemitismus, wieder und immer noch“ auf den ersten Seiten mutwillig zerrissen wurden. Zwar reagierte der Autor darauf bemerkenswert schlagfertig, in dem er auf der Social-Media-Plattform formerly known as Twitter „Mein erster Verriss“ schrieb, bei mir erzeugte dieser Vandalismus jedoch eine Trotzreaktion in der Form, dass ich beschlossen habe, meinen verschwindend geringen Anteil dazu beizutragen, das Buch einer möglichst breiten Öffentlichkeit zu präsentieren.

Flugs war also die Anfrage nach einem Rezensionsexemplar gestellt, ebenso flugs wurde selbiges dann auch zugesandt, wofür dtv an dieser Stelle mein verbindlichster Dank gilt. Dass das keinen Einfluss auf meine Meinung zu „Deutsche Lebenslügen“ hat, versteht sich von selbst.

Zu Beginn des Buches blickt der Autor auf die Geschichte seiner Familie zurück. Die Großeltern verließen als Reaktion auf den Sechstagekrieg den Iran und zogen nach Deutschland, Philipp Peyman Engel wächst in NRW auf und vermittelt den Eindruck, sich in Deutschland nie unwohl oder gar unsicher gefühlt zu haben. Im Gegenteil, man liest eine deutliche Verbundenheit zu seiner Heimat heraus.

In den letzten Jahren, insbesondere seit dem Terroranschlag vom 7. Oktober 2023 geraten diese Überzeugungen bei Peyman Engel jedoch zusehends ins Wanken, weil sich alte und neue Formen des Antisemitismus in bis dato lange nicht gehörter Intensität bemerkbar machen.

Dabei muss man den postfaschistischen Antisemitismus im Stile der AfD, die sich in Deportationsfantasien ergeht, und von irgendwelchen angeblichen „globalistischen Eliten“ sowie handfestem Umvolkungsirrsinn salbadert und deren Salonfaschist das Holocaust-Mahnmal für ein „Denkmal der Schande“ hält, vielleicht gar nicht groß thematisieren, denn dass der da ist und nie weg war, das wissen wir vermutlich alle.

Sein Hauptaugenmerk richtet der Autor daher in erster Linie einmal auf die postkoloniale Linke. Nach deren Verständnis handelt es sich beim Holocaust um ein Ereignis, das sich – zusammen mit vielen anderen Ereignissen in der Menschheitsgeschichte – unter dem Oberbegriff des Kolonialismus zusammenfassen lässt, mithin hat der Holocaust für die postkoloniale Linke den Status einer Singularität verloren. Eine Sichtweise, der vermutlich selbst die wirren „Schuldkult“-Blubberer vom rechten Rand etwas abgewinnen werden könnten, enthebt sie Deutschland doch auf nahezu magische Weise von jeglicher, diesbezüglicher Verantwortung für die Zukunft.

Er thematisiert aber noch deutlicher auch den Antisemitismus von in Deutschland lebenden Muslimen. Diesbezüglich sagte gerade heute Morgen der Journalist Eren Güvercin, Mitglied der Islamkonferenz, dass es hierzu eigentlich auch mal eine Reaktion der demokratischen Muslime geben müsse – womit er meines Wissens recht hat. Peyman Engel kritisiert, dass die deutsche Mehrheitsgesellschaft darüber im Wesentlichen schweigt. Was ich im Übrigen verstehen kann. Also, die Kritik, nicht das Schweigen. Denn als Anfang des Jahres die „Correctiv“-Recherche zum Geheimtreffen der AfD und ihren wirren Deportationsplänen erschien, gingen in der Folge zahllose Menschen auf die Straße, unter anderem, um ihre Solidarität mit den Menschen zu bekunden, die da nach Ansicht der AfD deportiert werden sollten. Und zu diesen Menschen würde naturgemäß auch der Autor des Buches gehören.

Nach dem Terroranschlag vom 7. Oktober blieben diese Solidaritätsbekundungen – zumindest in vergleichbarem Umfang – jedoch aus. Stattdessen gab es zahlreiche propalästinensische „from-the-river-to-the-sea“-Demos, zahllose Ja-aber-Argumentationen und politisches Rumgeeier. Mittlerweile wird dieses Bild ergänzt von amerikanischen Unis, die zu besuchen für jüdische Studierende derweil mindestens schwierig geworden ist, von muslimischen Jungspunden, die ihre Meinungs- und Versammlungsfreiheit dazu nutzen, kundzutun, dass sie ein Kalifat auf deutschem Boden total toll fänden, in dem sie dann weder die eine noch die andere Freiheit weiterhin besitzen würden, aber hey, sowie Solidaritätsdemos für ehemalige Terroristinnen der RAF. Was – und das ist meine ganz persönliche Sichtweise – insgesamt die Frage aufwirft, ob die Menschheit vielleicht auch einfach nur sukzessive irre wird.

Natürlich wird nicht nur die deutsche Mehrheitsgesellschaft in die Kritik genommen, sondern auch die Politik, die sich in zahllosen „Nie wieder!“-Reden ergeht, diese aber nicht mit Taten und Leben füllt, sondern die, überspitzt gesagt, anschließend in den Iran reist, um über die wirtschaftliche Zusammenarbeit zu sprechen.

Das alles untermauert Philipp Peyman Engel mit einem Ausblick auf andere Länder mit ähnlich gelagerter Entwicklung, auf die eine oder andere Statistik und mit einem ganz detaillierten Blick auf das, was da am 7. Oktober 2023 eigentlich genau passiert ist, was zuweilen nichts für schwache Nerven ist.

Mag die grundlegende Intention des Buches auch in der Kritik am Umgang mit den verschiedensten Formen des Antisemitismus liegen, so billigt der Autor beispielsweise in Person von Claudia Roth sowie Frank-Walter Steinmeier, die beide nicht besonders gut wegkommen, diesen beiden doch zu, dass sie sich zuletzt zum Positiven geändert und Worten nun endlich auch Taten haben folgen lassen.

Und vielleicht ist das letztlich auch das, worum es geht: Dass wir alle als Gesellschaft uns nicht nur gelegentlich mal kritisieren lassen müssen, dass wir dieser Kritik dann aber eben auch den entsprechenden Lerneffekt und die entsprechende Reaktion folgen lassen müssen, und dass selbst die, die da am schärfsten kritisieren, der Ansicht sind, dass wir das können.

Auch und gerade für jemanden wie mich, der eigentlich gerne hat, wenn immer alles gut ist, und es zu schätzen weiß, wenn die Menschen, falls es mal nicht so ist, trotzdem behaupten, dass es so wäre, der schon Anfang der 90er die Krawalle in Rostock-Lichtenhagen nicht verstanden hat, weil er ausschloss, dass es so etwas hierzulande noch gibt, und der erst erschreckend spät erfahren hat, dass Synagogen in diesem Land auch dann unter Polizeischutz stehen, wenn gerade mal kein Krieg zwischen Israel und der Hamas tobt, für jemanden also, dem man guten Gewissens vorwerfen kann, immer mit einer guten Portion Naivität unterwegs zu sein, oder gar sein zu wollen, war das Buch eine erhellende, augenöffnende Lektüre, die ich wärmstens empfehlen kann, selbst wenn sie manchmal ein wenig schmerzt.

Demnächst in diesem Blog: Eigentlich sollte es heute schon um Caspar David Friedrich gehen, aber ich ziehe die Rezensionsexemplare mal vor, als Nächstes kommt dann demnach „Hundswut“ von Daniel Alvarenga.

„Die Schönheit der Rosalind Bone“ von Alex McCarthy

Buch: „Die Schönheit der Rosalind Bone“

Autorin: Alex McCarthy

Verlag: Jumbo Verlag

Ausgabe: Hardcover, 160 Seiten

Die Autorin: Alex McCarthyist in Cardiff geboren und in South Wales aufgewachsen. Sie schloss ein Studium an der London Contemporary Dance School ab und arbeitete einige Jahre als Tänzerin und Choreografin bei Bühnenstücken, Film und Fernsehen, bevor sie sich vor ganz dem Schreiben widmete. „Die Schönheit der Rosalind Bone“ ist ihr erster Roman und wird in mehrere Sprachen übersetzt. McCarthy lebt in Wales. (Quelle: Jumbo Verlag)

Das Buch: Von Schönheit und vom Wegsehen: Es gibt viele Gerüchte darüber, wohin Mary Bones Schwester damals verschwunden ist. Schon als Kind hat deren Schönheit den ganzen Ort in ihren Bann gezogen, war manchen ein Dorn im Auge, wirklich hinsehen wollte jedoch niemand. Auch Jahre später reden die Leute immer noch über sie, immer noch über ihre Schönheit. Aber im Dorf gibt es noch mehr Geschichten. Während Jugendliche aus Verzweiflung zu Brandstiftern werden, träumt ein dement werdender Mann von einem Mädchen, das er mal gekannt hat, und Marys Tochter, fasziniert von dem einen übriggebliebenen Foto der verschollenen Frau, möchte mehr über die Vergangenheit erfahren. Zwischen Tälern und dichten Wäldern liegt der kleine walisische Ort Cwmcysgod. Ein scheinbar ruhiges Fleckchen Erde, doch unter der Oberfläche lauern Flammen. (Quelle: Jumbo Verlag)

Fazit: Über Bücher zu bloggen, ist tatsächlich ein schönes Hobby. Sonst würde ich das auch nicht schon seit so langer Zeit machen. Wenn man, ob bewusst oder unbewusst, sich vorrangig mit den Verlagsprogrammen der Konzernverlage beschäftigt, dann stellt sich nach einiger Zeit, zumindest bei mir, irgendwie der Eindruck ein, alles schon mal gelesen, und vieles in ähnlicher Form schon mal gesehen zu haben.

Beispielhaft seien hier mal die unzähligen Buchreihen über zahllose Fantasy-Völker in den frühen 2000ern genannt, oder der Wandel des historischen Romans hin zu einem Genre, dass sich heute im Wesentlichen nur noch durch die immer gleichen Cover auszeichnet, auf denen zwingend die Rückansicht einer Frau im Reifrock vor einem klassizistischen Gebäude in Pastelltönen zu bestaunen ist.

Zusätzlich werden, damit die Vielfalt bloß nicht zu viel Einzug hält, Cover so gestaltet wie die von anderen aktuell erfolgreichen Buchreihen, was die literarische Variante von „Kunden, die das kauften, kauften auch Folgendes“ sein muss. Und weil man der Leserschaft nicht mehr zutraut, sich Namen von Autorinnen und Autoren zu merken, pappt man „Vom Autor von“-Aufkleber drauf, am besten gleich den „Spiegel-Bestseller“.

Und irgendwann ist man all dessen irgendwie so ein bisschen überdrüssig und weitet ein daher den Blick. Und das ist auch gut so, um mal einen ehemaligen Regierenden Bürgermeister von Berlin zu zitieren. Denn sonst hätte ich vermutlich nie dieses literarische Kleinod entdeckt, um das es nun aber endlich auch gehen soll.

In „Die Schönheit der Rosalind Bone“ befinden wir uns im kleinen walisischen Dörfchen Cwmcysgod, und ja, eine Erläuterung der Aussprache desselben findet sich schon ganz am Anfang. Zu den prägenden Geschichten, die so ein Örtchen für gewöhnlich ausmachen, gehört in Cwmcysgod – ein Hoch auf kopieren und einfügen … – auch die Geschichte von Rosalind Bone. Die junge Frau war im Dorf primär für ihre außerordentliche Schönheit bekannt. Und plötzlich verschwand Rosalind vor 25 Jahren als Teenager plötzlich von einem Tag auf den anderen. Im Dorf ranken sich seitdem die wildesten Gerüchte. Sie taucht nie wieder auf.

Dann, im Hier und Jetzt, setzen zwei verwahrloste Jugendliche in einem offensichtlichen Schrei um Aufmerksamkeit Ereignisse in Gang, indem sie einen Brand legen, der – anders als die vorherigen, denn die Jungen haben sich aus ihrer Zündelei bereits eine Art Hobby gemacht – außer Kontrolle gerät. Rosalinds Nichte Catrin, Tochter ihrer Schwester Mary, trifft vor dem örtlichen Laden auf eine Landstreicherin, die offensichtlich vor dem Brand aus ihrer Behausung im Wald fliehen musste. Sie sorgt dafür, dass die alte Frau in ein Krankenhaus eingeliefert wird. Und relativ schnell ahnt man dann als Leser, um wen es sich bei dieser Landstreicherin handeln könnte.

Im Rahmen einiger Rückblenden, primär aus Mary Bones Sicht, erfährt man dann von den Ereignissen, die zu Rosalinds Verschwinden geführt haben, man erfährt aber auch von den teils abgründigen Geschichten, die sich hinter einigen Bewohnern des Dorfes verbergen, bzw. die sich zwischen einigen Bewohnern abspielen. Beispielsweise sei hier die Besitzerin des Dorfladens genannt, die auf die 80 zugeht, was sie jedoch nicht davon abhält, einen gutgehenden Nebenerwerb mittels Drogenvertickens laufen zu haben.

Die Fülle an Geschichten, die McCarthy hier erzählt, und die Menge an Themen, die sich daraus ableiten lassen, verblüffen angesichts der Tatsache, dass das Buch nur 160 Seiten umfasst, an keiner Stelle aber irgendwie zu gedrängt wirkt. Dabei ist die eigentliche Handlungsebene für sich schon recht erzählenswert, insbesondere weil alles irgendwie mit allem in Verbindung steht, und sich ein komplexes Geflecht in Cwmcysgod ergibt. Viel wichtiger, zumindest aus meiner Sicht, ist das, was die Autorin nicht explizit schreibt, viel wichtiger sind Themen und Deutungsebene.

Da geht es um Vernachlässigung von Kindern. Da geht es um Kindesmissbrauch. Es geht aber ganz konkret auch um das Patriarchat. Darum, was Männer – zumindest einige – glauben, sich ganz selbstverständlich herausnehmen zu können. Es geht darum, was das dann mit Frauen macht. Es geht um Erfahrungen, über die Männer nie nachdenken, weil sie sie per se nicht machen können. Es geht aber auch ganz entschieden um die Frage, ob man in einem solchen Dörfchen, in dem jeder jeden kennt, wirklich gar nichts von all dem mitbekommen haben kann, oder ob man sich vielleicht sogar aktiv dafür entschieden hat, ein bisschen wegzusehen, weil nicht sein kann, was nicht sein darf.

Die Kombination aus ziemlicher kompakter Erzählung mit der Fülle an Themen und persönlichen Verwicklungen, macht „Die Schönheit der Rosalind Bone“ dann letztendlich zum eingangs erwähnten literarischen Kleinod, auch wenn Stil und Figuren nur bedingt dazu beitragen. So war mir das Buch zu Beginn sprachlich entschieden zu blumig gehalten, recht schnell hat McCarthy ihren Stil dann aber, nun ja, entblumisiert, sodass es letztlich für das Beschriebene sehr viel angemessener wirkt. Und die Figuren wiederum leiden naturgemäß ein bisschen unter der Kürze des Buches. Ob und in welchem Umfang ich mir ein Bild von Charakteren machen kann, mich ggf. sogar mit ihnen verbunden fühlen oder auch mal handfeste Antipathien gegen sie entwickeln kann, hängt natürlich auch davon ab, ob ich einer Figur durch die 800 Seiten eines Knausgård-Romans folgen kann, ober ob ich das nur über 160 Seiten tue, die sich die Haupt- auch noch mit den Nebenfiguren teilen müssen.

Das tut dem positiven Gesamteindruck aber keinen Abbruch, denn was das Buch ausmacht, findet, wie erwähnt, auf anderer Ebene statt.

Klare Leseempfehlung.

Ich bedanke mich beim Jumbo Verlag für die freundliche Übersendung des Rezensionsexemplars. Die Tatsache, dass es sich um eine Rezensionsexemplar handelt, beeinflusst meine Meinung selbstredend nicht.

Demnächst in diesem Blog: „Zauber der Stille“ von Florian Illies.

„Der Donnerstagsmordclub oder Ein Teufel stirbt immer zuletzt“ von Richard Osman

Buch: „Der Donnerstagsmordclub oder Ein Teufel stirbt immer zuletzt“

Autor: Richard Osman

Verlag: Ullstein

Ausgabe: Paperback, 432

Der Autor: Richard Osman ist Autor, Produzent und Fernsehmoderator. Seine Serie über die vier scharfsinnigen und liebenswerten Ermittlerinnen und Ermittler des Donnerstagsmordclubs hat ihn über Nacht zum Aushängeschild des britischen Krimis und Humors gemacht. Für sein Debüt Der Donnerstagsmordclub wurde er bei den British Book Awards 2020 zum »Autor des Jahres« gewählt. Er lebt mit Frau und Katze in London. (Quelle: Ullstein)

Das Buch: Das hätten sie sich ja denken können, die Hobbyermittler des Donnerstagsmordclubs. Ein Jahr ohne Mordfall haben sie sich zu Weihnachten gewünscht, doch nur wenig später – dahin der fromme Wunsch. Der Tote: Kuldesh Shamar, ein Antiquitätenhändler, der am Morgen nach den Festtagen unglücklicherweise in ein Drogengeschäft verwickelt wird, was er am Abend mit seinem Leben bezahlt. Von dem wertvollen Paket, das er aufbewahren sollte, fehlt jedoch jede Spur. Nicht unbedingt zur Freude der Beteiligten. Mittendrin in dieser Löwengrube aus Dealern, Fälschern und Betrügern, die dem Paket hinterherjagen, die vier Senioren aus Coopers Chase. Und sie sind wütend, denn der Tote war nicht irgendwer, sondern ein alter Freund von Elizabeths Ehemann Stephen. Zieht euch warm an, möchte man den Ganoven da zurufen – aber nicht, weil gerade Winter ist. (Quelle: Ullstein)

Fazit: Mit jedem Teil der Donnerstagsmordclub-Reihe, den ich lese, vergrößert sich meine Sorge, Richard Osman könnte irgendwann mal der Ansicht sein, dass selbige an ihrem Ende angekommen ist. Und so musste ich bis zum Nachwort warten, um zu erfahren, dass wir natürlich mindestens noch einen weiteren Teil bekommen, uns aber gedulden müssen, weil Osman erst noch ein anderes Buch schreiben möchte. Na, dann erstens: Ich bin gespannt. Und zweitens: Puh!

„Puh!“ deshalb, weil ich die Reihe um die Senioren Joyce, Elizabeth, Ibrahim und Ron halt einfach gerne habe.

Und so mag es nicht verwundern, dass auch der aktuelle Teil bei mir auf ziemliche Begeisterung gestoßen ist. Die zu äußern, kann man – ausnahmsweise, da mir das erfahrungsweise ja nicht so liegt – relativ kurz machen:

An das Protagonisten-Quartett, ihr Zusammenspiel, ihre Eigenheiten und Marotten hat man sich im Laufe der Zeit ebenso gewöhnt, wie an eine Fülle von Nebenfiguren, die Osmans Reihe bereits seit dem ersten Teil bevölkern. Daraus ziehen die „Donnerstagsmordclub“-Bücher mittlerweile natürlich auch einen Großteil ihres Wohlfühlfaktors. Insgesamt bedeutet das aber auch, dass es im Bereich der Charaktere wenig Neues zu berichten gibt, abseits der Bösewichte des Tages. Die allerdings sind gut gelungen.

Gleiches gilt für den humorvollen Ton, in dem Richard Osman seine Bücher hält. Auch stilistisch ist „Ein Teufel stirbt immer zuletzt“ dementsprechend „more of the same“, allerdings muss das ja nichts Schlechtes sein, und die Tatsache, dass sich phasenweise ein Dauerschmunzeln meiner bemächtigte, ist vermutlich auch ein diesbezüglich gutes Zeichen.

Neu ist im vierten Teil insofern, natürlich, erst mal die Story. Und die hat es durchaus in sich, denn wenn sich die vier Senioren in der Vergangenheit schon mit gestohlenen Diamanten und ähnlichen Dingen befasst haben, warum soll man dann nicht einfach gleich noch ein Level höher gehen und sich im Bereich des Drogenschmuggels tummeln!? Da lernt man auch gleich so viele neue Leute kennen. Gut, die meisten davon sind irgendwie böse drauf, schrecken auch vor Gewalt nicht zurück und haben die seltsame Angewohnheit, Drogen zurück haben zu wollen, die sie aus unerfindlichen Gründen als die ihren bewerten, aber irgendwas ist ja immer.

Der aktuelle Teil der „Donnerstagsmordclub“-Reihe bietet also viel vom Altbewährten in durchaus gelungener Form. Von den vorangegangenen hebt sich der vierte Band unter anderem aber davon ab, dass Osman sich nicht scheut, auch mal ernstere Themen in größerem Umfang als bisher anzusprechen. Beispielsweise geht es in „Ein Teufel stirbt immer zuletzt“ um Dinge wie Demenzerkrankungen oder Sterbehilfe. Zwar findet die Auseinandersetzung damit nicht in ausuferndem Umfang oder in Form einer dialektischen Erörterung statt, weil ansonsten auch der heitere Grundton des Buches wohl irgendwie überschattet würde, für Osmans Verhältnisse aber doch ziemlich eindringlich. Und irgendwie gehören solche Dinge ja auch dazu, denn die Welt ist nicht immer Freitag, wie Horst Evers sagen würde.

Man kann also in aller Kürze feststellen, dass „Ein Teufel stirbt immer zuletzt“ eine mehr als gelungene Fortsetzung für Fans der Reihe darstellt. Allen, die das noch nicht sind, sei angeraten, mitten dem ersten Teil einzusteigen. Es wird euer Schaden nicht sein.

Demnächst in diesem Blog: „Die Schönheit der Rosalind Bone“ von Alex McCarthy.

„Evas Rache“ von Thomas Ziebula

Buch: „Evas Rache“

Autor: Thomas Ziebula

Verlag: Wunderlich

Ausgabe: Hardcover, 384 Seiten

Der Autor: Thomas Ziebula ist freier Autor und schreibt Krimis, biographische und historische Romane. 2001 erhielt er den Deutschen Phantastik-Preis, 2020 den Goldenen Homer. Seine erste Krimireihe um Inspektor Paul Stainer vereint auf beeindruckende Weise Thomas Ziebulas Leidenschaft für deutsche Zeitgeschichte, spannende Kriminalfälle und seine Liebe zu Leipzig, das bis heute seine Lieblingsstadt in Deutschland ist. Der erste Band der Reihe um Inspektor Stainer, «Der rote Judas», stand auf der Shortlist für den Crime Cologne 2020. Der Autor lebt in der Bonner Region. (Quelle: Wunderlich)

Das Buch: Leipzig, 1922. Es will keine Ruhe einkehren in der Wächterburg: Gleich drei Lustmorde in drei Monaten halten Paul Stainer und seine Kollegen in Atem. Stainer tritt auf der Stelle und fällt zunehmend zurück in seine Depression. Dass Junghans und Mona im Liebesglück schwelgen und beschließen, zu heiraten, macht es nicht besser. Erst als auf der Technischen Messe Leipzig Eva-Maria Dorn, die Frau eines erfolgreichen Ingenieurs und Unternehmers, überfallen wird, glaubt er, eine erste Spur zu haben, die ihn zu der «Bestie von Leipzig» führen kann. Stainers Nachforschungen bringen ihn auf die Fährte eines jungen Anarchisten mit dem Tarnnamen «Schlange», der gerade erst aus russischer Kriegsgefangenschaft heimgekehrt ist. Zunächst scheint der Fall eindeutig, doch die möglichen Motive sind vielfältig. Schon bald wird klar: Das Verbrechen geht weit über die Lustmorde hinaus – und auch in Eva-Maria Dorn steckt mehr als das unschuldige Opfer … (Quelle: Wunderlich)

Fazit: Der Autor Rolf Dobelli soll mal gesagt haben: „Nach vierzig ist das Leben zu kurz für schlechte Bücher“. Und ich weiß, was er meint, und dass er recht hat. Meines Erachtens hätte er aber auch noch hinzufügen müssen, dass das Leben nach vierzig zu kurz für jegliche Art von Buchreihen ist. Wenn ich, wie im vorliegenden Fall, also schon mal eine Buchreihe über eine vergleichsweise lange Zeit und bis zum Ende lese, dann muss es sich wohl um alles andere als schlechte Bücher handeln. Und das gilt weitgehend auch für „Evas Rache“.

Dabei profitiert die Reihe rund um den Ermittler Paul Stainer sehr von ihrem historischen Setting, das unter anderem fernab jeglicher forensischer Möglichkeiten und DNA-Vergleiche moderner Zeiten eben noch echte Ermittlerarbeit ermöglicht. Und innerhalb der Reihe ist „Evas Rache“ sogar der Teil, der insgesamt das meiste aus seinem Setting macht. Die Handlung findet in Teilen auf der Technischen Messe Leipzig statt – ein Handlungsrahmen, der vergleichsweise frisch und unverbraucht wirkt und mir in ähnlicher Form nur in „Der Turm der Welt“ von Benjamin Monferat aka Stephan M. Rother begegnet ist. Tatsächlich hätte ich mir aber gewünscht, dass der Autor hier noch ein bisschen mehr ins Detail geht, ein bisschen mehr das Messeflair einfängt, ein bisschen mehr darauf eingeht, was es dort an Innovationen denn alles zu sehen gab. Hier hätte das Buch vielleicht noch ein paar Seiten mehr vertragen.

Und ganz ähnlich verhält es sich auch mit den Charakteren. Man trifft natürlich auf die altbekannten und mittlerweile irgendwie liebgewonnenen Figuren wie Junghans, Mona oder Rosa. Man trifft aber auch in Person von Eva-Maria Dorn auf eine Figur, die nur im abschließenden Teil der Reihe auftaucht, und deren Entwicklung tatsächlich überraschend gut dargestellt ist. Überraschend deswegen, weil Eva-Maria zu Beginn des Buches auf nahezu gruselige Weise als unselbständiges, naives Dummchen daherkommt. Meine Hoffnung, dass das doch bitte nicht das ganze Buch über so bleiben möge, wurde allerdings erhört, und – auch bedingt durch die Umstände, in die sie so gerät – der Autor lässt aus ihr letztlich eine starke, unabhängige Person werden. Find ich gut.

Auch die alten, sich in den vorangegangenen Bänden entwickelnden Sympathien und Animositäten zwischen bestimmten Figuren werden im Abschlussband aufgegriffen, und schlüssig weitergeführt.

Lediglich der Protagonist Paul Steiner selbst sorgte bei mir irgendwie für Stirnrunzeln. Ich hatte den diffusen, nicht genau festzumachenden Eindruck, der Autor könne es dann doch kaum noch erwarten, seinen Protagonisten jetzt aber auch irgendwie loszuwerden. Das beginnt schon zum Einstieg des Buches. Das zu Beginn auftauchende Mordopfer ist nicht das erste einer Mordserie und Stainer – der auch in der Vergangenheit schon mit Alkoholproblemen aufgrund seiner Kriegserfahrungen zu kämpfen hatte – verfällt wieder in alte Handlungsmuster und Bewältigungsstrategien, die keine sind. Relativ zu Beginn wird man mit dem auf dem Balkon Schnaps trinkenden Stainer konfrontiert und als Leser vor die vollendeten Tatsachen einer schleichenden Entwicklung gestellt, die mit Beginn der Mordserie ihren Ursprung hatte. Vor dem Hintergrund der Bedeutung, die all das letztlich für Paul Stainers Zukunft hat, hätte ich davon gerne mehr mitbekommen, als später irgendwann dazukommen und mit einem sinngemäßen, erzählerischen „Das ist jetzt eben so.“ auskommen zu müssen.

Die Handlung selbst lässt eigentlich kaum Wünsche offen. „Evas Rache“ hat Anleihen aus verschiedensten Genres, ist im Ansatz Agententhriller, ist im Ansatz Verwechslungsgeschichte, ist in deutlich größerem Umfang Krimi und überzeugt durch Einfallsreichtum, Tempo und Spannung. Phasenweise wirkt das aber dann auch schon fast zu gehetzt, fast so, als wolle man jetzt dann bitte auch mal zum Ende kommen. Und in ähnlicher Form zeigte sich dieses Problem ja schon beim Setting und der Charakterdarstellung.

In Summe ist „Evas Rache“ also ein überzeugender Abschluss einer insgesamt sehr lesenswerten Krimireihe, der allerdings vielleicht einfach ein paar Seiten mehr gebraucht hätte, um seinem Handlungsrahmen, seinen Haupt- und Nebenfiguren und seiner Geschichte den Raum zu verschaffen, die sie eigentlich verdient und auch gebraucht hätten.

Ich danke dem Wunderlich Verlag für die freundliche Übersendung des kostenlosen Rezensionsexemplars. Die Tatsache, dass es sich um ein Rezensionsexemplar handelt, beeinflusst meine Meinung selbstredend nicht.

Ich danke zudem Thomas Ziebula, dem es gelungen ist, mich mit seiner Reihe über vier Teile und ebenso viele Jahre mehr als gut zu unterhalten. Das gelingt nicht jedem.

Demnächst in diesem Blog: „Der Donnerstagsmordclub oder Ein Teufel stirbt immer zuletzt“ von Richard Osman. Schon wieder eine Reihe …

„Hinter verschlossenen Türen“ von Sasha Naspini

Buch: „Hinter verschlossenen Türen“

Autor: Sasha Naspini

Verlag: Kein & Aber

Ausgabe: Hardcover, 576 Seiten

Der Autor: Sacha Naspini, geboren 1976 in Grosseto, lebt heute in Follonica. Er ist Drehbuchautor, schreibt für La Repubblica und arbeitet als Lektor und Artdirector mit verschiedenen Verlagshäusern zusammen. Er hat bereits mehrere Romane veröffentlicht, die in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden. Nives war sein erstes Buch, das auf Deutsch bei Kein & Aber erschienen ist. (Quelle: Kein & Aber)

Das Buch: Im rauen Herzen der Maremma liegt ein alter, in Felsen gehauener Ort, Le Case genannt. Es ist ein aussterbendes Dorf, ein Provinznest, in dem sich die Bewohner in einem Fluss öder Tage dahinschleppen – bis ihre Gemeinschaft durch die Ankunft von Samuele Radi aufgerüttelt wird, der in Le Case geboren und aufgewachsen ist, aber den Absprung geschafft hat. Seine Rückkehr haucht alten Geheimnissen und Animositäten neues Leben ein Samueles heimliche Liebesbeziehung zu Eleanora, die neu im Dorf ist, macht die Sache auch nicht einfacher. (Quelle: Kein & Aber)

Fazit: In Sasha Naspinis neuem Roman „Hinter verschlossenen Türen“ befinden wir uns im kleinen Dörfchen Le Case – zu deutsch: Die Häuser -, dessen unbeugsame Einwohner nicht aufhören würden, den Eindringlingen Widerstand zu leisten – wenn es die denn gäbe. Stattdessen geht in diesem kleinen beschaulichen Dörfchen alles seinen gewohnten Gang, wie es das schon seit Ewigkeiten tut.

Dann aber gibt es doch so eine Art Eindringling: Samuele Radi, geboren und aufgewachsen in Le Case, begeht die Dreistigkeit, erst mit der Justiz in Konflikt zu kommen, und dann auch noch nach Le Case zurückzukehren, um wieder im Haus seiner Kindheit einzuziehen. Und es regt sich auch Widerstand dagegen bei den bei genauerer Betrachtung manchmal doch gar nicht so unbeugsamen Dorfbewohnern.

Sasha Naspini nimmt uns nun zu einer Art Rundreise durch das Dorf und seine Einwohner mit. Sein Roman hat keinen klar auszumachenden Protagonisten bzw. Erzähler, aus dessen Sicht wir die Ereignisse verfolgen. Stattdessen springt der Autor von Einwohner und Einwohnerin, und manchmal auch wieder zurück, und lässt sie ihren jeweiligen Anteil an der Geschichte erzählen.

So erleben wir insgesamt, wenn ich mich nicht verzählt habe, 24 unterschiedliche kleine oder größere Geschichten, die allesamt mehr oder weniger eng miteinander im Zusammenhang stehen – wie sollte das in einem kleinen Dorf, in dem jeder jeden kennt, auch anders sein? – und die zudem im Bezug zur Rahmenhandlung rund um die Rückkehr von Samuele Radi stehen. Die meisten der persönlichen Geschichten der Einwohner sind vergleichsweise kurz und man wird ihnen, also den Einwohnern, zumindest als Erzähler, im weiteren Verlauf des Romans nicht mehr begegnen. Lediglich die Hintergrundgeschichte von Adele Centini, im Dorf als „Witwe Isastia“ bekannt, nimmt mehr Raum ein und wir kehren öfter zu ihr zurück.

Naspini gelingt auf diese Weise das Kunststück, peu à peu ein vergleichsweise komplexes und – zumindest für mich – faszinierendes Erzählgeflecht entstehen zu lassen, dessen Einzelteile über ausreichend Eigenständigkeit verfügen, um schon für sich alleine zu unterhalten, die aber erst im jeweiligen Zusammenspiel miteinander ihre volle Wirkung entfalten.

Dazu trägt auch bei, dass der Autor mit den Erwartungen seiner Leserschaft spielt und selbige letztlich bricht. Die Erwartungen, nicht die Leser. Immer wieder gleiten die einzelnen Geschichten unerwartet ins Düstere, zuweilen ins sehr Düstere ab, immer wieder stellen sich Sachverhalte, Figuren, Hintergründe als anders dar, als man es als Leser angenommen hat. Schwarzen Humor zu mögen, ist insofern sicherlich nicht unbedingt nötig, um das Buch zu mögen, wenn man ihn – wie ich – aber hat, dann kann man mit „Hinter verschlossenen Türen“ ein geradezu diebisches Vergnügen haben.

Auch die Figuren selbst tragen das Ihre zur Faszination des Buches bei. In den meisten Fällen allein schon deswegen, weil ihre Geschichten selbst eben gelungen sind. Man hätte sich nahezu beliebig Geschichten aus „Hinter verschlossenen Türen“ heraussuchen – beispielsweise die des jungen Mannes, der sich anschickt, als Schachgenie zu ziemlichen Ruhm und Reichtum zu gelangen, um letztlich aber doch wieder in der Einöde von Le Case zu langen -, und daraus selbst einen vollständigen, eigenständigen Roman entwickeln können.

Durch die Kürze der einzelnen Kapitel bzw. Erzählperspektiven – die meisten bekommen nur eine Handvoll Seiten spendiert, um ihre Sicht der Dinge, der Welt, des Lebens, des Universums und des ganzen Rests darzulegen – würde es eigentlich schwerfallen, irgendwelche Bezüge zu den Figuren zu entwickeln, dadurch, dass in Naspinis Roman irgendwie alles mit allem verbunden ist, gelingt das letztlich spannenderweise aber eben doch.

Wie es sich gehört für so ein kleines Bergdorf in karger Umgebung, so ist auch Naspinis Erzählweise in sprachlicher bzw. stilistischer Hinsicht gelegentlich ziemlich ruppig gehalten. Zudem weisen seine Figuren in irritierend hoher Zahl eine irritierend hohe Begeisterung für sexuelle Aktivitäten jeglicher Art auf. Gut, nun könnte man sagen: „Was will man in einem solchen abgelegenen Bergdorf denn sonst den ganzen Tag tun!?“, das alleine scheint mir als Begründung jedoch ungeeignet. Worin der offensichtliche Wunsch eines Großteils der Einwohnerschaft, sich gefühlt permanent amourös zu betätigen, begründet liegt, erschließt sich mir letztlich nicht, tut dem positiven Gesamteindruck aber nun auch keinen Abbruch.

Was Sprache und Stil angeht, so haben hier zudem die Übersetzerinnen, so weit ich das beurteilen kann, einen sehr überzeugenden Job gemacht. Den sie für mich im Nachwort jedoch ein wenig beschädigen, in welchem sie drauf verweisen, weniger „dem Wörtlichen verhaftet, sondern um Wirkungsäquivalenz bemüht“ gewesen zu sein. Daher habe man die „sprachliche Gewalt“ an einigen Stellen zurückgenommen und eher „einen allgemeinen Fluch oder ein konkretes Adjektiv, das keine bestimmte Gruppe Menschen beleidigt“ eingefügt, wenn im Original „verletzende Worte beiläufig eingestreut waren und so Gefahr liefen, sich unbewusst festzusetzen und Stereotype fortzuschreiben“.

Nun kann man das meinetwegen so machen. Und ich hatte auch nicht den Eindruck, dass mir sprachlich hier etwas fehlen würde oder gar vorenthalten wurde. Rückblickend fragt man sich dann aber eben schon, ob man beispielsweise den ortsansässigen Quotenfaschisten und Mussolini-Anhänger in Le Case sprachlich entschärft hat, und ob es jetzt Usus wird, nicht nur literarische Werke der Vergangenheit an heutige Standards anzupassen, welche man damit implizit als für alle Zeiten in Stein gemeißelt erklärt, sondern ob man mittlerweile auch hergeht, und Neuerscheinungen in einer Weise sprachlich modifiziert, die die entsprechenden Autorinnen und Autoren so nicht vorgesehen haben werden, da sie ihre Texte sonst ja selbst anders formuliert hätten.

Auch wenn mir, wie gesagt, gefühlt nichts gefehlt hat, finde ich die Vorgehensweise unglücklich gewählt. Andererseits will ich auch kein Politikum draus machen, denn im Gesamten gesehen ist das Leiden auf ziemlich hohen Niveau.

Insgesamt ist „Hinter verschlossenen Türen“ nämlich eine mehr als empfehlenswerte Leseerfahrung, insbesondere für Leserinnen und Leser, die komplexe, mosaikartige Erzählweisen zu schätzen wissen.

Ich danke Kein & Aber für die freundliche Übersendung des Leseexemplars. Die Tatsache, dass es sich um ein Leseexemplar handelt, beeinflusst meine Meinung selbstredend nicht.

Demnächst in diesem Blog: „Evas Rache“ von Thomas Ziebula.

400!

Liebe Leserinnen und Leser,

ich hatte Hoffnung, dass die Happiness Engineers bei WP mich mit einer entsprechenden Einblendung darüber informieren würden, um selbige dann in diesem Beitrag abbilden zu können, kann darauf aber vermutlich lange warten, weswegen wir jetzt ohne besagte Abbildung auskommen müssen.

Und eigentlich braucht es die auch nicht, um an dieser Stelle nur kurz darauf hinzuweisen, dass die Zahl meiner „Follower“ – irgendwie klingt der Begriff für mich immer noch ein bisschen nach Religionsführer – unlängst die 400 überschritten hat. Bei gleichbleibender Zuwachsrate und der zugegebenermaßen unrealistischen Annahme eine stagnierenden Weltbevölkerung würde das bedeuten, dass mir in irgendwas um 2 Millionen Jahren wirklich alle Menschen des Planeten „folgen“, falls ich mich nicht verrechnet habe, was als durchaus unwahrscheinlich angenommen werden kann.

Das könnte insofern schwierig werden, als ich plane, in etwa 2.000 Jahren das gesamte bis dahin besiedelte Universum zu regieren – und ob dann noch Zeit fürs Bloggen bleibt … wer weiß!? Andererseits findet ja sogar Olaf Scholz jetzt Zeit für TikTok …

Angesichts des Überschreitens der 300 Follower rief ich seinerzeit wegen des entsprechenden historischen Bezugs noch in einem offensichtlichen Anfall geistiger Umnachtung zu einer Reise zu den Thermopylen auf. Da böte sich ja eigentlich für die 400 Follower ein ähnliches Happening mit historischem Bezug an – nur, was war eigentlich im Jahr 400 …?

Aha – die Westgoten begannen nach Italien zu ziehen und verwüsteten einige Jahre später Rom … – gut, nun bin ich Protestant, aber Rom zu verwüsten, erscheint mir irgendwie … unangemessen. Außerdem hat mir Papst Franziskus nichts getan. Andererseits gäbe mir dieser Plan vielleicht die Möglichkeit Italien zu regieren. Und das vielleicht sogar länger am Stück als die Italiener das gewohnt sind. Und wenn ich keine Lust mehr habe, gehe ich einfach wieder, das kennt man dort ja. Hm, nein, vielleicht besser doch nicht.

Also, was war im Jahr 400 noch? Oh, das erste Konzil von Toledo fand statt. Dabei wurde unter anderem beschlossen, Giftmischerei mit lebenslanger Haft zu bestrafen. Na, dann ist ja gut. Okay – dann könnten wir unter Verweis auf dieses Konzil so eine Art riesiges Follower-Treffen veranstalten, auf dem dann bindende Beschlüsse für die Blogosphäre verabschiedet werden. Unter anderem die Verpflichtung für die Happiness Engineers, ein Badge für 400 Follower zu implementieren. Und den alten Editor zurückzubringen.

Ein solches Treffen würde mein oben erwähntes persönliches Empfinden als Religionsführer zudem zusätzlich stärken.

Aber dieser Aufwand! Nein!

Also, noch was anderes – was war 400 noch?

Die Erfindung des Bucheinbands. Aha. Nun, meinetwegen, aber den gibt es dann ja jetzt bereits. Einen neuen Bucheinband zu erfinden, wäre demnach witzlos. Weiter.

Die Kölner Basilika St. Ursula wurde gebaut. Eine Kirche bauen? Nein, dann lieber ein Follower-Treffen. Oder doch Rom verwüsten.

Tja, ich fürchte, da gibt es nichts, an dem man sich orientieren könnte …

Dann fällt das großangelegte Happening wohl aus und mir bleibt nur, mich allseits für die teils schon recht lange Treue bei meiner Leserschaft zu bedanken. Also: Ganz herzlichen Dank allerseits.

Gehabt euch wohl.

„Schlafes Bruder“ von Robert Schneider

Buch: „Schlafes Bruder“

Autor: Robert Schneider

Verlag: Reclam

Ausgabe: Taschenbuch, 212 Seiten

Der Autor: Der österreichische Schriftsteller Robert Schneider wurde am 16. Juni 1961 in Bregenz geboren. Seinen Durchbruch und größten Erfolg erzielte der Autor mit dem Roman Schlafes Bruder, der 1992 erstmals bei Reclam Leipzig erschien. Die international erfolgreiche Erzählung über einen jungen Musiker, der sich durch Schlafentzug das Leben nimmt, wurde in über dreißig Sprachen übersetzt und diente als Vorlage für Oper, Film und Ballett. Neben weiteren Romanen, Lyrikbänden und einer Novelle schrieb Schneider auch Texte für die Bühne. Sein Theaterstück Dreck mit dem Untertitel Über die Angst vor dem Fremden erhielt 1993 den Preis der Potsdamer Theatertage. Heute widmet sich der Autor vorwiegend dem Dokumentarfilm. (Quelle: Reclam)

Das Buch: »Das ist die Geschichte des Musikers Johannes Elias Alder, der zweiundzwanzigjährig sein Leben zu Tode brachte, nachdem er beschlossen hatte, nicht mehr zu schlafen.«


So beginnt der Debütroman von Robert Schneider, mit dem ihm vor 30 Jahren ein literarischer Welterfolg gelang. Der Auftaktsatz nimmt die Geschichte über das Leben eines Genies in der Enge eines österreichischen Bergdorfs vorweg: Schon als Kind ist der 1803 geborene Elias Außenseiter, sein außergewöhnlich scharfes Gehör und sein musikalisches Talent sorgen bei den Dorfbewohnern für Aufsehen und Argwohn. Die unerfüllte Liebe zu seiner Cousine Elsbeth quält ihn im Laufe der Jahre, und sie treibt ihn an. Bei einem Orgelwettbewerb in Feldberg improvisiert Elias über den Bach-Choral »Komm, o Tod, du Schlafes Bruder« und entfacht eine ungeahnt starke Wirkung auf sein Publikum und sich selbst. (Quelle: Reclam)

Fazit: Ursprünglich war ich davon ausgegangen, dass es sich bei meiner Lektüre von „Schlafes Bruder“ um das handelt, was Vertreter meiner Nachfolgegenerationen unnötigerweise als „Reread“ bezeichnen würden, wenn sie einfach sagen wollen, dass sie ein Buch nicht zum ersten Mal lesen. Denn eigentlich war ich mir ziemlich sicher, das Buch bereits einmal gelesen zu haben – vor so gefühlten 30 Jahren. Tatsächlich musste ich feststellen, mich aber an absolut nichts aus dem Buch erinnern zu können, weswegen berechtigterweise angezweifelt werden kann, dass ich es tatsächlich schon mal gelesen habe, denn ich bin ziemlich sicher, dass ich mich andernfalls erinnern könnte.

Woran ich mich jedoch zweifelsfrei erinnern kann, ist, die Vilsmeier-Verfilmung von 1995 gesehen haben, und fortan der bis heute ungebrochenen Überzeugung zu sein, dass man André Eisermann seinerzeit alle Filmpreise hätte zuwerfen müssen, die man gerade in die Hände bekommen hätte und es sich bei ihm um einen der unterbewertetsten Schauspieler handelt, die ich kenne.

Jener André Eisermann verkörpert in Vilsmeiers Film Johannes Elias Alder, der im Jahre 1803 in einem kleinen Dorf im Vorarlberg zur Welt kommt, in dem es exakt zwei Familiennamen gibt. Die entsprechenden Folgen des überschaubaren Genpools dürften klar sein, Elias jedoch scheint unter einen guten Stern geboren worden zu sein. Eigentlich. Irgendwie.

Denn im Alter von 5 Jahren vollzieht sich bei ihm eine spontane Änderung, die ihn vorzeitig pubertieren und altern und seine Augen gelb werden lässt. Er entwickelt in diesem Zusammenhang aber auch ein immens gutes Gehör. Auch seine Stimme entwickelt sich, wird tiefer, eignet sich für wohlklingenden Gesang und die Stimmenimitation verschiedenster Dorfbewohner.

Im späteren Verlauf verliebt sich Elias bis über beide Ohren in seine Cousine Elsbeth. Als ihm die Worte eines Wanderpredigers wieder einfallen, der sinngemäß propagiert hat, dass Schlaf Sünde sei, weil man währenddessen nicht lieben könne, beschließt Elias letztlich, als Liebesbeweis für Elsbeth, nie mehr zu schlafen …

Über 30 Jahre nach der Veröffentlichung des Buches sitze ich nun hier, und versuche, die offensichtliche Anziehungskraft desselben zu verstehen. Denn die ist zweifellos vorhanden. Man mag das Buch ungern aus der Hand legen und es hallt nach Ende der Lektüre noch lange nach. Nur woran das liegt, das lässt sich für mich schwerlich festmachen.

Sicher ist da der Aspekt der Sprache zu erwähnen. Zahlreiche Schneidersche Neologismen, viele Dialektbegriffe und Worte, vorzugsweise irgendwie aus dem landwirtschaftlichen Themenbereich, die ich vorher nie gehört, und von denen ich sicher bin, dass ich sie auch nie wieder brauche, sowie eine insgesamt häufig antiquiert wirkende Sprache, verbunden mit einem auktorialen Erzähler, der sich immer mal wieder direkt an die Leserschaft wendet, lassen das Buch ungemein lebendig wirken. Passagen wie die gleich zu Beginn, als sich besagter Erzähler beispielsweise seitenlang in den Gedanken der Hebamme verliert, die sich mit der Frage plagt, wen sie denn nun heiraten soll, während Elias Mutter daneben in den Wehen liegt und schmerzerfüllt vor sich hin schreit, nur um dann eben noch beiläufig zu erwähnen, wie das weitere Leben der Hebamme vonstatten ging und festzustellen, dass wir dieser Figur im weiteren Verlauf nicht wieder begegnen werden, verleihen dem Text eine gewisse Nonchalance und einen gewissen Charme.

Aber das alleine kann es nicht sein.

Vielleicht ist es das Figurenensemble, denn Schneider bevölkert seinen Roman mit eine Vielzahl mehr oder weniger schräger Charaktere, von denen die meisten gut getroffen sind. Seien es Elias Eltern, die auf die offensichtliche Veränderung ihres Sohnes so reagieren, wie viele andere Menschen auch auf Dinge, die sie nicht verstehen oder die ihnen nicht gefallen: Sie sperren ihn weg, und tun einfach so, als wäre alles wie immer. Sei es Eilas Cousin Peter, der zu Gewaltausbrüchen neigt und vor heutigen Standards wohl als verhaltensoriginell durchgehen würde. Sei es aber eben dieser Johannes Elias Alder selbst, an dessen Schicksal man so viel Anteil hat und nimmt.

Aber auch das kann es noch nicht so wirklich sein.

Vielleicht ist es auch die Geschichte selbst, die – zumindest damals – herzerfrischend unverbraucht dahergekommen sein muss, und die die Frage aufwirft, wie viel menschliches Genie eben dieser Menschheit wohl verlorengeht, weil die Personen dahinter in Regionen und/oder unter Umständen leben, die es ihnen unmöglich machen, ihr jeweils individuelles Potenzial auch wirklich abzurufen.

Letztlich vermag auch Rainer Moritz in seinem – trotzdem ansonsten sehr erhellenden – Nachwort zu „Schlafes Bruder“ nicht abschließend zu klären, was es denn genau ist, was die Faszination und den bis heute anhaltenden Erfolg ausmacht. Zwar thematisiert er in diesem Zusammenhang die anhaltende verstörende Wirkung des Buches sowie vielleicht einfach einen gewissen Zeitgeist, den der Autor mit der Veröffentlichung seines Buches getroffen  haben könnte – letztlich wird das allein es aber sicher auch nicht sein.

Vielleicht muss man manchmal aber auch gar nicht so genau benennen können, was die Faszination eines bestimmten Buches ausmacht. Vielleicht genügt es manchmal ja auch, festzustellen, dass eben diese Faszination halt einfach da ist. Und das ist bei „Schlafes Bruder“ zweifellos der Fall. Wer diesen modernen Klassiker also bislang verpasst hat, kann ihn meines Erachtens guten Gewissens nachholen.

Demnächst in diesem Blog: „Hinter verschlossenen Türen“ von Sacha Naspini.

„Tanz, tanz, Revolution“ von Lisa Weeda

Buch: „Tanz, tanz, Revolution“

Autorin: Lisa Weeda

Verlag: Kanon Verlag

Ausgabe: Hardcover, 176 Seiten

Die Autorin: Lisa Weeda wurde 1989 geboren und ist eine niederländisch-ukrainische Schriftstellerin, Drehbuchautorin und Virtual-Reality-Regisseurin. Die Ukraine, das Heimatland ihrer Großmutter, steht oft im Mittelpunkt ihres Werks. (Quelle: Kanon Verlag)

Das Buch: Stell dir vor, du könntest mit deinem Tanz den Krieg beenden.

Es ist die Nacht, in der das Böse ausgetrieben wird. Mit Leichtigkeit hebt Baba Yara den bleichen Mond aus der Schwärze. Dann fängt sie an zu tanzen. Baba Yara wird uns retten! Mit ihrem Tanz kann sie Menschen zum Leben erwecken. Die schlechten Toten, all jene, die zu früh von uns gegangen sind. Wer würde das nicht wollen?
Lisa Weedas Jahrhundertroman »Aleksandra« sorgte für Furore, jetzt legt sie ihr neues Buch »Tanz, tanz, Revolution« vor – ein kühnes Romanexperiment, das uns dazu auffordert, für den Frieden in Bewegung zu bleiben. Denn Tanz kennt keine Sprache, keine Grenzen. (Quelle: Kanon Verlag)

Fazit: Wir befinden uns in einem fiktiven Staat, dessen Nachbarland Besulia gerade Opfer eines Angriffskrieges durch einen Aggressor wird. Und Besulia scheint nicht der einzige Staat der Region zu sein, der entsprechende Erfahrungen machen muss bzw. gemacht hat.

Nach einiger Zeit tauchen in besagtem fiktiven Staat nun plötzlich wie von Geisterhand Leichen auf. Auf Plätzen, in Häusern, überall. Dabei handelt es sich ganz augenscheinlich um Kriegsopfer aus Besulia, von denen aber niemand weiß, wie sie denn nun dahin gekommen sein sollen, wo sie nun eben sind.

Nun besteht aber die Möglichkeit, dass diese Toten nicht für immer tot bleiben müssen. Denn in etwa zu Kriegsausbruch tauchen im Internet Videos der jungen Anna auf, die ihren Followern einen Tanz nach Anleitung ihrer Großmutter Baba Yara beibringt, mit dem die Tanzenden die sogenannten „schlechten Toten“, also Menschen, die zu früh oder aus den falschen Gründen gestorben sind, ins Leben zurückholen können. Immer mehr Menschen machen mit, und in nicht wenigen Fällen funktioniert es auch. Im Laufe der Zeit lässt die Bereitschaft, zu tanzen, jedoch immer weiter nach …

Lisa Weeda teilt ihre Handlung grob in vier Handlungsstränge ein, und erzählt sie rückwärts, beginnend zweieinhalb Jahre nach Kriegsausbruch. Dort begegnen wir Toni, die zusammen mit einem Kollegen in einer Einrichtung arbeitet, die die urplötzlich auftauchenden Kriegstoten aus Besulia einsammelt, aufbewahrt und für eine etwaige Abholung durch Angehörige bereitstellt, denn es sind längst zu viele davon geworden, als dass die stetig kleiner werdende Gruppe an Tanzenden noch groß etwas daran ändern könnte.

Sechs Monate früher treffen wir auf Emma und Sara, in deren Wohnung von jetzt auf gleich eine Leiche aus Besulia auftaucht. Die beiden jungen Frauen haben gänzlich gegensätzliche (Wert-)Vorstellungen davon, wie nun damit umzugehen sei.

Im dritten Abschnitt sind zwei wieder ins Leben geholte Soldaten aus Besulia bei einer Frau untergebracht und müssen sich erst wieder an das Leben als solches gewöhnen.

Und schließlich begegnen wir auch Anna, die mit ihren online gestellten Videos und ihrem Tanz zahllosen Menschen zurück ins Leben geholfen hat.

Mögen die Staaten im Buch auch fiktiv sein, mag die Handlung auch viel mystische und mythologische Anteile haben, so dreht sich in Lisa Weedas „Tanz, tanz, Revolution“ augenscheinlich alles um die Ukraine, ihre Verteidigung gegen den russischen Angriffskrieg und den Umgang der Menschen in anderen Ländern damit. Denn auch in Deutschland setzt sich, so mein Eindruck, nach über zwei Jahren Krieg in der Ukraine eine gewisse „Kriegsmüdigkeit“ ein, von der man sich fragen kann, ob man sich diese oder auch nur die Verwendung des Begriffs überhaupt erlauben kann, wenn die mehr oder weniger einzigen Auswirkungen dieses Krieges in höheren Lebensmittel- und Energiepreisen liegen, während die Menschen, die unmittelbar vom Krieg bedroht sind, täglich um ihr Leben fürchten müssen.

Sei es wie es sei, zumindest halten nach einer recht aktuellen Ipsos-Umfrage 40 Prozent der Deutschen einen Sieg der Ukraine nicht mehr für realistisch, fragen sich insbesondere vor dem Hintergrund des Damoklesschwertes einer weiteren Trump-Präsidentschaft nach der Sinnhaftigkeit einer weiteren Unterstützung der Ukraine und fordern einen nüchternen Blick auf die Situation und die Möglichkeiten, ihrer Herr zu werden, notfalls, indem man eben irgendwas „einfriert“. Auch wenn das nachweislich noch nie wirklich geholfen hat.

Nun ist die Sichtweise auf den Ukrainekrieg, je nachdem, wen man fragt, eine individuelle, und diese zahllosen Sichtweisen kommen anteilig auch in Weedas Buch zum tragen. Etwa, wenn Emma und Sara sich in ihrer Ansicht, wie man mit der plötzlich auftauchenden Leiche in ihrer Wohnung umzugehen habe, diametral entgegenstehen. Während Emma der Meinung ist, ihr doch irgendwie helfen zu müssen, vertritt Sara die Auffassung, dass das alles nicht ihr Krieg sei, die Toten nicht ihre Toten und sie allgemein keine Verantwortung in dieser Hinsicht für auch nur irgendwas trage.

Etwa, wenn Menschen aus Besulia gefragt werden, warum sie zur Beendigung des Krieges denn nicht einfach dazu bereit seien, auf zwei Provinzen zu verzichten …

Etwa, wenn die anfängliche Begeisterung für Annas Tanz und die damit zusammenhängende Bereitschaft zur Unterstützung der Kriegsopfer immer weiter bröckelt.

Weeda animiert nun dazu, in dieser Unterstützung nicht weiter nachzulassen, nicht – um in der Thematik des Buches zu bleiben – mit dem Tanzen aufzuhören. In diesem Zusammenhang stellt der Text, gemessen an seinem überschaubaren Umfang, eine ganze Menge zusätzliche Fragen, der sich die Leserschaft zu stellen hat, beispielsweise der nach (Mit-)Verantwortung, die man persönlich ggf. trägt, insbesondere die für andere Menschen. Unter Umständen solche, die man nicht mal persönlich kennt. Zudem kommen zahlreiche weitere Aspekte wie Kriegstraumata zur Sprache.

Daher wirkt der Text sehr reichhaltig, für die weniger als 200 Seiten und, wenn man sich wirklich auf ihn einlässt, in der Tat recht aufrüttelnd und zum Nachdenken anregend.

Und irgendwann stellt man überrascht fest, dass das Buch bereits an seinem Ende angelangt ist, dass man es aber noch für lange, lange Zeit im Hinterkopf haben wird.

Ich bedanke mich beim Kanon Verlag für die freundliche Übersendung des kostenlosen Rezensionsexemplars. Die Tatsache, dass es sich um ein Rezensionsexemplar handelt, beeinflusst meine Meinung selbstredend nicht.

Demnächst in diesem Blog:

Vielleicht „Schlafes Bruder“, vielleicht „Die Entflammten“ – man wird sehen …

„Bumm!“ von Horst Evers

Buch: „Bumm!“

Autor: Horst Evers

Verlag: Rowohlt

Ausgabe: Taschenbuch, 288 Seiten

Der Autor: Horst Evers, geboren 1967 in der Nähe von Diepholz und dort im ländlichen Niedersachsen aufgewachsen, studierte Germanistik und Publizistik in Berlin. Er jobbte als Taxifahrer und Eilzusteller bei der Post und gründete 1990 zusammen mit Freunden die Textleseshow «Dr. Seltsams Frühschoppen», die bald zur erfolgreichsten Lesebühne der Stadt wurde. Horst Evers erhielt u.a. den Deutschen Kabarettpreis und den Deutschen Kleinkunstpreis. Jeden Sonntag ist er auf radioeins zu hören. Seine Geschichtenbände und Romane sind Bestseller. Horst Evers lebt mit seiner Familie in Berlin. (Quelle: Rowohlt)

Das Buch: Ein Krimiautor wird beschuldigt, seinen Nachbarn mit einem Korkenzieher umgebracht zu haben. Doch er bestreitet die Tat und verdächtigt seine Romanfigur. Die Entführerin achtmonatiger Zwillinge tritt im Fernsehen auf: Sie fordert nicht etwa Lösegeld, sondern verfolgt einen viel größeren Plan … Viel früher, im Berlin des Jahres 1904, muss Kriminalassistent Ernst Gennat, Experte für neuartige Verhörtechniken und Stachelbeertorte, einen rätselhaften «Franzosenrächer» schnappen. Viel später, im Jahr 2043, ermittelt Kommissar Stanislav Pils in einem Mord, der mittels genetisch veränderter Mücken begangen wurde – und muss sich eingestehen, dass Maschinen die liebenswerteren Menschen sind.
Auf den ersten Blick haben diese mysteriösen Verbrechen nichts miteinander zu tun … Doch am Ende steht ein großes Geheimnis, das sie alle miteinander verbindet! (Quelle: Rowohlt)

Fazit: Mit ziemlichem Erstaunen, das durchaus auch in der Nähe von Erschrecken angesiedelt werden kann, habe ich gerade festgestellt, dass es mittlerweile so ungefähr 20 Jahre her sein muss, seit mich eine ganz zauberhafte Person, der an dieser Stelle nochmal dafür gedankt sei, in die Welt des Horst Evers eingeführt hat, indem sie mir „Die Welt ist nicht immer Freitag“ schenkte.

Seitdem habe ich mir zwar nicht jedes, aber doch einige seiner Bücher zu Gemüte geführt, hatte das große Glück, ihn schon einmal live sehen zu dürfen und kann mich immer noch auf geradezu kindliche Art an Sätzen wie “Guten Tag, ich möchte gerne für morgen ein Brot von gestern vorbestellen.” erfreuen.

Und wenn unter den besagten Voraussetzungen dann ein neues Evers-Buch mit dem an Poesie grenzenden Titel „Bumm!“ erscheint, dann ist der Impulskauf praktisch vorprogrammiert.

In Evers neuem Buch mit dem Untertitel „Kriminalgeschichten“ ist exakt drin, was draufsteht. Es sind eine knappe Handvoll Kriminalgeschichten versammelt und es macht zwischendurch gehörig „Bumm!“. Nur dass eben nicht alle Häuser umfallen und alle Kühe und Menschen … – halt, nein, das war „Puff!“ nicht „Bumm!“! Vergesst es.

Zwar hat Evers sich seinen Ruf zunächst mit allerlei humoristischen Kurzgeschichten erschrieben, in den letzten Jahren aber bereits mehrfach einen Ausflug ins Romangenre unternommen, unter anderem mit „Der König von Berlin“ oder „Alles außer irdisch“. „Bumm!“ ist nun ein weiterer dieser Ausflüge ins Romangenre. Dabei ist das gar nicht mal sofort offensichtlich. Denn auf den ersten Blick findet die Leserschaft eben, wie erwähnt, mehrere Kriminalgeschichten überschaubaren Umfangs vor, deren Zusammenhang sich nicht umgehend erschließt.

Den Auftakt macht beispielsweise ein erfolgloser Schriftsteller, der sich plötzlich mit einer Mordanklage konfrontiert sieht und in den Bau wandert. Im Anschluss wechselt die Handlung ins Berlin des Jahres 1904, in dem der zu diesem Zeitpunkt noch als Kriminalassistent tätige Ernst Gennat, der später einer der bekanntesten Kriminalisten in der deutschen Geschichte werden sollte, und der zuweilen liebevoll wegen seines Umfangs „der volle Ernst“ genannt wurde – hach, was haben die Berliner für einen Humor! -, sich auf die Jagd nach einem Mörder machen muss, der unter Zuhilfenahme einer legendären Fechtwaffe Veteranen des Krieges von 1870/71 ins Jenseits befördert.

Zwar bemerkt man recht zeitig, dass sich beispielsweise Namen und Handlungselemente über mehrere Geschichten erstrecken bzw. in mehreren Geschichten wiederfinden, das große Ganze, die rahmengebende Hintergrundgeschichte also, wird jedoch erst zum Ende des Buches in vollem Umfang deutlich. Zwar kann ich nun über das, was Evers‘ Welt im Innersten zusammenhält im Detail wenig sagen, weil dann die Lektüre des Buches für meine gesamte Leserschaft witzlos – pun not intended – wäre, was weder in meinem und erst recht nicht im Interesse von Herrn Evers liegen kann – was ich aber sagen kann, ist, dass diese rahmengebende Hintergrundgeschichte auf irgendwie – wenigstens für mich – überraschende Weise doch tatsächlich überzeugen kann. Sie mag skurril sein, aber sie ist zumindest in sich schlüssig.

Um alle Zusammenhänge zu erfassen, sollte man meines Erachtens das Buch aber mit möglichst wenig Lesepausen bzw. innerhalb eines überschaubaren Zeitraums lesen, was angesichts der gut 280 Seiten aber auch nicht wirklich ein großes Problem darstellen sollte.

Im Ton ist „Bumm!“ phasenweise etwas ernster gehalten als beispielsweise Evers Kurzgeschichten-Bände, was in der Natur der Sache liegt. Über weite Strecken trifft man jedoch auch auf die nonchalante, witzige Erzählweise, die man von ihm gewohnt ist.

Mit „Bumm!“ kommen letztlich also sowohl Krimifreunde als auch Anhänger des Humors auf ihre Kosten. Evers vereint in seinem neuen Buch das Beste zweier Welten. Und das muss ihm erst mal jemand nachmachen.

Aus meiner Sicht ein passender Einstieg in den literarischen Frühling.

Weitere Rezensionen:

Perry-Rhodan.net

Demnächst in diesem Blog: Vielleicht etwas von Andreas Brandhorst, vielleicht auch etwas völlig anderes. Man wird sehen …

„Der Wald“ von Eleanor Catton

Buch: „Der Wald“

Autorin: Eleanor Catton

Verlag: btb

Hardcover: 512 Seiten

Die Autorin: Eleanor Catton erhielt 2013 für ihren Roman »Die Gestirne« den renommierten Booker-Preis. Zuvor erschien ihr Roman »Anatomie des Erwachens«. Als Drehbuchautorin adaptierte sie »Die Gestirne« als TV-Serie und Jane Austens »Emma« als Kinofilm. Geboren in Kanada und aufgewachsen in Neuseeland, lebt sie nun in Cambridge, England. (Quelle: Penguin Random House)

Das Buch: Mira Bunting ist die Gründerin einer Guerilla-Gardening-Gruppe namens Birnam Wood.Das Kollektiv pflanzt und erntet, wo es niemand bemerkt: an Straßenrändern, in vergessenen Parks, vernachlässigten Hinterhöfen. Seit Jahren kämpft die Gruppe darum, Birnam Wood langfristig rentabel zu machen. Dann eröffnet sich eine Möglichkeit: Ein Erdrutsch hat den Pass zu einem Naturschutzgebiet abgeschnitten, die Umweltkatastrophe hat auch eine große, scheinbar verlassene Farm eingeschlossen. Als Mira sich das Grundstück auf eigene Faust ansehen will, wird sie dort von Robert Lemoine überrascht. Der mysteriöse amerikanische Milliardär ist fasziniert von Mira und schlägt ihr vor, das Land zu bewirtschaften. Ein Handel, der Folgen haben wird. Wer ist Lemoine wirklich? Kann die Gruppe ihm vertrauen, während die Ideale von Birnam Wood auf die Probe gestellt werden? Können sie sich selbst trauen? (Quelle: Penguin Random House)

Fazit: Jedes Jahr wurden zuletzt regelmäßig grob so zwischen 60.000 und 70.000 Neuerscheinungen auf den Buchmarkt geworfen. Man sollte meinen, dass das eine ausreichende Menge wäre, um eigentlich immer etwas zu lesen zu haben. Aber wie das nun mal so ist, beschäftigen einen häufig eben gerade die Bücher, die noch nicht erschienen sind, obwohl man sie doch so gerne hätte. Und dass sie noch nicht erschienen sind, liegt in den meisten Fällen daran, dass die Autorinnen und Autoren hinter diesen Büchern teilweise ewig für ihre Werke brauchen und ihre treue Leserschaft dementsprechend lange auf sie warten muss.

Wer beispielsweise gerne wissen würde, wie Patrick Rothfuss‘ „Königsmörder-Chroniken“ ausgehen, weiß, was ich meine. Und die Fans von George R. R. Martin haben aus ihrer Warterei schon längst einen Lifestyle gemacht.

So ähnlich erging es mir beim Warten auf Eleanor Cattons neuen Roman „Der Wald“, der im Original „Birnam Wood“ heißt, was man meinethalben gerne hätte übernehmen können, weil es mehr Sinn ergeben hätte. Sieben Jahre sind nun fast ins Land gegangen, seit ich ihren letzten Roman „Die Gestirne“ gelesen habe, den ich an dieser Stelle nochmals ausdrücklich zur Lektüre empfehle, da mir das Wohlergehen meiner Leserschaft am Herzen liegt. In dieser Zeit hätte Brandon Sanderson die komplette Kongressbibliothek in Washington vollgeschrieben, und sich das Ganze auch noch per Crowdfunding finanzieren lassen.

Sieben Jahre, das waren noch Zeiten. Gut, die Welt musste damals gerade den Beginn der US-Präsidentschaft von Donald Trump ertragen, kannte dafür aber kein Covid, keine „militärische Spezialoperation“ und kein „Die letzten Jedi“. Ja, das waren noch Zeiten.

Sei es drum.

Mit dieser Wartezeit verbunden war unweigerlich, ohne dass ich dagegen hätte viel tun können, auch ein irrationaler Anstieg meiner persönlichen Erwartungen an das Buch – weswegen letztlich nicht überraschen wird, dass „Der Wald“ diese nicht ganz erfüllen kann.

Dabei ist zum Einstieg des Buches erst mal lange Zeit alles gut. Zu Beginn lernen wir Mira Bunting kennen, die vor einigen Jahren die Guerilla-Gardening-Organisation „Birnam Wood“ ins Leben gerufen hat. Mira lebt zusammen mit Shelly, die innerhalb von Birnam Wood für alles Offizielle und Organisatorische zuständig ist, sich aber gerade mit der Idee beschäftigt, Birnam Wood zu verlassen. Und wir begegnen Tony, der vor Jahren ebenfalls Mitglied der Guerilla-Gärtner war, dann aber für den Versuch, eine journalistische Karriere zu starten, Neuseeland verlassen hat – nun aber wieder ganz plötzlich und unangemeldet vor Miras Tür steht.

Und wir bekommen erste Einblicke in Birnam Wood selbst, und merken, dass die Organisation in erster Linie von ihren moralischen Ansprüchen und Idealen lebt, ein so wirklich tragfähiges Konzept, insbesondere wirtschaftlich, aber eigentlich nicht hat.

Das ändert sich schlagartig, als Mira auf Robert Lemoine trifft, einen Milliardär, der sein Vermögen unter anderem mit Drohnen gemacht hat, und der über ein Grundstück verfügt, das er den Guerilla-Gärtnern zu überlassen gedenkt – neben einer erklecklichen Summe Geldes.

Die Aufregung innerhalb von Birnam Wood angesichts diese Angebotes ist jedoch groß. Verkauft man nicht seine Ideale, wenn man gerade das Geld eines solchen Turbokapitalisten annimmt, um die eigenen Ziele zu erreichen? Insbesondere Tony ist von der Idee der Zusammenarbeit mit Lemoine geradezu abgestoßen, wittert aber eine spannende Inside-Job-Story, die ihn berühmt machen soll …

Bis hierhin macht Eleanor Catton tatsächlich ziemlich viel richtig. So verspricht die Story bis zu diesem Zeitpunkt, ein spannender, nun, sagen wir „Öko-Thriller“ mit viel Tempo zu werden, der aktuelle Themen aufgreift und kritisch hinterfragt.

Auch hinsichtlich der Figurendarstellung ist bis hierhin alles gut. Catton gelingt es, auf nur wenigen Seiten die wichtigsten Figuren mit einer umfassenden Hintergrundgeschichte, Überzeugungen und Idealen auszustatten, und die Charaktere damit lebhaft und greifbar zu machen. Als Positivbeispiel sei hier mal Tony erwähnt, der zwar grundsätzlich die Ziele und die meisten politischen Überzeugungen der Mitglieder von Birnam Wood teilt, für den es aber eben auch Grenzen gibt, indem er beispielsweise von sich sagt, dass er Ideologien nicht mag, deren Grundsätze er nicht hinterfragen dürfe, der deshalb die radikale Ausprägung des Feminismus eher als Rache, denn als Versuch, eine vollständige Gleichberechtigung zu erreichen, empfindet, und der kritisiert, dass manche Menschen schon kritisch beäugt werden, weil sie sind, was sie eben sind. Männer beispielsweise. Oder weiß. Oder alt. Oder alte, weiße Männer eben.

Für all das braucht die Autorin nur vergleichsweise wenig Zeilen, und dennoch entsteht vor meinen Augen so bereits das Bild einer vollständigen, nachvollziehbaren Figur. Und so verhält es sich mit den meisten anderen Charakteren ebenfalls. Dass gerade der Milliardär Robert Lemoine irgendwie als eine diabolische Mischung von Elon Musk und Vlad Țepeș gezeichnet wurde, ist zwar schade, fällt aber so sehr dann auch nicht ins Gewicht.

Und auch hinsichtlich des Stils und der äußeren Form ist mein größter Kritikpunkt bis zu diesem Zeitpunkt, dass man auf die Gliederung des Buches in Kapitel von verträglicher Länge zugunsten von seitenweisem Fließtext verzichtet hat, was nach Leiden auf hohem Niveau klingt, weil es das ist.

Leider kann das Buch in den letzten zwei Dritteln die bis dahin aufgebauten Hoffnungen nicht vollends erfüllen.

Das beginnt bei der immer wiederkehrenden Erwähnung der für meine Nachfolgegenerationen möglicherweise relevanten Themen. War es anfangs noch unterhaltsam, die jungen Idealisten bei Diskussionen über Sachverhalte mit mal mehr, mal weniger, mal aus meiner Sicht auch gänzlich ohne Relevanz diskutieren zu sehen, wurde es mit zunehmender Dauer immer ermüdender und ich bekam irgendwann den Eindruck, Mira und Shelley seien als Figuren nur noch dazu da, darüber zu philosophieren, ob es sinnvoller ist, sich für das eigene Zuspätkommen zu entschuldigen oder alternativ den Fokus nicht auf das eigene Fehlverhalten zu richten, und stattdessen dem Gegenüber für die Bereitschaft zu warten zu danken oder ob es wirklich richtig und falsch gibt oder nicht vielmehr nur schwierig und falsch. Oder so.

Das geht bei der Story selbst weiter, die verschiedene Möglichkeiten der Entwicklung geboten und auch den Platz dazu gehabt hätte, wenn man die eben erwähnten Diskussionen von für die Diskutanten offensichtlich weltumspannender Bedeutung ein wenig eingedampft hätte, die sich aber … nun, einfach unspektakulär entwickelt. Was unter anderem daran liegt, dass man als Leser jederzeit klüger als die meisten handelnden Personen ist, man also beispielsweise um die „geheimen“ Machenschaften von Robert Lemoine weiß, die ihn zur Zusammenarbeit mit Birnam Wood bewegen, die Figuren jedoch nicht. Und dass man – ich zumindest – ihm diese Machenschaften, zumindest deren unerkannte Durchführung, irgendwie nicht so richtig abnimmt.

Ich kann leider den Eindruck des Unspektakulären hinsichtlich der Story nicht genauer darlegen, ohne kapital zu spoilern, was ich natürlich für gewöhnlich zu vermeiden versuche. Aber Birnam Wood wäre aus meiner Sicht so etwas wie die perfekte Aufgabe innerhalb eines Kurses für kreatives Schreiben. Wenn man die Teilnehmerinnen und Teilnehmer eines solchen Kurses gebeten hätte, das Buch so etwa ab Seite 150 eigenständig fortzusetzen, wären wahrscheinlich viele unterschiedliche Ideen zutage getreten. Und einige wären vermutlich besser gewesen als Cattons eigene. Konsequenterweise drückt sich die Autorin dann auch vor einem schlüssigen, ausgefeilten und Fragen beantwortendem Ende – worauf ich naturgemäß nun ebenfalls nicht im Detail eingehen kann.

Und so bleibt am Ende Enttäuschung. Enttäuschung darüber, dass aus einer solchen Ausgangslage letztlich doch nur wenig gemacht wurde. Und darüber, lange, wenn auch hoffnungsvoll, wieder auf den nächsten Roman warten zu müssen.

Ich danke dem Bloggerportal und btb für die Übersendung des kostenlosen Rezensionsexemplars. Die Tatsache, dass es sich um ein Rezensionsexemplar handelt, beeinflusst meine Meinung selbstredend nicht.

Weitere Rezensionen:

LiteraturBlog

Demnächst in diesem Blog: Vermutlich Horst Evers …