„Helgoland“ von Carlo Rovelli

Buch: „Helgoland“

Autor: Carlo Rovelli

Verlag: Rowohlt

Ausgabe: Hardcover, 208 Seiten

Der Autor: Carlo Rovelli, geboren 1956 in Verona, ist seit 2000 Professor für Physik an der Universität Marseille. Zuvor forschte und lehrte er unter anderem am Imperial College London, der Universität Rom, der Yale University, an der Universita dell‘ Aquila und an der University of Pittsburgh. 1998/99 war er Forschungsdirektor am Zentrum für Theoretische Physik (CPT) in Luminy. Er hat die italienische und die amerikanische Staatsbürgerschaft Zusammen mit Lee Smolin entwickelte er die Theorie der Schleifenquantengravitation, die international als verheißungsvollste Theorie zur Vereinigung von Einsteins Gravitationstheorie und der Quantentheorie gilt. (Quelle: Rowohlt)

Das Buch: Als der junge deutsche Physiker Werner Heisenberg 1925 auf Helgoland die mathematischen Grundlagen der Quantenmechanik schuf, setzte er einen Prozess in Gang, der Mikrokosmos und Makrokosmos voneinander trennte. Hundert Jahre später verdanken wir der Quantenphysik unser Wissen um die Grundlagen der Chemie, die Funktionsweise der Sonne oder auch unseres Gehirns, sie ist die Basis moderner Hochtechnologie vom Laser bis zum Computer. Und doch gibt sie der Forschung nach wie vor Rätsel über Rätsel auf. (Quelle: Rowohlt)

Fazit: Ich bin – das gebe ich gerne zu – ein in naturwissenschaftlich-mathematischer Hinsicht durchaus unterdurchschnittlich begabter Mensch. Dazu kommt noch, dass die Physik – eigentlich sehr zu meinem Unverständnis, wenn ich das Ganze rückblickend betrachte – die erste Naturwissenschaft war, derer ich mich zu Schulzeiten entledigt habe. Daher war die Lektüre von „Helgoland“ ein mit einer Menge Enthusiasmus, aber überschaubaren Fachkenntnissen angegangener Selbstversuch hinsichtlich der Frage, ob ich mich der Thematik gewachsen sehen würde. Die Antwort ist ein klares, definitives „jein“.

Rovelli skizziert zu Beginn die Situation in der Physik zum Zeitpunkt von Heisenbergs Helgoland-Aufenthalt. Berühmte Physiker wie Max Planck oder Albert Einstein hatten auf dem Gebiet der Quantenphysik bereits wertvolle Vorarbeit geleistet, als Niels Bohr im Jahr 1913 sein Atommodell entwarf. dem allerdings zu eigen war, dass für die darin agenommenen stabilen Kreisbahnen, die Elektronen um den Atomkern ziehen sollten, die Gültigkeit diverser Bereiche der klassischen Physik über Bord geworfen werden mussten.

Heisenberg nun warf seinerseits die stabilen Kreisbahnen über Bord und stützte seine Forschung nicht auf Annahmen, sondern ausschließlich auf Beobachtungen. Unter Zuhilfenahme von Matrizenrechnung gelingt es ihm schließlich, das Verhalten atomarer Bestandteile zuverlässig zu berechnen. In der Folge gelangt er unter anderem zu der Erkenntnis – später „Heisenbergsche Unschärfterelation“ genannt -, dass es nicht möglich ist, zwei Eigenschaften eines Elektrons gleichzeitig zuverlässig zu bestimmen. Man kann zwar beispielsweise entweder den Ort oder die Geschwindigkeit eines Elektrons im Detail berechnen, aber nicht beides gleichzeitig. Und es macht durchaus einen Unterschied, ob ich zuerst die Geschwindigkeit oder zuerst den Ort messen möchte, denn wenn ich zuerst die Geschwindigkeit bestimme, wird das Elektron sich bei der Messung des Orts eben schon an einem völlig anderen befinden, als wenn ich die Messreihenfolge umgedreht hätte.

Nun könnte ich noch auf Dinge wie Superpositionen eingehen, in denen sich etwas bis zum Zeitpunkt der Beobachtung theoretisch in zwei verschiedenen Zuständen befinden könnte – Schrödingers vielzitierte Katze ist hierzu ein populäres Beispiel -, auf Verschränkungen und vielerlei anderes – allerdings hat, wer bis hier gelesen hat, ohnehin schon meinen höchsten Respekt, weswegen ich guten Gewissens darauf verzichte.

Und auch der Autor selbst kommt irgendwann weg von den physikalischen Fakten und wendet sich eher philosophischen Fragen zu. Er thematisiert nicht nur das menschliche Bewusstsein, sondern insgesamt die Frage, ob wir hinsichtlich der Eigenschaften von Dingen überhaupt in irgendeiner Weise Gewissheit erlangen können, wenn etwas doch nur im Moment seiner Betrachtung – mehr noch: gerade durch die Betrachtung! – bestimmte Eigenschaften aufweist und ohnehin alles von Wechselwirkungen untereinander abhängig ist. 

Insbesondere diese Unbestimmtheit der Quantenmechanik, in der es lediglich um Beobachtungen und Wahrscheinlichkeiten geht, war es angeblich auch, die den eingangs erwähnten Albert Einstein zu seinem Ausspruch animiert haben soll, dass Gott nicht würfele. Daraufhin erwiderte Niels Bohr übrigens seinerzeit: „Es kann doch nicht unsere Aufgabe sein, Gott vorzuschreiben, wie er die Welt regieren soll.“ Darin liegt viel Weisheit, wie ich finde.

Jahrzehnte später sagte Stephen Hawking zu Einsteins Ausspruch übrigens: „Gott würfelt doch, nur wirft er die Würfel mitunter dorthin, wo man sie nicht sehen kann.“

Und so hatte ich zum Ende des Buches den Eindruck, den einen oder anderen inhaltlichen Würfel, den Rovelli geworfen hat, nicht so ganz gefunden zu haben. Was aber letztlich bleibt, was aber unweigerlich im voranstehenden, trockenen Text so gar nicht transportiert werden konnte, ist, dass „Helgoland“ auch für Physik-Laien eine faszinierende Lektüre bietet, bei der es gar nicht so entscheidend ist, ob man die physikalischen Fakten nun bis ins Detail nachvollziehen kann, sondern die auch abseits davon faszinierende Denkanstöße bietet, die mich länger beschäftigen werden.

Dabei fällt mir gerade ein: Woher weiß ich eigentlich, dass voranstehender Text so trocken ist und dass keinerlei Faszination transportiert werden konnte? Genaugenommen gilt das nur für den Augenblick eurer Lektüre, für die Beobachtung des Textes also. Es mag sein, dass eine neuerliche Lektüre – morgen, übermorgen, am besten fürderhin einmal täglich für alle Zeiten – ein ganz anderes Ergebnis bringt!?

Ich danke dem Rowohlt Verlag für die freundliche Übersendung des Rezensionsexemplars. Die Tatsache, dass es sich um ein Rezensionsexemplar handelt, beeindlusst meine Meinung selbstredend nicht.

Demnächst in diesem Blog: „Amerikas Gotteskrieger“ von Annika Brockschmidt.

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„Die Reise ins Reich“ von Tobias Ginsburg

Buch: „Die Reise ins Reich“

Autor: Tobias Ginsburg

Verlag: Rowohlt

Ausgabe: Taschenbuch, 320 Seiten

Der Autor: Tobias Ginsburg, Jahrgang 1986, ist Autor und Regisseur. Er studierte Dramaturgie, Literaturwissenschaft und Philosophie. 2016 war er Fellow des Hanse-Wissenschaftskollegs, 2020 erhielt er das Grenzgänger-Stipendium der Robert-Bosch-Stiftung. (Quelle: Rowohlt)

Das Buch: Acht Monate lang tauchte Tobias Ginsburg inkognito in die Szene der «Reichsbürger» und rechten Verschwörungstheoretiker ein. Er baute sich eine Scheinidentität im Netz auf und bewegte sich unter AfD-Politikern, gewaltbereiten Neonazis und friedensbewegten Esoterikern in Braun, Sektierern und Systemumstürzlern. Sein Buch ist ein ebenso erschütternder wie komischer Streifzug durch eine Welt böser Verführer und verführter Irregeleiteter, das zugleich einen neuen, literarischen Ton in die investigative Reportage einführt. Ein ungewöhnliches Enthüllungsbuch. Es erscheint hier in einer aktualisierten, überarbeiteten und um neue Kapitel erweiterten Fassung. (Quelle: Rowohlt)

Fazit: Ob man sein Vergnügen mit der Lektüre von „Die Reise ins Reich“ hat, hängt – so viel sei eingangs schon verraten – maßgeblich davon ab, was man sich von dem Buch erwartet. Erwartet man neue, revolutionäre sozial- oder politikwissenschaftliche Erkenntnisse zur Reichsbürgerszene, zu Neonazis oder sonstigen Geistesgestörten, wird man vielleicht enttäuscht sein. Wenn man das Buch aber als das betrachtet, was es ist, nämlich eine Art Sachbuch-Erfahrungsbericht-Hybrid, dann wird man schon sehr viel eher seine Freude damit haben. Ein aus meiner Sicht wichtiges Buch ist es jedoch in jedem Fall.

Denn es ist noch gar nicht so lange her, da wurden die sogenannten „Reichsbürger“ eher milde belächelt. Dass es hierbei allerdings eigentlich eher weniger zum Lächeln gibt, das arbeitet Ginsburg in seinem Buch heraus.

Seine „Reise ins Reich“ beginnt der Autor mit der Ausarbeitung eines Alter Ego. Er erstellt Facebook-Account und Website für den fiktiven Journalisten Tobias Patera und unternimmt mit der dadurch aufgebauten Glaubwürdigkeit einen Kopfsprung in den braunen Sumpf. Dieser führt ihn zuerst ins „Königreich Deutschland“, einen Fantasiestaat unter Leitung des „Königs“ Peter Fitzek – einer großen Nummer in der Reichsbürgerszene – der allerdings zum Zeitpunkt von Ginsburgs Eintreffen leider gerade im Gefängnis weilt … Vor Ort kommt Ginsburg mit vielen Menschen ins Gespräch, lernt ihre Lebensgeschichten und Hintergründe kennen. Und  bereits hier kommt eine große Stärke des Buches zum Tragen. Denn während es ein Leichtes wäre, all diese Menschen als Verrückte abzustempeln – was ich, der ich weniger gnädig als der Autor bin, geneigt wäre, zu tun -, setzt Ginsburg eben den Fokus auf den Menschen hinter dem „Verrückten“, begibt sich mit ihnen auf Augenhöhe und versucht, herauszufinden, wodurch sie in ihre Parallelwelt abgedriftet sind. Er mag ihre Weltanschauung verdammen, aber er macht sich nicht über sie lustig – was ich wiederum, da ich weniger gnädig als der Autor bin, zu tun geneigt wäre.

In der Folge wendet sich der Autor dann dem Bereich der Esoterik zu. Einem Themenfeld, deren Anhängern ich noch wesentlich weniger gnädig … sei´s drum. Hier zeigt sich dann, dass bemerkenswert viele Anhänger der Esoterik auch diversen Verschwörungserzählungen gegenüber nicht abgeneigt sind. Nun mag diese Erkenntnis nicht unbedingt neu sein, schon im letzten Jahr sagte die Sozialpsychologin Pia Lamberty im Deutschlandfunk,  „dass ähnliche Faktoren den Glauben an esoterische Welterklärungsmodelle befeuern wie auch Verschwörungserzählungen.“ Dennoch war es erfrischend entlarvend zu lesen, wie Menschen, die ihren eigentlichen Unfug mit schon fast chakraler Hingabe vehement verteidigen, auch anfällig für anderen Unfug jedweder Couleur sind.

Natürlich setzt sich die Reichsbürgerszene nicht nur aus gescheiterten Existenzen und gutgläubigen Spinnern zusammen, nein, auch entschiedene Unsympathen sind darunter. Und auf seiner Reise in den braunen Sumpf begibt sich Ginsburg auch in Kontakt mit eben diesen:

Er lernt Ernst Köwing kennen, den „Honigmann“, der in seinem Blog bis zu seinem Tod im Jahr 2018 allerlei fragwürdiges Zeug von sich gab und isst mit ihme Kuchen, ohne ihn, den Kuchen, zweckzuentfremden, was mir einmal mehr Respekt abnötigt.

Er nimmt an konspirativen Treffen allerlei Grupierungen, von strammen Neonazis bis hin zum Verein „Weltfrieden global“ – denkt über den Namen mal eine Sekunde nach … – teil und findet sich immer weiter in seine Rolle als „Systemkritiker“ ein.

Er landet schließlich auch im Umfeld von Jörg Elsässer, dem Mitherausgeber des seit 2020 vom Verfassungsschutz als sogenannten Verdachtsfall eingestuften „Compact“-Magazins. Ein Machwerk, das in einem aktuellen Meinungsartikel Björn „Landolf Ladig“ Höcke als „Hoffnungsträger“ bezeichnet – ein erwiesener Faschist als „Hoffnungsträger“! – und im selben Artikel ausführt: „Je mehr Moslems das Wahlrecht erhalten, desto stärker werden sie die Zusammensetzung der Parlamente bestimmen.“ Ein Machwerk, das derzeit behauptet: „Die Gewalt gegen Querdenker und Impfskeptiker ist längst in vollem Gange: das Zusammenschlagen von Corona-kritischen Demonstranten durch Polizei findet unter lautem Jubel der Mainstream-Faschisten statt.“ Ein Machwerk, von dem monatlich angeblich etwa 40.000 Exemplare abgesetzt werden Ich weiß nicht, was es da seitens des Verfassungsschutzes nur zu „verdächtigen“ gilt, aber was solls.

Spätestens beim Elsässer überkommt den Leser dann so eine diffuse Übelkeit, die man bis zum Ende der Lektüre auch nicht mehr los wird. Zumal Ginsburg deutlich klarstellt, dass eine Gefahr für die Demokratie nicht nur von der AfD – die paradoxerweise in Parlamenten sitzt, die sie am  liebsten auflösen würde – oder von strammen Neonazis ausgeht, sondern dass die Menge an unterschiedlichen Gruppierungen, denen allen gemein ist, dass sie die Demokratie offensichtlich für eine dumme Idee halten, schier unüberschaubar ist. Das wiederum mag ein Glücksfall sein, weil es dieser Querfront schwieriger macht, sich zu einer einheitlichen Gruppe mit einheitlichen Zielen zusammenzufinden. Aber schön ist anders.

Die Schilderung all dessen gelingt Tobias Ginsburg auf eine trocken-humorvolle Art und Weise, die mich beeindruckt, und die allerdings vielleicht auch notwendig ist, um all die menschenfeindliche Schwurbelei, die da in den „Hass-Maufakturen“ (O-Ton Ginsburg“) entwickelt wird, zu ertragen, ohne sich vor Seite 320 zu übergeben.

Und auch sonst ist Humor im Leben nicht verkehrt, manche Dinge muss man mit Humor betrachten. So veröffentlichte die ansonsten nicht unbedingt für ihre Weltoffenheit bekannte „Welt am Sonntag“ unlängst eine Statistik, nach der etwa 1.500 als mutmaßliche Rechtsextremisten eingestufte Personen in diesem Land im Besitz einer Schusswaffe sind und erlaubte sich dabei den Scherz einer Unterteilung zwischen „Rechtsextremisten“ einerseits und „Reichsbürgern“ andererseits. Was beide sichtbar voneinander unterscheidet, weiß offensichtlich nur die „Welt am Sonntag“ allein. Ein Nebenaspekt der Statistik war übrigens, dass der Anteil an Rechtsextremisten mit Waffen mit 443 in Mecklenburg-Vorpommern ganz besonders groß ist. Nun, vermutlich sieht man sich dort gezwungen, sich mit der Waffe gegen die ungebremste Zuwand…, nein, warte, Mecklenburg-Vorpommern hat den geringsten Ausländeranteil aller Bundesländer …

Nun, wie auch immer, letztlich bietet „Reise ins Reich“ ein ob der Thematik schon fast unangemessen vergnügliches Leseerlebnis, zu dem ich allen nur raten kann. Auch wenn die Erkenntnis für mich letztlich die bleibt, die ich schon vorher hatte, nämlich, dass wir in einem Land leben, dass zu nennenswerten Teilen von Idioten bevölkert wird.

Ich danke dem Rowohlt Verlag für die freundliche Übersendung des Rezensionsexemplars. Die Tatsache, dass es sich um ein kostenloses Rezensionsexemplar handelt, beeinflusst meine Meinung selbstredend nicht.

Demnächst in diesem Blog: „Helgoland“ von Carlo Rovelli

 

„Terra Alta“ von Javier Cercas

Buch: Terra Alta

Autor: Javier Cercas

Verlag: Fischer

Ausgabe: Hardcover, 448 Seiten

Der Autor: Javier Cercas, geboren 1962 in Ibahernando in der spanischen Extremadura, lebt als Schriftsteller, Publizist und Universitätsdozent in Girona. Mit seinem Roman »Soldaten von Salamis« wurde er international bekannt. Heute ist sein Werk in mehr als 30 Sprachen übersetzt. Für »Der falsche Überlebende« (S. Fischer 2017), erhielt er u.a. den Prix du livre européen 2016 und den chinesischen Taofen-Preis 2015 für das beste ausländische Buch. Für seinen zuletzt erschienenen Roman »Terra Alta« wurde er mit dem Premio Planeta 2019 ausgezeichnet. (Quelle: Fischer)

Das Buch: Er ist der Sohn einer Prostituierten, sein Zuhause ist die Unterwelt Barcelonas. Melchor Marín arbeitet für ein Drogenkartell und wird bei einer Razzia festgenommen. Als er im Gefängnis von der Ermordung seiner Mutter erfährt, beschließt er, nach dem Absitzen der Strafe Polizist zu werden.
Jahre später ist Melchor als bewährter Polizist in der kargen Landschaft der Terra Alta im Einsatz, wo er mit Frau und Tochter ein ruhiges Leben führt. Aber dann erschüttert ein Verbrechen die Region, ein altes Unternehmerpaar wird grausam ermordet. Ein brutaler Raubüberfall? Eine alte Fehde? Als das Kommissariat den Fall ungelöst abschließt, ermittelt Melchor auf eigene Faust. (Quelle: Fischer)

Fazit: Um ehrlich zu sein: Javier Cercas hatte mich als Leser seines Romans „Terra Alta“ schon fast verloren, noch ehe er, der Roman, so recht begonnen hat. Ziemlich zu Beginn des Buches wird Melchor Marín, Polizist und Protagonist der Geschichte, an den Schauplatz eines Verbrechens gerufen. Und der könnte blutiger nicht sein.Gleiches gilt für die Beschreibung der Situation. Von Aufschlitzen und Ausweiden ist da die Rede, von ausgerissenen Fingernägeln, Augen, Zähnen, von abgeschnittenen … lassen wir das. Irritiert sehe ich mir nochmal das Cover an und denke mir: „Nein, da steht nicht Quentin Tarantino. Hm, wenn das so weitergeht …“

Glücklicherweise tut es das nicht, denn die zugegebenermaßen allzu brutale Schilderung der Szenerie ist ausgesprochen kurz, kann bei Bedarf auch übersprungen werden und ist zudem der einzige Moment, an dem es der Autor ein wenig übertreibt. Nun mag man einen solchen Einstieg als ungünstiges Timing erachten, mit dem man Leser wie mich für gewöhnlich recht zuverlässig abschrecken und von der Fortsetzung der Lektüre abhalten kann, aber ich kann die versammelte Leserschaft beruhigen, denn: Hinter diesem Einstieg verbirgt sich ein durchaus lesenswerter Roman.

Darüber hinaus ergibt der Bucheinstieg durchaus Sinn, denn auf diese Weise wird deutlich: Das ermordete Unternehmerehepaar wurde nicht einfach „nur“ ermordet, sie wurden gequält und gefoltert. Und Marín stellt sich völlig berechtigt die Frage, welcher Mensch um Himmels Willen so etwas tut. Daher beschließt er, nachdem die Polizei den Fall nach einiger Zeit ungelöst zu den Akten legt, weiter auf eigene Faust zu ermitteln.

Dabei stellt sich für den Leser in der Folge heraus, dass „Terra Alta“ mitnichten ein einfacher Kriminalroman mit unnötig blutigem Einsteig ist, es ist vielmehr eine Charakterstudie, in deren Mittelpunkt voll und ganz der Protagonist Melchor Marín steht. Selbst unter widrigen Bedingungen aufgewachsen, ohne genaue Kenntnis über seinen eigenen Vater, früh kriminell geworden und ebenso früh ins Gefängnis gekommen, beschließt er, nach seiner Entlassung die Seiten zu wechseln und Polizist zu werden. Aufgrund einer Verkettung von Ereignissen steht er nach einiger Zeit extrem im Licht der Öffentlichkeit und wird, um ihn aus eben diesem öffentlichen Fokus zu entfernen, ins ländliche Terra Alta versetzt. In eine Gegend, in der eigentlich nie etwas passiert. Wenn nicht gerade ein Industriellenehepaar ermordet wird, versteht sich.

An diesem Protagonisten werden sich vermutlich die Geister der Leserschaft scheiden. Cercas widmet sich ihm in zahlreichen Rückblicken in einem Detailreichtum, der mit persönlich sehr gut gefiel, weil er Melchor für mich greifbarer und verständlicher machte, der vielen aber auch eben einfach zu viel sein könnte. Maríns fast schon manische Begeisterung für Victor Hugos Roman „Les Misérables“ beispielsweise wirkt irgendwann ob der häufigen Erwähnung irgendwie aufgesetzt, obwohl sie durchaus Sinn ergibt und man Parallelen entdecken kann, wenn man Hugos Roman kennt. Und von seiner Art her erinnerte der Protagonist mich manchmal irgendwie an eine eher unterkühlte Version von Lorenzo Lamas in „Renegade“. Insgesamt betrachtet ist Marín aber ein durchaus als vielschichtig zu bezeichnender Charakter, dessen Weg weiter zu verfolgen mir Freude machen wird, denn im Sommer kommt Teil zwei von Cercas Romanreihe heraus.

Auch wenn man sich weniger dem Protagonisten, sondern eher der Krimigeschichte zuwenden will, kommt man auf seine Kosten. Nachdem die Polizei die Ermittlungen offiziell eingestellt hat, führt Marín sie auf eigene Faust fort. Anders als in unzähligen anderen Romanen mit ähnlich gelagerten Ermittlerfiguren pflügt er sich aber eben in der Folge nicht als unschlagbare Ein-Mann-Armee durch den Roman, sondern trifft durchaus auf Schwierigkeiten. So bleiben seine Ermittlungen beispielsweise von Kollegen und Vorgesetzten natürlich nicht unbemerkt. Zudem scheinen sich einige Menschen durch seine Fragerei auf die Füße getreten zu fühlen und machen es dem Polizisten zunehmend ungemütlich.

Insgesamt liegen die Stärken des Romans einerseits deutlich im Bereich der Handlung und der Figuren, dafür weniger im stilistischen. „Terra Alta“ ist nicht sonderlich komplex geschrieben, was der Lesbarkeit natürlich zuträglich ist, andererseits aber irritiert und schade ist, wenn man berücksichtigt, dass es ein Roman ist, der sich inhaltlich – nicht nur am Beispiel „Les Misérables“ – unter anderem mit der Macht von Büchern beschäftigt.

Letztlich ist „Terra Alta“ ein sehr gelungener Roman, der sich hinter der eigentlichen Handlungsebene mit der Frage beschäftigt, inwieweit es legitim ist, selbst Rache zu üben, wenn die staatliche Gewalt – aus welchen Gründen auch immer – nicht willens oder in der Lage ist, für Gerechtigkeit zu sorgen. Die Frage muss jeder für sich selbst beantworten.Oder aber „Terra Alta“ lesen.

Ich danke dem Fischer Verlag für die freundliche Zusendung des Rezensionsexemplars. Die Tatsache, dass es sich hierbei um ein kostenloses Rezensionsexemplar handelt, beeinflusst meine Meinung selbstredend nicht.

Demnächst in diesem Blog: „Die Reise ins Reich“ von Tobias Ginsburg. Dauert vielleicht noch ein bisschen.

„Der Sucher“ von Tana French

Buch: „Der Sucher“

Autorin: Tana French

Verlag: Fischer

Ausgabe: Hardcover, 496 Seiten

Die Autorin:»Meisterhaft, wie Tana French Stimmungen einfängt und geniale Plots konstruiert«​, sagt die​ Washington Post​ über Tana French. ​Mit ihrer eindrücklichen Sprache zeichnet die irische Autorin ​markante Gesellschaftsporträts und schaut tief in die Seelen der Menschen. Tana French wurde für ihr Werk vielfach ausgezeichnet; ihre Romane stehen weltweit auf den Bestsellerlisten. Sie wuchs in Irland, Italien und Malawi auf, absolvierte eine Schauspielausbildung am Trinity College und arbeitete für Theater, Film und Fernsehen. ​Tana French lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern im nördlichen Teil von Dublin. (Quelle: Fischer)

Das Buch: Cal Hooper, ehemaliger Cop aus Chicago, hat sich in den Westen von Irland geflüchtet. Die Natur scheint friedlich, im Dorf nimmt man ihn freundlich auf. Da springt sein langjährig trainierter innerer Alarm an: Er wird beobachtet. Immer wieder taucht ein Kind bei ihm auf. Auf den umliegenden Farmen kommen auf seltsame Weise Tiere zu Tode. Stück für Stück gerät Cal in eine Suche, die ihn tief in die Dunkelheit führt. (Quelle: Fischer)

Fazit: Zu den wenigen zuverlässigen Gewissheiten im Leben gehört neben regelmäßig wiederkehrenden Meisterschaften des FC Bayern München auch die, dass Tana French ebenfalls regelmäßig, wenn auch in größeren Intervallen, einen ausgesprochen lesenswerten Roman auf den anderen folgen lässt lässt. Gut, zwischenzeitlich fremdelte ich ein bisschen mit „Gefrorener Schrei“, dem Abschluss ihrer Dublin-Reihe, aber spätestens mit ihrem aktuellen Roman „Der Sucher“ hat sie mich wieder ins Boot geholt.

Protagonist des Romans ist Cal Cooper, der aus recht trifftigen Gründen seinen Job als Polizist in Chicago drangegeben sowie all sein Hab und Gut versetzt hat, um in die Einöde des ländlichen Irlands überzusiedeln. Dort möchte Cal sich sich neu einleben, angeln, die Stille und Abgeschiedenheit genießen, regelmäßig mit seiner schon erwachsenen Tochter telefonieren und ansonsten eigentlich nur in Ruhe gelassen werden. Leider funktioniert das nicht so wirklich gut, denn Cal merkt, dass er beobachtet wird. Und tatsächlich steht irgendwann Trey vor der Tür, ein etwa zwölf Jahre alter Rotzlöffel, der auf den ersten Blick den Eindruck vermittelt, in nicht gerade gefestigten Verhältnissen aufzuwachsen. Langsam fassen der Ex-Polizist und das Kind Vertrauen zueinander und so erfährt Cal den Grund für die das Beobachten und Nachstellen: Treys Bruder Brendan ist verschwunden und da sich längst durchgeschwiegen hat, dass es sich bei dem neu Zugezogenen um einen Ex-Polizisten handelt, fordert Trey von Cal, seinen Bruder auszuspüren und zurückzubringen. Ungeachtet der Tatsache, dass Cal eigentlich wirklich liebend gerne nur in Ruhe gelassen werden würde, erklärt er sich – im sicheren Glauben, Brendan sei einfach nur ausgerissen – bereit, Trey zu helfen.

Die sich daraus entwickelnde Krimihandlung bildet, wie man es aus Tana Frenchs Romanen gewöhnt ist, nicht unbedingt das Zentrum des Buches. Nicht umsonst urteilt die „New York Times“ über die Autorin, sie schreibe „große Romane, in denen auch Verbrechen geschehen.“ Und exakt so verhält es sich auch. Die Krimihandlung geht dabei zwar weit über bloßes Beiwerk hinaus, weiß für sich allein also zu überzeugen, aber im Grunde genommen geht es in Frenchs Romanen häufig um das, was nicht unmittelbar Bestandteil der Krimihandlung ist.

Im vorliegenden Fall hat die Autorin daher in erster Linie ein Buch über das ländliche Irland geschrieben, über die Sorgen und Nöte, mit denen man sich dort befassen muss. Über das Wesen der Bevölkerung, die – zumindest im geschilderten Ort – eher eine Art Wagenburgmentalität hinsichtlich bestimmter Ereignisse bilden und sich wünschen, der Neuzugang würde aufhören, so viele Fragen zu stellen, während es hierzulande ja zielsicher gelingt, immer wenn etwas wirklich Schlimmes passiert ist, mindestens einen mitteilsamen Nachbarn vor die Mikros zu schleppen, der dann kundtut, dass er eigentlich nichts weiß und niemanden kennt, sich aber trotzdem nie habe vorstellen können, dass so etwas Schlimmes gerade dort usw. Darüber hinaus widmet sie sich Themen wie sozialer Ausgrenzung von Menschen, die vermeintlich nicht ins Raster passen und ähnlichen Dingen. Das Gesamtbild, das die Autorin aus diesen vielfältigen Thematiken und Eindrücken macht, ist ein ausgesprochen stimmiges.

Stimmig ist auch, wie fast schon gewöhnt, Tana Frenchs Sprache. Sei es die zwischenzeitlich immer bedrohlicher werdende Atmosphäre in Cals neuem Wohnort, sei es die Beschreibung der rauen, wilden Natur, der gefühlt unendlichen Weite in einem gleichzeitig doch vergleichsweise kleinen Land – für all das findet sie die richtigen Worte. Selbst für den unwahrscheinlichen Fall, dass man inhaltlich mit dem Buch also wenig anfangen können sollte, bleibt dennoch ein in stilistischer Hinsicht mehr als überzeugendes Lesevergnügen.

Zudem wird der Roman durch eine Reihe merk- bis denkwürdiger Charaktere bevölkert, die schlicht gut im Gedächtnis bleiben. Sei es Cals Nachbar Mart, mit dem er sich gerne mal auf ein Schwätzchen trifft und dem er auch aus dem Dorfladen seine Lieblingskekse mitbringt, nachdem sich Noreen, die Inhaberin eben dieses Dorfladens, weigert, Mart diese direkt zu verkaufen, „weil es in den 1980ern zwischen ihren Onkeln und Marts Vater einen komplizierten Konflikt wegen Weiderechten gab.“ (S.13) – man kennt das … Sei es aber auch besagte Noreen selbst, die eine Art Epizentrum des Dorfklatschs darstellt, und beharrlich versucht, Cal mit ihrer Schwester Helena zu verkuppeln. Zudem ist Cal ein überzeugender Protagonist, der allenfalls vielleicht gelegentlich schon fast ein bisschen zu tugendhaft erscheint.

Alles in allem bleibt so ein mehr als lesenswerter Roman, in dem auch Verbrechen geschehen. Einer, der Tana-French-Fans mit Sicherheit glücklich machen wird, den ich aber auch allen anderen aufs Wärmste empfehlen kann.

Ich danke dem Fischer-Verlag für die freundliche Übersendung des Rezensionsexemplars. Dass es sich hierbei um ein kostenloses Rezensionsexemplar handelte, beeinflusst meine Meinung selbstredend nicht.

Demnächst in diesem Blog: „Terra Alta“ von Javier Cercas