Buch: „Die Bäume“
Autor: Percival Everett
Verlag: Hanser
Ausgabe: Hardcover, 368 Seiten
Der Autor: Percival Everett, geboren 1956 in Fort Gordon/Georgia, ist Schriftsteller und Professor für Englisch an der University of Southern California. Er hat bereits mehr als dreißig Romane veröffentlicht. Für sein Werk wurde er mit zahlreichen Preisen geehrt, u. a. mit dem PEN Center USA Award for Fiction, dem Academy Award for Literature der American Academy of Arts and Letters und dem PEN/Jean Stein Book Award. Auf Deutsch erschienen bislang „Ausradiert“ (2008), „God‘s Country“ (2014) und „Ich bin Nicht Sidney Poitier“ (2014). Bei Hanser erschienen zuletzt die Romane „Erschütterung“ (2022) und „Die Bäume“ (2023). (Quelle: Hanser)
Das Buch: USA, Anfang des 21. Jahrhunderts: Im Städtchen Money in den Südstaaten werden mehrere Männer ermordet: meist dick, doof und weiß. Neben jeder Leiche taucht ein Körper auf, der die Züge von Emmett Till trägt, eines 1955 gelynchten schwarzen Jungen. Zwei afroamerikanische Detektive ermitteln, doch der Sheriff sowie eine Gruppe hartnäckiger Rednecks setzen ihnen erbitterten Widerstand entgegen. Als sich die Morde auf ganz Amerika ausweiten, suchen die Detektive des Rätsels Lösung in den Archiven von Mama Z, die seit Jahrzehnten Buch führt über die Opfer der Lynchjustiz in Money. (Quelle: Hanser)
Fazit: In Percival Everetts neuem Roman „Die Bäume“ verschlägt es die Leserschaft ins kleine Örtchen Money in Mississippi. In den einleitenden Sätzen des Buches heißt es über den Ort:
„Money, Mississippi, sieht genau so aus, wie es sich anhört. Hervorgegangen aus jener hartnäckigen Südstaatentradition von
Ironie im Verein mit der dazugehörigen Tradition von Unwissenheit, bekommt der Name etwas leicht Trauriges, wird zum
Kennzeichen befangener Ignoranz, die man sich ebenso gut zu eigen machen kann, denn, mal ganz ehrlich, sie wird nicht weggehen. (S.11)
Und ich muss zugegeben, dass mich ein Autor mit einem Buchbeginn selten so schnell am Haken hatte, wie Everett mit den genannten Eingangssätzen. Von diesem Haken hat er mich dann bis zum Ende nicht mehr gelassen, sodass ich „Die Bäume“ in einem Rutsch an einem der derzeit noch spärlich verteilten Sonnentage des Jahres durchgelesen habe.
Und Sonne zur Lektüre kann vielleicht nicht schaden, denn das eigentliche Thema des Buches ist ein ziemlich ernstes: In Money werden auf ziemlich blutig-brutale Weise Menschen umgebracht. Am Tatort findet man aber nicht nur das jeweilige Mordopfer, sondern auch einen toten Afroamerikaner, der die Züge von Emmett Hill trägt.
Emmett Hill, damals 14 Jahre alt, wurde im Jahr 1955 in Money, Mississippi, Opfer eines Lynchmords. Ursprünglich nur in der Stadt, um seinen Onkel zu besuchen, betrat der Junge das Lebensmittelgeschäft von Roy und Carolyn Bryant. Besagte Carolyn Bryant brachte kurz darauf gegen Till die Anschuldigung vor, er habe sie an die Taille gefasst und sich ihr gegenüber unsittlich geäußert.
Wenige Tage später stand Roy Bryant, zusammen mit seinem Halbbruder, vor der Tür von Emmett Tills Onkel und forderte die Herausgabe von Emmett. Als diese Forderung verweigerte wurde, schlugen beide Emmetts Onkel und dessen Frau nieder und verschleppten Emmett. Wiederum einige Tage später wurde der Leichnam des Jungen im Tallahatchie River treibend gefunden, in den man ihn mit einem mit Stacheldraht um den Hals gewickelten Gewicht und einer Schusswunde im Kopf, aber offensichtlich noch lebend, wie die Gerichtsmedizin später herausfand, geworfen hatte.
Roy Bryant und sein Halbbruder John William Milam wurden vor Gericht gestellt, wo die ausschließlich aus Weißen zusammengestellte Jury ganze 67 Minuten Beratungszeit brauchte, um die beiden Angeklagten in allen Anklagepunkten für nicht schuldig zu erklären. Wenige Monate später weigerte sich Rosa Parks, ihren Sitzplatz im Bus für einen weißen Fahrgast zu räumen. Beide Fälle gelten als ausschlaggebend für den Beginn der schwarzen Bürgerrechtsbewegung.
Im Money des 21. Jahrhunderts gehen die Morde indes weiter. Dabei verschwindet der am ersten Tatort gefundene tote Afroamerikaner auf wundersame Weise und taucht dafür, nicht minder wundersam, am nächsten Tatort wieder auf. Und später erneut. Nicht nur die vor Ort ermittelnden Polizisten können sich keinen Reim darauf machen, weswegen letztlich das FBI auf den Plan gerufen wird. Dieses schickt zwei Detektive – nur handelt es sich dabei um Afroamerikaner, was für die rassistischen Rednecks in Money – und auch für die, die überhaupt nicht für sich in Anspruch nehmen würden, Rassist zu sein – irgendwo zwischen massiver Herausforderung und Affront liegt.
Der Weg der Bundesbeamten führt sie irgendwann zu Mama Z, die nicht nur alles über jeden im Ort zu wissen scheint, sondern auch ein Archiv über alle Lynchmorde in der Geschichte der USA führt. Und das sind verdammt viele …
Percival Everett hätte es nach eigener Aussage als leicht empfunden, „einen düsteren, dichten Roman über Lynchmorde zu schreiben – den will aber niemand lesen.“ Daher findet er einen anderen Ansatz, nämlich den des Humors. Und der kommt bemerkenswert oft zum Tragen, sei es in der Schilderung der zumeist als eher schlichte Gemüter dargestellten Rednecks in der Stadt – was Absicht im Sinne eines Spiegel Vorhaltens sein dürfte -, sei es in den Dialogen, insbesondere denen zwischen den beiden FBI-Beamten, die zuweilen den lässigen Coolness-Faktor eines 80er-Jahre-Cop-Movies haben, sei es aber auch der zuweilen überzogen wirkende Gewaltgrad an den Tatorten, der – zumindest für mich – eher befremdlich-erheiternd als abstoßend wirkt und irgendwo zwischen Quentin Tarantino und „Kick-Ass“ liegt.
Auf der anderen Seite hat der Roman – natürlich – auch seine stillen, ernsten Momente, beispielsweise wenn in einem Lokal jemand ein Lied der Bürgerrechtsbewegung singt, oder aber seitenweise Namen – und nichts anderes – von Lynchmord-Opfern aufgelistet sind. Menschen auf diese Weise ihren Namen zurückzugeben, aus Statistiken, die beispielsweise aussagten, dass zwischen 1877 und 1950 – also teils noch weit vor Emmett Till – über 4.400 Menschen Opfer von Lynchjustiz geworden sind – wieder greifbare Personen zu machen, erzeugte bei mir eine Gänsehaut, ebenso wie es das beim Schreiben gerade wieder tut.
Und Everett gelingt es, zwischen diesen beiden Polen die Waage zu halten, den Roman nicht in eine Richtung kippen und daraus entweder einen Klamauk werden zu lassen, der der Sache nicht angemessen wäre oder aber eben doch den „düsteren, dichten Roman über Lynchmorde“, den er ja eigentlich vermeiden wollte.
Geblieben ist insgesamt eine erfrischend unkorrekte Leseerfahrung, eine Mischung aus Hardboiled-Krimi, Thriller, Gesellschaftskritik, Komödie und magischem Realismus, die ich aufs Wärmste empfehlen kann und deren Thematik ihre Kreise praktisch noch bis in die Jetzt-Zeit zieht.
Denn auch wenn Roy Bryant und John William Milam, die Mörder von Emmett Till, seinerzeit schon kurz nach dem Gerichtsprozess- ganze vier Monate später – gegenüber einer Zeitung gegen entsprechendes Honorar zugaben, den Jungen getötet zu haben, detaillierte Schilderungen und Täterwissen zum Besten gaben und daraufhin weitgehend gemieden wurden und letztlich verarmt und einsam starben, traten im Jahr 2005 anlässlich einer Dokumentation zum Fall Emmett Till Hinweise zu Tage, die auf bis zu acht weiteren Tatbeteiligte schließen lassen.
Unter anderem geriet auch Carolyn Bryant ins Visier, deren Anschuldigungen den Lynchmord an Emmett Till erst ausgelöst hatten. 2017 schließlich wurden Auszüge aus einem Interview veröffentlicht, das Carolyn Brant bereits 2007 gegeben hat, und in dem sie zugibt, sich den Vorwurf, der Junge habe sie an die Taille gefasst und sich ihr gegenüber unsittlich geäußert, vollständig ausgedacht zu haben. Zwischen 2004 und 2007 wurde gegen sie ermittelt. Ohne Ergebnisse. Im Jahr 2018 – noch unter Trump, man glaubt es kaum – erklärte das Justizministerium, den Fall neu aufrollen zu wollen. Die Ermittlungen endeten im Dezember 2021 mit der Erkenntnis, dass man nicht beweisen könne, dass Carolyn Bryant damals gelogen habe. Folgerichtig – oder auch folgefalsch, ganz wie man möchte – lehnte im August 2022 eine Grand Jury eine erneute Anklage von Bryant aus Mangel an Beweisen ab.
Dass man ihr seitens der ermittelnden Behörden auch damals schon nicht vollständig geglaubt hat, dass sie die arme Unschuldige in dieser Angelegenheit ist, lässt sich vielleicht daran erkennen, dass im Juli 2022 ein Haftbefehl aus dem Jahr 1955 gegen sie aufgefunden wurde, der damals aber ganz offensichtlich, aus welchen Gründen auch immer, nicht vollstreckt wurde.
Carolyn Bryant verstarb unlängst am 25. April 2023 im Alter von 88 Jahren in Westlake, Louisiana.
Am 29. März 2022 erließ US-Präsident Biden ein „Emmett Till Antilynching Act“ genanntes Gesetz, nach dem Lynchmorde nun endlich als Hassverbrechen angesehen und mit bis zu 30 Jahren Haft bestraft werden kann. 67 Jahre nach dem Mord am Emmett Till. Seitdem waren zuvor über 200 Versuche, lynchen per Bundesgesetz zu verbieten, gescheitert.
Emmett Till wäre im Juli dieses Jahres 82 Jahre alt geworden. Er ich und ich haben am selben Tag des Jahres Geburtstag.
Demnächst in diesem Blog: Vermutlich „Montecrypto“ vom Tom Hillenbrand.
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