abc.Etüden KW 19-22/23 II

abc.etüden 2023 19+20+21+22 | 365tageasatzaday

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

eine Idee der Kategorie „sinnfrei“ muss verschriftlicht werden, daher folgt nunmehr der nächste Beitrag zu den von Christiane organisierten Etüden, die diesmal auch gleich die notwendige Wortspende dafür gegeben hat.

Auf gehts:

Ein Tag im Leben einer Stellschraube

Am Morgen kann sie’s kaum erwarten,
wagt gar nicht, sich umzusehen,
sie wartet auf den Bootsmann Marten,
der kommt, um an ihr rumzudrehen.

Leutselig ist der Marten schon,
doch seine Leidenschaft sind Schrauben,
seine Lieblingsblum‘ der Mohn,
und zu Hause hält er Tauben.

Der Morgen geht, wird Vormittag,
doch Marten ist nicht da,
die Schraube trifft schon fast der Schlag
„Das ist doch jetzt nicht wahr!?“

Sie würd‘ sich so gern integrieren,
ins mittschiffliche Räderwerk
stattdessen fängt sie an zu frieren,
denn Wasser dringt bald durch das Werg.

Am Mittag schließlich, ohne Marten,
wird sie letztlich doch verdrießlich,
so sinnlos scheint ihr nun das Warten,
„Ach, was soll das alles schließlich!?“

Ein elend langer Nachmittag,
schlägt’s Schräublein aufs Gemüte,
„Ich warte schon den ganzen Tag,
ich glaube, gleich ich wüte!“

Der Abend kommt, der Marten nicht,
das gibt der Schraub‘ den Rest,
am Morgen ist er wieder da,
doch ’s Schräublein sitzt nun fest.

160 Wörter.

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„Going Zero“ von Anthony McCarten

Buch: „Going Zero“

Autor: Antony McCarten

Verlag: Diogenes

Ausgabe: Hardcover, 464 Seiten

Der Autor: Anthony McCarten, geboren 1961 in New Plymouth/Neuseeland, schrieb als 25-Jähriger mit Stephen Sinclair den Theaterhit ›Ladies Night‹. Es folgten Romane und Drehbücher, für die er schon mehrere Male für einen Oscar nominiert war (u.a. zu den internationalen Filmen ›The Theory of Everything‹ und ›Darkest Hour‹ und ›Bohemian Rhapsody‹). Er lebt in London. (Quelle: Diogenes)

Das Buch: Hat man als Einzelner überhaupt eine Chance gegen das System? Eine junge Bibliothekarin aus Boston ist entschlossen, es zu versuchen – ihr bleibt keine Wahl. Und so greift sie zu, als sich die Einladung zu einem ungewöhnlichen Kräftemessen bietet: dem Betatest von FUSION, einem Projekt der US-Geheimdienste und des Social-Media-Moguls Cy Baxter. Wem es gelingt, 30 Tage unauffindbar zu bleiben, dem winken 3 Millionen Dollar. Doch Kaitlyn geht es um etwas anderes. (Quelle: Diogenes)

Fazit: Der US-Bundesstaat Montana verbietet TikTok, Nancy Faeser fühlt sich bemüßigt, darauf hinzuweisen, selbst über keinerlei vergleichbare Pläne nachzudenken und in schöner Regelmäßigkeit wird wieder mal die Klarnamenpflicht im Internet gefordert, die mir persönlich in Form der Impressumspflicht gemäß den Bestimmungen der DSGVO seinerzeit nichts anderes eingebracht hat, als rassistische und volksverhetzende Briefpost und daraus resultierend eine Menge Stress, einen selbst für meine Verhältnisse übersteigerten Pantoprazol-Konsum und eine Unterredung mit der Polizei, die im Wesentlichen mit „Ich hätte es einfach weggeschmissen!“ reagierte, aber hey, Klarnamenpflicht for the win, denn wer nichts zu verbergen hat, und so weiter. Außerdem hatte Südkorea damit so gute Erfahrungen – oh, wait …

Nun sind Fragen wie die, inwieweit wir im Netz – und außerhalb davon – eigentlich überhaupt noch anonym unterwegs sind, sein können, und sein sollten und in welchem Maße uns IT-Riesen des Social-Media-Bereichs eigentlich schon überwachen und/oder überwachen könnten, und welche der erhobenen Daten diese IT-Riesen dann vielleicht an welche Geheimdienste oder ähnliche Behörden welcher Länder weiterfunken, aber durchaus berechtigt. Und eben diesen Fragen geht Anthony McCarten in seinem neuen Thriller auf den Grund.

In „Going Zero“ treffen wir auf den Social-Media-Mogul Cy Baxter – in etwa eine Mischung aus Elon Musk, Klaus Kinski und der landläufigen, wenn auch historisch so wohl nicht haltbaren Vorstellung von Kaiser Nero. Besagter Cy Baxter plant einen großen Coup. Die CIA möchte sich die Überwachungssysteme seines Social-Media-Portals zunutze machen und stellt ihm für zukünftige Entwicklungen eine Summe von 90 Milliarden Dollar in Aussicht. Wenn, ja, wenn Baxters Systeme den letzten großen Stresstest bestehen. Dieser sieht ein vergleichsweise überschaubares Regularium vor:

10 Menschen – 5 IT-Experten, 5 Laien – werden aus einer Unmenge aus Bewerbungen herausgefiltert. Die Aufgabe, dieser Menschen besteht darin, sich für 30 Tage vollkommen unsichtbar zu machen, für einen Monat lang unterzutauchen. Nach dem Startschuss per Handynachricht haben die Teilnehmer zwei Stunden Zeit, dann beginnt Cy Baxters Expertenteam, die Verfolgung aufzunehmen. Wer nach 30 Tagen nicht wieder aufgespürt und von einem Zugriffsteam eingefangen wurde, erhält als Belohnung 3 Millionen Dollar. Werden alle vorher aufgegriffen, erhält Baxters Konzern die versprochenen 90 Milliarden Dollar zur Weiterentwicklung seiner Systeme. Sein eigentliches Ziel ist es, mit seinen Überwachungssystemen letztlich dazu beizutragen, Verbrechen zu verhindern, bevor diese passieren. „Minority Report“ lässt grüßen.

Zum Teilnehmerfeld gehört auch die Bibliothekarin Kaitlyn, eine etwas verschrobene Persönlichkeit, die selbstverständlich zu den fünf Laien unter den Teilnehmern gehört und die niemand in Baxters Konzern so richtig auf der Rechnung hat. Letztlich verfolgt Kaitlyn mit ihrer Teilnahme aber ganz eigene Ziele, die weit über die reine Siegprämie hinausgehen und stellt sich wesentlich cleverer an, als sich das alle Beteiligten hätten vorstellen können.

Nach einer kurzen Einleitung fällt dann auch schon der Startschuss für die Teilnehmer sowie der für einen rasanten, temporeich erzählten Roman. McCarten richtet seinen Fokus abwechselnd auf die Konzernüberwachungszentrale einerseits sowie die unterschiedlichen Fluchtversuche der untertauchenden Glücksjäger andererseits. Zwar spielen diese Fluchtversuche für den Handlungsstrang rund um Kaitlyns eigentliche Ambitionen nur eine untergeordnete Rolle, sind aber trotzdem das, was den Roman über einen längeren Zeitraum so unterhaltsam macht. Denn McCarten verfügt hier über einen bemerkenswerten Ideenreichtum, beispielsweise, wenn er einen Teilnehmer schildert, der auf die glorreiche Idee kommt, eine zusätzliche Wand in seine Wohnung einzuziehen, sich also quasi mehr oder weniger einzumauern, und dort dann ganz entspannt die 30 Tage abwarten will, und dem Baxters Schergen nur deswegen auf die Schliche kommen, weil der Stromzähler im Haus noch läuft, irgendein Verbraucher also eingeschaltet sein muss, und dieser nun leider der in den abgeschlossenen Raum geschleppte Kühlschrank ist, auf den der Teilnehmer nicht verzichten wollte.

Mit zunehmender Dauer scheiden naturgemäß immer mehr Flüchtige aus dem Wettbewerb aus und der Fokus richtet sich noch etwas stärker auf Kaitlyn und ihre Handlungsmotivation. Hier entsteht dann langsam ein zweiter Handlungsstrang, der mit den Machenschaften amerikanischer Geheimdienste zu tun hat und ebenfalls überzeugen kann.

Positiv zu bewerten ist, dass nahezu alles an McCartens Roman irgendwie unkompliziert ist. Er ist sehr leicht zu lesen, überfordert also in stilistischer Hinsicht sicherlich niemanden, verfügt über ein ebenso unkompliziertes Figurenensemble, aus dem sicherlich die beiden Gegenspieler Cy und Kaitlyn herausragen, wobei es aber nun auch wieder keine Charaktere enthält, die man nachhaltig im Gedächtnis behalten wird, sondern allenfalls solche, von denen man das Gefühl hat, sie irgendwo schon mal gesehen zu haben, wenn abends in der „Tagesschau“ darüber berichtet wird, dass wieder mal jemand eine E-Auto-Fabrik in Brandenburg hochzieht. Und ganz ähnlich gilt das auch für den Plot, der zwar stringent ist, aber nun auch nicht gerade hochkomplex. All das finde ich durchaus gut, McCartens Buch ist quasi das literarische Äquivalent von Hollywood-Popcorn-Kino und hat als solches durchaus seine Berechtigung.

Darüber hinaus steht die Hoffnung im Raum, irgendwelche revolutionären Neuigkeiten über moderne Überwachungsmöglichkeiten zu erfahren. In diesem Bereich, finde ich, schwächelt das Buch allerdings etwas. Vielleicht kann es auch gar nichts dafür, dass ich kaum etwas der geschilderten Methoden im Buch als nennenswert neu empfinde, wenn man von ein, zwei KI-basierten Softwarelösungen absieht. Gesichtserkennung gibt es schon seit etwa 30 Jahren, wenn auch damals noch mit ausbaufähiger Erfolgsquote, flächendeckende Kameraüberwachung, GPS, Satelliten und Drohnen sind nun auch nichts sooo Neues mehr. In diesem Bereich war ich also etwas enttäuscht. Während ich vor etwa zehn Jahren nach der Lektüre von Marc Elsbergs „Blackout“ noch stirnrunzelnd auf den Stromzähler gesehen und vorsichtig ausprobiert habe, ob das Licht noch funktioniert, zuckte ich bei der Schilderung von Cy Baxters Überwachungsapparat nur noch mit den Schultern. Aber dafür kann der Autor vermutlich nichts, denn wenn es keine revolutionären neuen Errungenschaften zu schildern gibt, dann ist das eben so.

Trotz dieser Einschränkung ist „Going Zero“ ein rundum gelungenes Buch und ein sehr kurzweiliges Leseerlebnis. Eines, das zudem wichtige Fragen aufwirft und wichtige Tatsachen beleuchtet, wie beispielsweise die, dass es immer von den persönlichen Erfahrungen und dem individuellen „Mindset“ eines Menschen abhängt, wie er beispielsweise zum Thema der Legitimität und/oder Notwendigkeit von Überwachungsmaßnahmen steht. Und ob es vor diesem Hintergrund eine gute Idee sein kann, Konzerne, die über derartige Möglichkeiten verfügen, in die Hände einer Einzelperson zu geben.

Oder einem libertären Egomanen einen Kurznachrichtendienst zu verkaufen, der das erklärte Ziel hat, sich gegen einen vorgeblichen „linken Meinungs-Mainstream“ zur Wehr zu setzen. Oder so.

Klare Leseempfehlung!

Weitere Rezensionen:

LiteraturReich

Der Insel-Blog

Demnächst in diesem Blog: „Amerikas Gotteskrieger“ von Annika Brockschmidt

„Tod oder Taufe – Die Kreuzfahrer am Rhein“ von Jakob Matthiessen

Buch: „Tod oder Taufe“

Autor:: Jakob Matthiessen

Verlag: Gmeiner

Ausgabe: Paperback, 636 Seiten

Der Autor: Jakob Matthiessen lebt seit fast 20 Jahren in Skandinavien. In seiner Jugend verschlang er die Romane von Hermann Hesse, Uwe Timm und J. R. R. Tolkien. Vor einigen Jahren entdeckte er die Liebe zum Schreiben als wohltuenden Ausgleich zu seiner wissenschaftlichen Arbeit. Als Schriftsteller interessieren ihn gründlich recherchierte Darstellungen historischer Ereignisse mit Bezug zu Gegenwartsfragen. „Tod oder Taufe – Die Kreuzfahrer am Rhein“ ist sein erster Roman. (Quelle: Gmeiner) (Autorenhomepage)

Das Buch: Mainz, im Jahre 1096. Ein mächtiges Kreuzfahrerheer steht vor den Toren der Stadt und fordert Einlass. Aufgehetzt von dem fanatischen Priester Rotkutte, wollen die Krieger die jüdische Gemeinde auslöschen. Wer nicht seinen Glauben verrät – ein undenkbares Sakrileg für jeden Juden – soll sterben. Rabbi Chaim und Domdekan Raimund, in ihrem Glauben einander freundschaftlich zugetan, suchen in der belagerten Stadt nach einem Weg, Blutvergießen zu verhindern. In Rotkutte steht ihnen jedoch ein Meister der Intrige gegenüber … (Quelle: Gmeiner)

Fazit: Vor einigen Tagen stand Professor Sucharit Bhakdi, eine der derzeit wohl populärsten Ikonen der Schwurblerszene, wegen des Verdachts der Volksverhetzung in zwei Fällen vor Gericht. Bhakdi sprach auf einer Wahlkampfveranstaltung der Partei „Die Basis“ im Zusammenhang mit der Zulassung von Covid-19-Impfstoffen von einem „zweiten Holocaust“ und einem „Endziel“ und sagte zudem über „das Volk der Juden“ sinngemäß, dass es von den Nazis gelernt habe, um mit diesen Äußerungen seinen Unmut über das Pandemie-Management Israels zu verdeutlichen.

In einem für mich als juristischen Laien unverständlichen Anfall von „Das wird man doch noch sagen dürfen!“ hat das zuständige Gericht Herrn Bhakdi von den Vorwürfen freigesprochen, unter anderem mit der sinngemäßen Begründung, dass für das Sagbare auf Wahlkampfveranstaltungen andere Maßstäbe anzulegen seien – was unter anderem diverse Wahlkampfauftritte der AfD, der Freien Sachsen oder ausländischer Staatspräsidenten erklärt, aber das ist ein anderes Thema. Zudem warf das Gericht die Frage auf, ob derlei Äußerungen vor gerade mal 200 Zuschauern tatsächlich geeignet seien, das Volk aufzuhetzen. Wir lernen demnach: Volksverhetzende Aussagen im kleinen Kreis sind augenscheinlich schon irgendwie okay.

Umso unverständlicher ist das Urteil aus meiner Sicht, wenn man berücksichtigt, welch unrühmliche Geschichte unser Land in diesem Zusammenhang hatte und hat, insbesondere unter Einbeziehung dessen diverser Rechtsvorgänger.

Den Anfang – wenn man denn ein Ereignis suchen möchte, das für Historiker als Anfang passend erscheint – dieser unrühmlichen Geschichte bildeten die Geschehnisse, die Jakob Matthiessen in seinem historischen Roman „Tod oder Taufe – Die Kreuzfahrer am Rhein“ beschreibt:

Im Jahr 1095 ist Byzanz, meinetwegen auch das Oströmische Reich, von den Seldschuken bedroht. Der byzantinische Kaisers Alexios I. schickt Gesandte, um militärische Hilfe aus dem Westen zu erlangen. Unter Einfluss dieser Gemengelage ruft Papst Urban II. Ende 1095 schließlich zum Kreuzzug ins Heilige Land auf.  Anders als gedacht, kommen diesem Aufruf aber nicht nur militärisch geschulte Adelige mit ihrem entsprechenden Gefolge nach, sondern es schließen sich auch zu Tausenden einfaches Stadt- und Landvolk – Männer, Frauen, Kinder – den Kreuzfahrern an, beispielsweise dem Grafen Emicho, dessen 10.000 Menschen umfassendes Heer sich durch das Rheinland bewegt.

Anstatt sich aber nun auf direktem Wege ins Heilige Land zu begeben, setzt sich in Emichos Heer die Ansicht durch, dass es doch erst mal „sinnvoll“ wäre, die Juden in der Heimat zu bekämpfen, bevor man sich auf den weiten Weg macht. Am 8. Mai 1096 kam es daher in Speyer zum ersten Pogrom der Kreuzfahrer an der jüdischen Bevölkerung von Speyer, dem 11 Menschen zum Opfer fielen. Größere Opferzahlen wurden nur durch das beherzte Eingreifen des Bischofs von Speyer verhindert, der die jüdische Bevölkerung in seiner Burg unterbrachte.

Am 18. Mai folgte das Pogrom in Worms. Auch hier versuchte der Bischof, der jüdischen Bevölkerung zu helfen, letztlich griff der Mob aber sogar die Bischofsresidenz an und tötete – je nach Quelle – 400 bis 800 Menschen.

Wenige Tage später steht das Kreuzfahrerheer vor Mainz …

Etwa zu diesem Zeitpunkt setzt die Handlung des Romans ein. Wir lernen zu Beginn die Hauptfiguren des Romans kennen, die im Wesentlichen aus dem Domdekan Raimund, dem Rabbi Chaim und dem jungen Bauernsohn Peter, der Teil des Kreuzfahrerheeres geworden ist, bestehen. Im Wesentlichen wechselt die Erzählperspektive im Roman dann auch zwischen diesen drei Figuren.

Irritierend am Einstieg war aus meiner Sicht zunächst mal der Prolog, der im Grunde genommen wesentliche Elemente der folgenden Ereignisse vorwegnimmt, und Lesern, die die geschichtlichen Fakten nicht kennen, keinerlei Illusionen darüber lässt, wie die ganze Sache denn nun ausgeht. Letztlich muss man bis ungefähr Seite 470 lesen, um zu erkennen, dass sich der genannte Prolog auch in einem anderen Kontext lesen lässt, wodurch sich für die Geschichte tatsächlich eine entsprechende Wendung ergibt, mit der nicht zu rechnen war. „Tod oder Taufe“ ist tatsächlich eines dieser Bücher, das die Leserschaft fürs „Durchhalten“ belohnt.

Nun klingt das negativer, als es gemeint ist. Denn auch vor Seite 470 ist das Buch durchaus lesenswert und unterhaltsam. Allerdings auch sehr konventionell geschrieben. Im Rahmen des Historischen Romans finde ich konventionell geschrieben Romane allerdings gut. In den meisten Historischen Romanen, die sich dem o.g. Setting zuwenden, würde heutzutage nämlich irgendwann so eine Art Jeanne-d’Arc-Lookalike erscheinen, fernab jeglicher historischer Korrektheit das Heer der Kreuzfahrer vor Mainz zurückschlagen, und anschließend mit dem Domdekan oder dem Rabbi in den Sommeruntergang reiten. Bei E. L. James vermutlich mit beiden.

Stattdessen versucht Jakob Matthiessen, sich weitgehend an die historischen Fakten zu halten, auch an das kolportierte Gesellschaftsbild damaliger Zeiten. So spielen Frauen – zumindest in verantwortungsbewussten Positionen – in Matthiessens Roman keine große Rolle. Und die, die auftauchen, weisen schon mal darauf hin, dass die Herren der Schöpfung doch bitte die Küche verlassen sollten, um eine „einfache Frau“ dort ihre Arbeit machen zu lassen, erwähnen mit Nachdruck, dass sie von diesem ganzen Religionskram ja nicht viel verstehen, da sie ja nur eine Frau sind, oder tätscheln ihren in einer Sinnkrise steckenden Männern schon mal mit einem gesäuselten „Mein Held!“ den Kopf.

Man sieht: Bei Jakob Matthiessen ist die Welt noch in Ordnung.

Now that I have your attention: Nur Spaß.

Dennoch ist mit die gewählte Darstellungsform – wenigstens innerhalb des Genres des Historischen Romans – lieber als irgendwelche historisch unkorrekten Jeanne-d’Arc-Lookalikes.

Nun ist auch Matthiessen vor Anachronismen in seinem Roman nicht gefeit. Dass es seinerzeit, so wie im Roman, beispielsweise wirklich eine intensive Freundschaft zwischen einem Domdekan und einem Rabbi gegeben haben kann, ohne einen von beiden, wahrscheinlich aber beide, in schwere Erklärungsnöte zu bringen, scheint ebenso unwahrscheinlich, wie die Tatsache, dass diese beiden dann auch noch in ihrer Freizeit gemeinsam Psalmen ins Deutsche übersetzen. Dessen ist sich der Autor nach eigener Aussage aber bewusst.

Und nun ist die Ausgangslage eben so, wie sie ist. Was zudem die Möglichkeit eröffnet, seine beiden Protagonisten in regelmäßige Dispute religiösen Inhalts ausbrechen zu lassen, unter anderem darüber, dass Judentum und Christentum selbstverständlich sich deutlich voneinander unterscheidende Vorstellungen von der historischen und religiösen Figur Jesu haben. Zwar geht das Buch diesbezüglich nicht so in die Tiefe wie beispielsweise „Der Name der Rose“, aber man muss es ja nun auch nicht übertreiben. „Tod oder Taufe“ bietet in dieser Hinsicht auch für religiös weniger gebildete Menschen wie mich genug Ansätze, über die sich nachzudenken lohnt.

Vor dem Hintergrund der zwar gut gestalteten Figuren, ohne dass diese mir aber vermutlich längerfristig im Gedächtnis bleiben werden, der, wie erwähnt, recht konventionellen – aber guten! – Erzählweise und einer weitgehend von den historischen Tatsachen vorgegebenen Handlung, ist es eben diese Komponente des religiösen Disputs, die „Tod oder Taufe“ letztendlich so lesenswert macht.

Wer also mal wieder einen Historischen Roman lesen möchte, der gut recherchiert ist und nicht in Iny-Lorentz-Sphären abdriftet, ist mit diesem grundsolidem Roman gut bedient.

Demnächst in diesem Blog: „Going Zero“ von Anthony McCarten

Skoutz-Award: Midlist

Hallo, liebe Leserinnen und Leser,

der Stapel der Bücher, über die es noch zu schreiben gälte, sieht mich – in meiner Vorstellung – vorwurfsvoll an, weswegen es nur folgerichtig ist, dass ich ihn ignoriere und mich stattdessen mit angenehmeren Dingen beschäftige. In aller angemessen Bescheidenheit sei es mir nämlich vergönnt, kurz auf den Umstand hinzuweisen, dass folgendes Logo

Skoutz-Award 2023 Badge Midlist

in entsprechend angepasster Größe demnächst die Startseite meines Blogs zieren wird, sobald ich einen angemessenen Platz dafür bekommen habe.

Ursächlich dafür ist, dass mir die große Freude und nicht minder große Ehre zuteil geworden ist, beim diesjährigen Skoutz-Award auf der Midlist im Bereich „Buchblogs“ gelandet zu sein. Das ist erstens insofern erwähnenswert, als dass ich mich nicht entsinnen könnte, überhaupt schon mal auf irgendwelchen Listen vertreten gewesen zu sein und zweitens zudem deswegen, weil mein Auftauchen auf der Midlist impliziert, die Longlist schon überstanden zu haben, was im Übrigen auch tatsächlich der Fall ist.

Im September findet dann die Wahl zur Shortlist statt. Dabei kommen dann auch Community-Stimmen zum Tragen, weswegen ich mich mit ziemlicher Sicherheit dann nochmal an dieser Stelle dazu äußern werde. ;-)

Bis dahin freue ich mich erst mal – und wende mich dann zeitnah vielleicht doch mal dem eingangs erwähnten Stapel zu. Wenn du nämlich lange genug auf diesen Stapel blickst, blickt der Stapel auch in dich hinein – oder so.

Gehabt euch wohl.

abc.Etüden KW 19-22/23

abc.etüden 2023 19+20+21+22 | 365tageasatzaday

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

nachdem ich in letzter Zeit den Etüden, und eigentlich allem, vorübergehend fern geblieben bin, wird es nun langsam mal wieder Zeit, etwas aufs virtuelle Papier zu bringen. Für die aktuellen Etüden fungiert die zauberhafte Christiane nicht nur als Organisatorin, sondern auch als Wortspenderin, was die ganze Sache etwas einfacher macht.

Das leere Blatt Papier

Der Dichter einstmals großer Worte,
sitzt nun hier an diesem Orte,
juckt sich dort und kratzt sich hier,
vor diesem leeren Blatt Papier.

Gestern war er noch leutselig;
fröhlich, eloquent, vergnüglich,
heute sitzt er anders hier,
vor diesem leeren Blatt Papier.

Weiß nun nicht, was sollt‘ er schreiben,
keine Muse mag ihn treiben,
auf dass ein Text entstünde hier,
auf diesem leeren Blatt Papier.

Zaghaft schreibt er dies und das,
ohne Ziel und ohne Spaß,
ein verstimmtes Textklavier,
auf dem sonst leeren Blatt Papier.

An jeder Stellschraub‘ er gedreht;
und doch der Text nicht weitergeht,
kein Bonmot seiner Manier
auf diesem leeren Blatt Papier.

Vielleicht mit Alkohol? Ihm friert,
sechs Schnäpse hat er integriert,
auf dass der Brannt ihn nun traktier‘
vor diesem leeren Blatt Papier.

Ach, manchmal soll es halt nicht sein,
denkt er dann und schenkt sich ein,
nun ist er voll, und das schon sehr;
nur das Papier bleibt weiter leer.

157 Wörter.

„Die Bäume“ von Percival Everett

Buch: „Die Bäume“

Autor: Percival Everett

Verlag: Hanser

Ausgabe: Hardcover, 368 Seiten

Der Autor: Percival Everett, geboren 1956 in Fort Gordon/Georgia, ist Schriftsteller und Professor für Englisch an der University of Southern California. Er hat bereits mehr als dreißig Romane veröffentlicht. Für sein Werk wurde er mit zahlreichen Preisen geehrt, u. a. mit dem PEN Center USA Award for Fiction, dem Academy Award for Literature der American Academy of Arts and Letters und dem PEN/Jean Stein Book Award. Auf Deutsch erschienen bislang „Ausradiert“ (2008), „God‘s Country“ (2014) und „Ich bin Nicht Sidney Poitier“ (2014). Bei Hanser erschienen zuletzt die Romane „Erschütterung“ (2022) und „Die Bäume“ (2023). (Quelle: Hanser)

Das Buch: USA, Anfang des 21. Jahrhunderts: Im Städtchen Money in den Südstaaten werden mehrere Männer ermordet: meist dick, doof und weiß. Neben jeder Leiche taucht ein Körper auf, der die Züge von Emmett Till trägt, eines 1955 gelynchten schwarzen Jungen. Zwei afroamerikanische Detektive ermitteln, doch der Sheriff sowie eine Gruppe hartnäckiger Rednecks setzen ihnen erbitterten Widerstand entgegen. Als sich die Morde auf ganz Amerika ausweiten, suchen die Detektive des Rätsels Lösung in den Archiven von Mama Z, die seit Jahrzehnten Buch führt über die Opfer der Lynchjustiz in Money. (Quelle: Hanser)

Fazit: In Percival Everetts neuem Roman „Die Bäume“ verschlägt es die Leserschaft ins kleine Örtchen Money in Mississippi. In den einleitenden Sätzen des Buches heißt es über den Ort:

„Money, Mississippi, sieht genau so aus, wie es sich anhört. Hervorgegangen aus jener hartnäckigen Südstaatentradition von
Ironie im Verein mit der dazugehörigen Tradition von Unwissenheit, bekommt der Name etwas leicht Trauriges, wird zum
Kennzeichen befangener Ignoranz, die man sich ebenso gut zu eigen machen kann, denn, mal ganz ehrlich, sie wird nicht weggehen. (S.11)

Und ich muss zugegeben, dass mich ein Autor mit einem Buchbeginn selten so schnell am Haken hatte, wie Everett mit den genannten Eingangssätzen. Von diesem Haken hat er mich dann bis zum Ende nicht mehr gelassen, sodass ich „Die Bäume“ in einem Rutsch an einem der derzeit noch spärlich verteilten Sonnentage des Jahres durchgelesen habe.

Und Sonne zur Lektüre kann vielleicht nicht schaden, denn das eigentliche Thema des Buches ist ein ziemlich ernstes: In Money werden auf ziemlich blutig-brutale Weise Menschen umgebracht. Am Tatort findet man aber nicht nur das jeweilige Mordopfer, sondern auch einen toten Afroamerikaner, der die Züge von Emmett Hill trägt.

Emmett Hill, damals 14 Jahre alt, wurde im Jahr 1955 in Money, Mississippi, Opfer eines Lynchmords. Ursprünglich nur in der Stadt, um seinen Onkel zu besuchen, betrat der Junge das Lebensmittelgeschäft von Roy und Carolyn Bryant. Besagte Carolyn Bryant brachte kurz darauf gegen Till die Anschuldigung vor, er habe sie an die Taille gefasst und sich ihr gegenüber unsittlich geäußert.

Wenige Tage später stand Roy Bryant, zusammen mit seinem Halbbruder, vor der Tür von Emmett Tills Onkel und forderte die Herausgabe von Emmett. Als diese Forderung verweigerte wurde, schlugen beide Emmetts Onkel und dessen Frau nieder und verschleppten Emmett. Wiederum einige Tage später wurde der Leichnam des Jungen im Tallahatchie River treibend gefunden, in den man ihn mit einem mit Stacheldraht um den Hals gewickelten Gewicht und einer Schusswunde im Kopf, aber offensichtlich noch lebend, wie die Gerichtsmedizin später herausfand, geworfen hatte.

Roy Bryant und sein Halbbruder John William Milam wurden vor Gericht gestellt, wo die ausschließlich aus Weißen zusammengestellte Jury ganze 67 Minuten Beratungszeit brauchte, um die beiden Angeklagten in allen Anklagepunkten für nicht schuldig zu erklären. Wenige Monate später weigerte sich Rosa Parks, ihren Sitzplatz im Bus für einen weißen Fahrgast zu räumen. Beide Fälle gelten als ausschlaggebend für den Beginn der schwarzen Bürgerrechtsbewegung.

Im Money des 21. Jahrhunderts gehen die Morde indes weiter. Dabei verschwindet der am ersten Tatort gefundene tote Afroamerikaner auf wundersame Weise und taucht dafür, nicht minder wundersam, am nächsten Tatort wieder auf. Und später erneut. Nicht nur die vor Ort ermittelnden Polizisten können sich keinen Reim darauf machen, weswegen letztlich das FBI auf den Plan gerufen wird. Dieses schickt zwei Detektive – nur handelt es sich dabei um Afroamerikaner, was für die rassistischen Rednecks in Money – und auch für die, die überhaupt nicht für sich in Anspruch nehmen würden, Rassist zu sein – irgendwo zwischen massiver Herausforderung und Affront liegt.

Der Weg der Bundesbeamten führt sie irgendwann zu Mama Z, die nicht nur alles über jeden im Ort zu wissen scheint, sondern auch ein Archiv über alle Lynchmorde in der Geschichte der USA führt. Und das sind verdammt viele …

Percival Everett hätte es nach eigener Aussage als leicht empfunden, „einen düsteren, dichten Roman über Lynchmorde zu schreiben – den will aber niemand lesen.“ Daher findet er einen anderen Ansatz, nämlich den des Humors. Und der kommt bemerkenswert oft zum Tragen, sei es in der Schilderung der zumeist als eher schlichte Gemüter dargestellten Rednecks in der Stadt – was Absicht im Sinne eines Spiegel Vorhaltens sein dürfte -, sei es in den Dialogen, insbesondere denen zwischen den beiden FBI-Beamten, die zuweilen den lässigen Coolness-Faktor eines 80er-Jahre-Cop-Movies haben, sei es aber auch der zuweilen überzogen wirkende Gewaltgrad an den Tatorten, der – zumindest für mich – eher befremdlich-erheiternd als abstoßend wirkt und irgendwo zwischen Quentin Tarantino und „Kick-Ass“ liegt.

Auf der anderen Seite hat der Roman – natürlich – auch seine stillen, ernsten Momente, beispielsweise wenn in einem Lokal jemand ein Lied der Bürgerrechtsbewegung singt, oder aber seitenweise Namen – und nichts anderes – von Lynchmord-Opfern aufgelistet sind. Menschen auf diese Weise ihren Namen zurückzugeben, aus Statistiken, die beispielsweise aussagten, dass zwischen 1877 und 1950 – also teils noch weit vor Emmett Till – über 4.400 Menschen Opfer von Lynchjustiz geworden sind – wieder greifbare Personen zu machen, erzeugte bei mir eine Gänsehaut, ebenso wie es das beim Schreiben gerade wieder tut.

Und Everett gelingt es, zwischen diesen beiden Polen die Waage zu halten, den Roman nicht in eine Richtung kippen und daraus entweder einen Klamauk werden zu lassen, der der Sache nicht angemessen wäre oder aber eben doch den „düsteren, dichten Roman über Lynchmorde“, den er ja eigentlich vermeiden wollte.

Geblieben ist insgesamt eine erfrischend unkorrekte Leseerfahrung, eine Mischung aus Hardboiled-Krimi, Thriller, Gesellschaftskritik, Komödie und magischem Realismus, die ich aufs Wärmste empfehlen kann und deren Thematik ihre Kreise praktisch noch bis in die Jetzt-Zeit zieht.

Denn auch wenn Roy Bryant und John William Milam, die Mörder von Emmett Till, seinerzeit schon kurz nach dem Gerichtsprozess- ganze vier Monate später – gegenüber einer Zeitung gegen entsprechendes Honorar zugaben, den Jungen getötet zu haben, detaillierte Schilderungen und Täterwissen zum Besten gaben und daraufhin weitgehend gemieden wurden und letztlich verarmt und einsam starben, traten im Jahr 2005 anlässlich einer Dokumentation zum Fall Emmett Till Hinweise zu Tage, die auf bis zu acht weiteren Tatbeteiligte schließen lassen.

Unter anderem geriet auch Carolyn Bryant ins Visier, deren Anschuldigungen den Lynchmord an Emmett Till erst ausgelöst hatten. 2017 schließlich wurden Auszüge aus einem Interview veröffentlicht, das Carolyn Brant bereits 2007 gegeben hat, und in dem sie zugibt, sich den Vorwurf, der Junge habe sie an die Taille gefasst und sich ihr gegenüber unsittlich geäußert, vollständig ausgedacht zu haben. Zwischen 2004 und 2007 wurde gegen sie ermittelt. Ohne Ergebnisse. Im Jahr 2018 – noch unter Trump, man glaubt es kaum – erklärte das Justizministerium, den Fall neu aufrollen zu wollen. Die Ermittlungen endeten im Dezember 2021 mit der Erkenntnis, dass man nicht beweisen könne, dass Carolyn Bryant damals gelogen habe. Folgerichtig – oder auch folgefalsch, ganz wie man möchte – lehnte im August 2022 eine Grand Jury eine erneute Anklage von Bryant aus Mangel an Beweisen ab.

Dass man ihr seitens der ermittelnden Behörden auch damals schon nicht vollständig geglaubt hat, dass sie die arme Unschuldige in dieser Angelegenheit ist, lässt sich vielleicht daran erkennen, dass im Juli 2022 ein Haftbefehl aus dem Jahr 1955 gegen sie aufgefunden wurde, der damals aber ganz offensichtlich, aus welchen Gründen auch immer, nicht vollstreckt wurde.

Carolyn Bryant verstarb unlängst am 25. April 2023 im Alter von 88 Jahren in Westlake, Louisiana.

Am 29. März 2022 erließ US-Präsident Biden ein „Emmett Till Antilynching Act“ genanntes Gesetz, nach dem Lynchmorde nun endlich als Hassverbrechen angesehen und mit bis zu 30 Jahren Haft bestraft werden kann. 67 Jahre nach dem Mord am Emmett Till. Seitdem waren zuvor über 200 Versuche, lynchen per Bundesgesetz zu verbieten, gescheitert.

Emmett Till wäre im Juli dieses Jahres 82 Jahre alt geworden. Er ich und ich haben am selben Tag des Jahres Geburtstag.

Demnächst in diesem Blog: Vermutlich „Montecrypto“ vom Tom Hillenbrand.

„Der Donnerstagsmordclub und die verirrte Kugel“ von Richard Osman

Buch: „Der Donnerstagsmordclub und die verirrte Kugel“

Autor: Richard Osman

Verlag: Ullstein

Ausgabe: Paperback, 432

Der Autor: Richard Osman ist Autor, Fernsehmoderator und Produzent. Der Donnerstagsmordclub und die verirrte Kugel ist sein dritter Roman, der in große Fußstapfen zu treten hat, nachdem die ersten beiden Bände der Serie internationale Bestseller gewesen sind. Doch in diesem Sinne ist er wie seine Helden. Er nimmt die Herausforderung begierig an. Die Idee für seine Krimireihe kam ihm, als er eine Verwandte in einer luxuriösen Seniorenresidenz besucht hat und ihm das Schlimmste zugestoßen ist, was einem modernen Menschen widerfahren kann: Er hatte keinen Handyempfang. Wer denkt da nicht sofort an Mord und Totschlag? (Quelle: Ullstein)

Das Buch: Über einen Mangel an ungelösten Mordfällen kann sich der Donnerstagsmordclub wahrlich nicht beklagen. Darunter auch: der Fall Bethany Waites. Die junge Journalistin wurde vor fast zehn Jahren ermordet, weil sie den Strippenziehern eines riesigen Steuerbetrugs zu nahegekommen war. Kaum haben Elizabeth, Joyce, Ron und Ibrahim angefangen zu ermitteln, wird aus dem cold case sehr schnell ein brandheißer. Dann wird auch noch Elizabeth entführt, und ihr Widersacher stellt sie vor eine unangenehme Wahl: töten oder getötet werden. Eine verzwickte Situation. Aber die sind ja zum Glück das Spezialgebiet des Donnerstagsmordclubs. (Quelle: Ullstein)

Fazit: Auf vielfachen Wunsch einer einzelnen, geschätzten Leserin – ich wollte das schon lange mal wieder schreiben können – sollte und müsste es an dieser Stelle eigentlich erst mal vorrangig um den neuen Roman von Clemens J. Setz gehen. Aus einer Fülle von Gründen, die nahezu ausnahmslos mit mir und nicht mit dem Buch zu tun haben, verschiebt sich meine Einlassung dazu aber auf unbestimmte Zeit. Stattdessen beschäftigen wir uns auf vielfachen Wunsch einer anderen, geschätzten Leserin – ja, man glaubt es kaum – heute mit dem neuesten Teil von Richard Osmans „Donnerstagsmordclub“-Reihe.

Und wäre Osmans Setting das reale Leben, dann wäre die Welt ein besserer Ort. Gut, gelegentlich würden immer noch vereinzelt Menschen auf äußerst unschöne Art und Weise zu Tode kommen und die vier verrenteten Privatermittler auf den Plan rufen, aber man würde sich in dieser Welt wesentlich wohler fühlen als in der echten.

Da das aber ja nun nicht geht, kann aber wenigstens versuchen, dieses Wohlgefühl zu simulieren. Und dafür bietet sich auch der dritte Teil der „Donnerstagsmordclub“-Reihe mehr als an.

In diesem dritten Teil haben sich die Uhren in der Seniorenwohnanlage Coopers Chase und umzu ein wenig weiter gedreht. Einige der Figuren sind Liaisons mit anderen Figuren eingegangen, einigen der Figuren spielt die Gesundheit mittlerweile den einen oder anderen Streich, und wieder andere der Figuren sitzen im Knast. Daher gilt zwar für den dritten Teil im weitesten Sinne, dass man ihn, wie auch die Vorgänger, rein auf den darin abgehandelten Kriminalfall bezogen, unabhängig von den anderen lesen kann. Gerade wenn man sich aber für die Figuren interessiert – und wer sich für die Osmans Figuren nicht interessiert, dem kann ich auch nicht helfen -, und für die Frage, wer warum mit wem wie vebandelt ist, sollte man aber mit dem ersten Teil in die Lektüre einsteigen.

Im aktuellen Fall kümmern sich die vier Teilzeitermittler Elizabeth, Joyce, Ron und Ibrahim um das Schicksal der ermordeten Journalistin Bethany Waites. Die junge Frau hat Recherchen zu Steuerbetrug in großem Stil unternommen, die ihr vermutlich zum Verhängnis geworden sind. Der Donnerstagsmordclub nimmt Kontakt zu ehemaligen Kolleginnen und Kollegen von Bethany Waites auf und lädt sie unter Vorspiegelung falscher Tatsachen nach Coopers Chase ein. Ein Fest insbesondere für Joyce, die endlich mal berühmten Fernsehpersönlichkeiten von Angesicht zu Angesicht begegnen darf, sowie für Ron, der die Gelegenheit nutzen will, endlich mal wieder selbst im Fernsehen zu sein und einen Hauch des früheren Einflusses als Gewerkschaftsführer zu verspüren.

Dann nehmen die Geschehnisse jedoch ein unangenehme Wendung, indem Elizabeth und ihr Ehemann von Unbekannten gekidnappt werden. Die dabei gestellte Forderung an Elizabeth: Entweder sie würde innerhalb weniger Wochen einen renommierten Geldwäscher töten, oder aber die Entführer würden ihrerseits Elizabeths Freundin und Ermittlerkollegin Joyce töten.

Insbesondere was den Krimiplot angeht, ist Richard Osman im Laufe der Reihe ein eindeutiger Fortschritt zu bescheinigen. War dieser Bereich im Reihenauftakt eher noch unter „ganz nett“ zu verbuchen, steigert er sich diesbezüglich von Buch zu Buch und im dritten hat der Fall Bethany Waites vollständig Hand und Fuß, selbst wenn einen die eine oder andere überraschende Wendung nur mäßig überraschen mag, eben weil man die vorangegangenen Bücher und demnach Osmans Schreibe kennt.

Was die Bücher um den „Donnerstagsmordclub“ aber so lesenswert macht, ist nun mal diese Wohlfühlatmosphäre, ausgelöst auch durch das Viererteam der Protagonisten. Man muss die mit allen Wassern gewaschene, oberflächlich recht abgeklärt wirkende Elizabeth, die gute, und zuweilen herzerfrischend naive Seele des Teams, Joyce, den sensiblen Ibrahim, der nach der Ereignissen des zweiten Teils langsam wieder Boden unter die Füße bekommt sowie den raubeinigen Ron einfach gerne haben. Und im Wesentlichen gilt das für die meisten anderen Figuren auch. Zwar schießt Osman manchmal ein bisschen über das Ziel hinaus. Beispielsweise im Falle einer ehemaligen Drogendealerin, die mittlerweile im Knast sitzt und durch ihre schon übermäßig lässig-abgeklärte Art auffällt, oder auch im Falle des Protagonisten, der irgendwie ein bisschen wirkt wie „Vindor“ aus der dritten Folge der ersten Staffel von „Lower Decks“. Googelt halt. :-) Diese beiden exemplarisch genannten Figuren sind halt ein bisschen obendrüber. Aber das verzeiht man Osman gerne, den in Coopers Chase, ganz allgemein in Osmans Welt, ist alles ein bisschen obendrüber. Und wirkt vielleicht auch deswegen so schön, wie es eben wirkt.

Eigentlich, um mal ziemlich frei Forrest Gump zu zitieren, ist das auch schon alles, was ich dazu sagen kann. Fans der Reihe bekommen mit „Der Donnerstagsmordclub und die verirrte Kugel“ eine mehr als nur gelungene Fortsetzung, die mit ihrer schlüssigen, wenn auch nicht übermäßig überraschenden Krimihandlung, ihren weiterhin sehr charmanten Charakteren und nicht zuletzt einer Wohlfühlatmosphäre punkten, für die das Genre der Cosy Crime erfunden werden müsste, würde es nicht bereits existieren.

Glücklicherweise wird die Reihe noch fortgesetzt, auch wenn deutsche Leserinnen und Leser wohl noch etwas geduldig sein müssen: Teil 4, „The Last Devil To Die“ erscheint im englischen Original am 14. September 2023.

Demnächst in diesem Blog: „Die Bäume“ von Percival Everett. Vermutlich.

Abgebrochen: „Der Passagier“ von Cormac McCarthy

Buch: „Der Passagier“

Autor: Cormac McCarthy

Verlag: Rowohlt

Ausgabe: Hardcover. 528 Seiten

Der Autor: Cormac McCarthy wurde 1933 in Rhode Island geboren und wuchs in Knoxville, Tennessee auf. Für sein literarisches Werk wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Pulitzerpreis und dem National Book Award. Die amerikanische Kritik feierte seinen Roman «Die Straße» als «das dem Alten Testament am nächsten kommende Buch der Literaturgeschichte» (Publishers Weekly). Das Buch gelangte auf Platz 1 der New-York-Times-Bestsellerliste und verkaufte sich weltweit mehr als eine Million Mal. Mehrere von McCarthys Büchern wurden bereits aufsehenerregend verfilmt, «Kein Land für alte Männer» von den Coen-Brüdern, «Der Anwalt» von Ridley Scott und «Ein Kind Gottes» von James Franco. (Quelle: Rowohlt)

Das Buch: 1980, Pass Christian, Mississippi: Bobby Western, Bergungstaucher mit Tiefenangst, stürzt sich ins dunkle Meer und taucht hinab zu einer abgestürzten Jet Star. Im Wrack findet er neun in ihren Sitzen festgeschnallte Leichen. Es fehlen: der Flugschreiber und der zehnte Passagier. Bald mehren sich die Zeichen, dass Western in etwas Größeres geraten ist. Er wird von skrupellosen Männern mit Dienstausweisen verfolgt und heimgesucht von der Erinnerung an seinen Vater, der an der Erfindung der Atombombe beteiligt war, und von der Trauer um seine Schwester, seiner großen Liebe und seinem größten Verderben. (Quelle: Rowohlt)

Fazit: Bücher sind ja, wenn man mal ehrlich ist, für einen durchaus nennenswerten Anteil der Bevölkerung reiner Luxus. Und auch wenn sich mir erschließt, dass der Preis für Bücher, vor dem Hintergrund, wer alles daran und damit Geld verdienen soll und muss, vollkommen angemessen sein mag, gibt es etwas, das noch teurer ist, nämlich Lebenszeit. Die ist zudem – aller Voraussicht nach – begrenzt, was irgendwann zu der Erkenntnis führt, dass man sowieso schon unmöglich all das lesen kann, was einen vielleicht interessiert, solange man nicht vielleicht finanziell unabhängig ist und über zu viel Tagesfreizeit verfügt. Und solange mir nicht irgendwann ein lukrativer Vorstandsposten bei Heckler & Koch, Krauss-Maffei Wegmann oder einer anderen Wachstumsbranche – vielleicht aus dem Energiesektor – ohne Anwesenheitspflicht angeboten wird, was vergleichsweise unwahrscheinlich ist, werde ich weder das eine sein, noch das andere haben.

Und mit dieser Erkenntnis ausgestattet, bleibt einem dann irgendwann nichts anderes mehr übrig, als Lektüren abzubrechen, die einem nicht vollständig zusagen, selbst wenn man eigentlich eine aus schlechteren Zeiten übrig geblieben Einstellung mitbringt, die besagt: „Ich habs bezahlt, also muss ichs auch lesen!“

Und dieses Schicksal des Lektürenabbruchs hat nun leider Cormac McCarthy getroffen. Es mag sein, dass ich seinem Buch damit unrecht tue, es mag sein, dass die verbliebenen etwa 350 Seiten, die ich nicht gelesen habe, zum Besten gehören, was die Literatur jemals hervorgebracht hat, dennoch ist mir meine Zeit zu schade, um den Beweis für diese Vermutung anzutreten, denn zu vieles an „Der Passagier“ hält mich einfach nicht bei der Stange.

Dabei ist die eigentliche Geschichte vermutlich eine ganz spannende: Der Bergungstaucher Bobby Western soll zu einem ins Meer gestürzten Flugzeug tauchen und stellt dabei fest, dass schon jemand dort gewesen sein muss. Es fehlt unter anderem der Flugschreiber und weitere Geräte, später erfährt Western, dass ein weiterer Passagier an Bord gewesen sein soll, der aber unauffindbar bleibt. Spätestens als Western dann Besuch von zwei Herren bekommt, die mich irgendwie an Will Smith und Tommy Lee Jones erinnerten, weiß er, dass er in irgendeine Angelegenheit geraten sein muss, die sich seiner Kontrolle entzieht.

Ja, das klingt alles so weit ganz interessant. Das Drumherum ist es allerdings weniger. So füllt McCarthy seinen Roman abseits des Protagonisten beispielsweise mit allerlei skurrilen Figuren, die allesamt eigentlich den Eindruck machen, nur dafür da zu sein, um zur Charakterisierung und Beschreibung der Hauptfigur beizutragen, was man durchaus einfacher hätte haben können. Dazu kommt die irgendwie überaus maskuline Atmosphäre des Romans, mutmaßlich unterstützt durch das abgeklärte, emotionslose und zuweilen wortkarge Auftreten seines Protagonisten. Irgendwie erwartet man dauernd, Lee Majors würde durch eine Schwingtür treten und so was wie „Howdy, ma’am!“ sagen, auch wenn man in Mississippi meines Wissens nicht „Howdy!“ sagt.

Stilistische Eigenheiten erschweren die Lektüre zusätzlich. So werden, mutmaßlich weil Interpunktion jeglicher Art überbewertet wird, Dialoge nicht als solche kenntlich gemacht, was aus Gründen der künstlerischen Freiheit auch total okay ist, und in der Literatur ohnehin gang und gäbe. Im vorliegenden Fall führte es aber oft dazu, dass ich mitten im Dialog denselben nochmal beginnen musste, weil mir auffiel, dass sich mir nicht erschloss, wer da eigentlich gerade spricht. Wobei der Fehler da bei mir liegen mag. Zudem ergeht sich McCarthy erzählerisch in zahlreichen Details und Banalitäten – was jedoch beispielsweise bei Knausgård bis zu einem gewissen Grad noch stilistisch hervorragend wirkt, wirkt hier leider irgendwann nur noch nervtötend, insbesondere wenn der Autor Passagen schreibt, in denen er Hauptsatz an Hauptsatz reiht, die allesamt mit „Er“ beginnen. Auch das ist selbstredend künstlerische Freiheit, wäre aber selbst Ferdinand von Schirach oder einer beliebigem Deutsch-LK-Schülerin von seiner Lektorin bzw. ihrem Lehrer um die Ohren gehauen worden.

Den schwerwiegendste Ursache dafür, die Lektüre abzubrechen, waren allerdings wohl die Einschübe, in denen die Geschichte von Bobby Westerns Schwester erzählt wird. Alicia ist jung, schön, eine herausragende Mathematikern – und wird zudem von Halluzinationen geplagt. Diese äußern sich dadurch, dass sie regelmäßig Besuch von einer Gruppe skurriler Gestalten bekommt, die an einen fahrenden Zirkus oder eine Theatergruppe vergangener Jahrhunderte erinnern und die von einem Kleinwüchsigen mit flossenartigen Händen angeführt werden, der seitenweise wirren Wortqualm ohne jegliche Konturen, Inhalte oder Zielsetzungen von sich gibt. Ich habe tatsächlich seit langer Zeit keine Passagen mehr in einem Buch gelesen, die mich mehr ermüdet  haben, als diese. Deswegen hab ich mitten in einer solchen auch ganz plötzlich die Frage aufgeworfen: „Sag mal, was tue ich mir denn da an!?“ und beschlossen, die Lektüre abzubrechen.

„Der Passagier“ hätte unter anderem dadurch, dass mit „Stella Maris“ praktisch gleichzeitig ein zweiter Roman erschienen ist, der einige Jahre vorher spielt, und sich mit dem Leben von Alicia auseinandersetzt, eine spannende literarische Erfahrung sein können, in der ein Buch das andere inhaltlich ergänzt oder auch widerlegt, aber – nein ….

Damit tue ich McCarthy, wie gesagt, möglicherweise unrecht, aber manchmal soll es halt nicht sein. Man kann nicht mit jedem Buch kompatibel sein …

Wer sich mit dem Eindruck von Leserinnen und Lesern auseinandersetzen will, die das Buch auch zu Ende gelesen haben, wird beispielsweise fündig unter:

Bookster HRO

Demnächst in diesem Blog: Ich hätte derzeit „Montecrypto“ von Tom Hillenbrand, „Der Donnerstagsmordclub und die verirrte Kugel“ von Richard Osman oder das erfrischend unkorrekte „Die Bäume“ von Percival Everett im Angebot. Man wird sehen …

Montagsmotz #3

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

es hätte in der jüngeren Vergangenheit durchaus die eine oder andere Gelegenheit gegeben, sich erneut an der Montagsmotz-Aktion der geschätzten Bloggerkollegin und Landkreisnachbarin Annuschka, zu beteiligen, es gab aber in dieser Zeit durchaus auch ausreichend Gründe, sich über Dinge aufzuregen, die hier nicht hergehören, und die meine diesbezügliche, vollständige Aufmerksamkeit erforderten, weswegen meine Teilnahme vorübergehend ausblieb.

Nun muss es aber mal wieder sein, denn es gibt so Dinge, die ich nicht verstehe. Sprachen beispielsweise – von den über 7.000 Sprachen weltweit beherrsche ich, um ehrlich zu sein, einen zu vernachlässigenden Bruchteil. Oder die FDP, die verstehe ich auch nicht. Gleiches gilt für die Begeisterung für den FC Bayern München. Und letztlich – und darum geht es – verstehe ich auch die offensichtliche Affinität der Deutschen zu den medialen Erzeugnissen von „Axel Springer SE“ nicht.

Zugegeben, diese medialen Erzeugnisse – allen voran die täglich erscheinende Rohstoffverschwendung mit den vier großen Buchstaben – gaben schon seit jeher Anlass zur Kritik. Beispielsweise berichtete die Rohstoffverschwendung bereits 2009 über einen angeblichen „Kinder-Schänder“ – zusammengesetzte Hauptwörter überschaubaren Ausmaßes ohne Bindestrich zu lesen, traut diese Zeitung ihrer Klientel offensichtlich nicht zu – der von einer „mutigen“ Vierzehnjährigen überführt worden sei. Dumm nur für die Zeitung, dass sich die Vorwürfe vor Gericht schließlich als haltlos erwiesen und die Vierzehnjährige „das Tatgeschehen frei erfunden“ hat, wie es in der Urteilsbegründung zum folgerichtigen Freispruch hieß. Das Bild des Mannes, versehen mit dem obligatorischen Balken über den Augen, lag aber trotzdem millionenfach auf deutschen Frühstückstischen.

Ähnlich verhielt es sich mit der Berichterstattung rund um die Kinderpornografie-Vorwürfe gegen den ehemaligen Bundestagsabgeordneten Sebastian Edathy. „Streicht Edathy das Geld!“ forderte die Zeitung damals 2014 auf ihrer Titelseite. Wohlgemerkt bevor es zu den Vorwürfen ein entsprechendes Urteil gab. Zwar haben sich besagte Vorwürfe letztlich als im Wesentlichen zutreffend erwiesen, das tut nur leider nichts zur Sache, denn als ich das letzte Mal nachgesehen habe, galt in diesem Land noch so etwas wie die Unschuldsvermutung.

Zudem trug die Zeitung seinerzeit mit ihrer Berichterstattung über „Deutschlands faulsten Arbeitslosen“ viel zur Spaltung, Neid, Missgunst, Verteilungskämpfen und Argwohn in diesem Land bei und tut es noch.

Auch intern scheint in dem Laden ja nicht immer alles rund und harmonisch verlaufen zu sein. Die Ablösung von Julian Reichelt, der sich mittlerweile als mehr oder weniger verschwörungserzählerischer YouTuber verdingt und dort mit Wolfgang Kubicki und ähnlich zwielichtigen Personen über die „Herrschaft der Dämonen “ plaudert, war ein eindeutiger Indikator dafür. Wer die diesbezügliche Berichterstattung von Anja Reschke vor einigen Wochen verpasst hat, dem sei ein Besuch in der Mediathek des „Ersten“ empfohlen, die war nämlich sehr erhellend.

Und auch in jüngerer Vergangenheit erzeugen Personen und Medien aus dem Hause Springer bei mir zunehmend für Stirnrunzeln.

So saß in der letzten Woche – war es Donnerstag? – anlässlich der Berichterstattung über die AKW-Abschaltung ein gewisser Herr Vahrenholt in der „Welt“-Schalte. Sein Bild trug sinngemäß die Unterzeile „Experte für“ irgendwas und dieser „Experte“ salbaderte etwas über die Segnungen der Atomkraft, und erzählte dabei auch für Laien wie mich erkennbaren Unsinn, wie den, dass die Atomenergie ja so unfassbar günstig sei, was man nur dann behaupten kann, wenn man die durch Steuergelder finanzierten Folgekosten für Aufbereitung, Zwischen- und Endlagerung, sowie Auf- und Rückbau der AKW außer Acht lässt. Nun kannte ich Herrn Vahrenholt nicht, und googelte deshalb ein wenig in der Gegend herum und stieß in Herrn Vahrenholts „Wikipedia“-Eintrag auf Sätze wie „Vahrenholt bestreitet einen wissenschaftlichen Konsens zur menschengemachten globalen Erwärmung und setzt sich in Medien und eigenen Veröffentlichungen gegen Klimaschutzmaßnahmen ein.“ oder auch „Vahrenholt meint, die Warnung vor der Globalen Erwärmung sei ein Mittel, um Klimaforschern Arbeitsplätze, Prestige und Forschungsgelder zu verschaffen und über Gesetze die Freiheit der Bürger einzuschränken.“

„Ach was!?“, hätte Loriot gesagt. Da sitzt also ein sogenannter „Experte“ herum, der den Eindruck erweckt, er wüsste, wovon er redet, von dem es aber heißt „In der Fachwelt wurden die Thesen Vahrenholts einhellig verworfen.“ Wer ist nun aber schon so nerdig veranlagt, den Herrn zu googeln, um einzuordnen, was von seinen Äußerungen zu halten ist? Gut, ja, ich natürlich, aber wer sonst? Die meisten werden das Geblubber unwidersprochen hinnehmen und es für bare Münze halten.

Vielleicht sollte man den Leuten, die weiterhin beharrlich wöchentlich „spazieren“ gehen und dabei etwas von „Lügenpresse“ brüllen, mal sagen, dass sie nur lange genug suchen müssen, bis sie ein Medium finden, dass ihr Weltbild wenigstens weitgehend unterstützt …

Und der Gipfel der Peinlichkeiten waren die von der „Zeit“ in der letzten Woche veröffentlichten Chatprotokolle von Mathias Döpfner, seines Zeichens Vorstandschef dieses Karnevalsvereins. Und was war da nicht alles zu lesen. Über die „ossis“ – mit kleinem o – hieß es da, sie seien „entweder Kommunisten oder faschisten. Dazwischen tun sie es nicht. Eklig.“ „Die ossis“, schrieb Döpfner zudem – wieder mit kleinem o – „werden nie Demokraten. Vielleicht sollte man aus der ehemaligen ddr eine Agrar und Produktions Zone mit Einheitslohn machen.“ Anlässlich der Lockdowns 2020 urteilte Döpfner „Das ist das Ende der Marktwirtschaft. Und der Anfang von 33.“, offensichtlich, weil Nazi-Vergleiche immer irgendwie sein müssen. „Godwin’s Law“, und so. Über die Ex-Kanzlerin: „Das Land hat jeden Kompass verloren. Und M den Verstand. Sie ist ein sargnagel der Demokratie.“

Was lernen wir nun daraus? Wenig, außer dass Döpfner seinerseits der Sargnagel der Orthografie ist, man als Vorstandschef eines Medienkonzerns offensichtlich nicht mehr richtig schreiben können muss und Abiturprüfungen in zehn Jahren wahrscheinlich aus Singen und Klatschen bestehen. Aber es verwirrt dann irgendwie doch.

Dass Döpfner sich mittlerweile entschuldigt hat, hilft da nur wenig. Er habe sich „zur polemischen Übertreibung“ verleiten lassen, schrieb er. Wieder hätte Loriot „Ach was!?“ gesagt. So oft? “ „Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht – mir gelingt es nicht immer, private Nachrichten im korrekten Ton zu schreiben.“ schrieb er. Mir schon, Herr Döpfner! „Wenn ich wütend oder sehr froh bin, wird mein Handy zum Blitzableiter.“ schrieb er. Impulskontrolle kann man erlernen, Herr Döpfner! Seine Worte seien dann oft „ins Unreine“ getippt worden, schreibt er. Das sieht man, Herr Döpfner.

Letztlich stellt sich mir die Frage, wie einem solchen Medienkonzern immer noch in Scharen Leser und/oder Zuschauer hinterherrennen können!? Eine Antwort habe ich darauf leider nicht, mutmaße nur, dass es nicht gut sein kann, wenn die Menschen zuhauf mit „Angst, Hass, Titten und dem Wetterbericht“ gefüttert werden, mit unzähligen Un- oder Halbwahrheiten, mit Ansichten selbsternannter Experten, von denen man noch froh sein muss, dass sie nicht im Brustton der Überzeugung demnächst vielleicht die Ansicht vertreten, dass es sinnvoll sein könnte, künftig wieder bei Bratwurst und Bier jeden zweiten Dienstag die ortsansässige Rothaarige auf dem Dorfplatz abzufackeln..

Trotzdem hat beispielsweise die „Bild“ immer noch die höchste Auflage aller bundesweit erscheinenden Tageszeitungen.

Passend dazu hat sie und/oder ihr Onlineauftritt aber auch im Jahr 2023 bereits die meisten Rügen des Presserates erhalten, mit 8 von 17 bisher ausgesprochenen Rügen fast die Hälfte. Reife Leistung …

Hach, wie gesagt, manche Dinge verstehe ich nicht …

„Dein Fortsein ist Finsternis“ von Jón Kalman Stefánsson

Buch: „Dein Fortsein ist Finsternis“

Autor: Jón Kalman Stefánsson

Verlag: Piper

Ausgabe: Hardcover, 544 Seiten

Der Autor: Jón Kalman Stefánsson, geboren 1963 in Reykjavík, zählt zu den bedeutendsten Schriftstellern Islands. Er arbeitete in der Fischindustrie, als Maurer und Polizist, bevor er sich in Mosfellsbær bei Reykjavík niederließ. Sein Werk wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und in ganz Europa ausgezeichnet, u.a. mit dem isländischen Literaturpreis. Der internationale Durchbruch gelang ihm mit „Himmel und Hölle“, zuletzt erschienen „Etwas von der Größe des Universums“ und „Ástas Geschichte“. 2018 war Jón Kalman Stefánsson für den alternativen Literaturnobelpreis nominiert. (Quelle: Piper)

Das Buch: Ein Mann erwacht in einer Kirche, irgendwo tief in den Westfjorden Islands, und erinnert sich an nichts. Doch die Frau, der er auf dem Friedhof begegnet, erkennt ihn wieder. Rúna berichtet von ihrer verstorbenen Mutter, und sie schickt ihn zu ihrer Schwester Sóley, mit der ihn eine brüchige Nähe zu verbinden scheint. Mithilfe ihrer und anderer Erzählungen setzt er sein Leben neu zusammen – bis sich nicht nur sein, sondern das Schicksal aller Menschen dieses einsamen Fjords vor uns erhebt. (Quelle: Piper)

Fazit: Um es gleich vorweg zu sagen: Ich will Sonne! Und ich will nicht nur Sonne, ich will auch Wochenende. Ich weiß, wir hatten gerade eines. Und ich will beides zusammen, nicht jeweils separat für sich. Ich will – ich möchte für gewöhnlich, mittlerweile will ich aber – also Sonne und Wochenende. Am besten gleich. Das würde nämlich die Gelegenheit bieten, sich mal wieder ein ganzes Wochenende lang mit einem Buch im Garten einzufinden, und selbiges dann auch zügig durchzulesen. Denn es gibt Bücher – und „Dein Fortsein ist Finsternis“ ist so eins -, die profitieren vermutlich ungemein davon, wenn man sie in recht kurzer Zeit durchlesen kann und nicht nur hier und da mal ein wenig vorankommt. Der zögerliche Lesefortschritt ist vermutlich einer der Gründe, warum Stefánssons Buch, um auch das gleich vorweg zu sagen, bei mir nicht vollständig gut ankam.

Dabei wollte ich nach etwa 150 zügig gelesenen Seiten dieses Buch sogar noch verschenken. Also, nicht in dem Sinne, dass ich es einfach nur loswerden wollte, und notfalls auch für lau, sondern in dem Sinne, dass ich durchaus Menschen kenne, von denen ich sicher bin, dass ich ihnen mit diesem Buch eine kleine Freude gemacht hätte.

Auf diesen 150 Seiten lernen wir den namenlosen Protagonisten des Buches kennen – und er sich selbst auch ein bisschen -, der eines Tages in einem isländischen Örtchen in der Kirche aufwacht und sich weder daran erinnern kann, wer er ist, noch an sonst irgendwas. Für gewöhnlich, das gebe ich gerne zu, kann ich mit dem Motiv der Amnesie in der Literatur nicht mehr so wirklich etwas anfangen, weil ich es als arg überstrapaziert empfinde, vor dem Hintergrund der gesamten Thematik des Buches ergibt es aber mehr als nur ein wenig Sinn.

Beim Verlassen der Kirche trifft der Protagonist auf Rúna, die ihn zu kennen scheint. Unser vergesslicher Held versucht, sich nichts anmerken zu lassen, und sich durch die Erzählungen der Menschen so langsam selbst ein Bild zusammenzusetzen. Beispielsweise, indem Rúna ihm die Geschichte ihrer Eltern erzählt, die nur deshalb zueinander fanden, weil Rúnas Mutter und ihr damaliger Freund auf dem Weg in ein weiter nördlich gelegenes Seebad eine Reifenpanne hatten und dabei auf Rúnas späteren Vater trafen.

Ausgehend von dieser Geschichte geht Stefánsson immer weiter zurück in der Zeit, wendet sich einer durchaus nennenswerten Zahl an Figuren und deren (Vor)-Geschichten zu und setzt somit Stück für Stück ein Gesamtbild der Bewohner und eine Art Stammbaum des isländischen Örtchens zusammen.

Und das ist auf handwerklicher Ebene wirklich sehr gut gemacht, und erreicht mich anfänglich durchaus auch in emotionaler Hinsicht, reißt zuweilen zu diversen „Ahs!“ und „Ohs!“ hin. Und dem Wunsch, das Buch zu verschenken. Mit zunehmender Seitenzahl, die in umgekehrt proportionalem Verhältnis zum Lesetempo stand, offenbaren sich für mich dann aber doch so einige Schwierigkeiten, die den anfänglich positiven Eindruck ein wenig verhagelt haben.

Denn was zu Beginn noch emotional wirkt, wirkt früher oder später – weil gefühlt so wirklich jede Figur ein in irgendeiner Weise tragisches Schicksal hat – leider nur noch nervtötend. Man möchte dem Buch irgendwann: „ICH HAB ES AUCH NICHT IMMER LEICHT!“ entgegenbrüllen. Und es wirkt nervtötend, weil im späteren Verlauf deutlich wird, dass das, was Stefánssons Figuren, oder sein Protagonist, an vermeintlich hochphilosophischen Gedanken zum Leben, dem Universum und dem ganzen Rest, beizutragen haben, zwischenzeitlich nicht über Gemeinplätze hinausgeht, die nicht nennenswert tiefsinniger sind, als würde ich „Es is‘ ja, wie es is‘ …“ sagen, die aber so bedeutungsschwanger daherkommen, als wäre die Weisheit der gesamten Menschheit in ihnen gefangen. Vielleicht ist sie das ja auch und sie kommt deswegen nicht raus.

Dazu kommt dann noch die unfassbar redundante Erzählweise. Nicht, indem Handlungselemente häufiger erzählt würden, sondern eher durch die massenhafte Verwendung einzelner erzählerischer Motive und Formulierungen. Beispielsweise wird gefühlt tausendfach über die Frau des Pastors Pétur gesagt, dass sie „Hände aus Licht“ habe. Und wenn man kein unfassbar schlechtes Namensgedächtnis hat – und gut ist meins keinesfalls -, dann weiß man auch, dass Guðríður irgendwann mal einen Artikel über Regenwürmer geschrieben hat und dieser in einer Fachzeitschrift veröffentlicht wurde. Man muss das nicht milliardenfach wiederholen. Ähnliche Beispiele gäbe es zuhauf. Das mag Poesie sein, ich persönlich finde es irgendwo zwischen befremdlich und fürchterlich.

Dabei ist Stefánssons erzählerisches Anliegen ein recht hehres, denn nach meinem Verständnis des Romans liegt es im Versuch, gegen das Vergessen anzuschreiben. Er beschäftigt sich viel mit der Frage, was von uns denn bleibt, wenn wir gehen. Denn „Tot nur ist, wer vergessen wird.“, wie es nicht bei Yoda, sondern bei Christian von Zedlitz heißt. Aber was dann? Wenn die, die sich noch an uns erinnern können, ebenfalls gehen? Und die danach? Fällt man gänzlich der Vergessenheit anheim? Und ist das schlimm? Denn tragen wir nicht – in irgendeiner Hinsicht – dazu bei, dass folgende Generationen auf vergangenen und aktuellen aufbauen können? Ist es dann so tragisch, wenn die oder der Einzelne in Vergessenheit gerät? Und falls ja, kann man dagegen vielleicht irgendwas tun? Vielleicht dagegen anschreiben? Seine Gedanken und Gefühle, seine vollständige Weltsicht schriftlich festhalten, auf dass potenziell für alle Zeiten erhalten bliebe, was ich über das Leben, das Universum und den ganzen Rest denke? Und was dann?

Der isländische Autor wird diesem Anliegen mit seinem Buch in handwerklicher Hinsicht sogar vollkommen gerecht. „Dein Fortsein ist Finsternis“ ist hervorragend aufgebaut, das muntere und teils willkürlich wirkende Umherspringen zwischen Zeiten und Personen macht Spaß zu lesen und letztlich widmet er sich den im letzten Absatz genannten Fragen intensiv.

In Summe scheitert der Roman für mich aber eben an den erwähnten, erzählerischen Verschrobenheiten und dem gravitätischen, tiefgründigen Anstrich, den sich der Roman selbst verleiht, durch den aber zuweilen der Firnis der Banalität durchschimmert.

Vielleicht tue ich dem Buch aber auch unrecht. Vielleicht hätte es mir bei sonniger Wetterlage besser gefallen. An einem Wochenende. So jedoch habe ich, das gebe ich zu, die letzten etwa 80 Seiten allenfalls quergelesen und stelle fest, dass man sich dem allenthalben geäußerten Lob über einen Roman ja nicht immer anschließen muss.

Demnächst in diesem Blog: Entweder Clemens J. Setz oder Richard Osman. Oder ganz was anderes.