Buch: „Gefangene der Zeit – Geschichte und Zeitlichkeit von Nebukadnezar bis Donald Trump“
Autor: Christopher Clark
Verlag: Pantheon
Ausgabe: Paperback, 336 Seiten
Der Autor: Christopher Clark, geboren 1960, lehrt als Professor für Neuere Europäische Geschichte am St. Catharine’s College in Cambridge. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Geschichte Preußens. Er ist Autor einer Biographie Wilhelms II., des letzten deutschen Kaisers. Für sein Buch »Preußen« erhielt er 2007 den renommierten Wolfson History Prize sowie 2010 als erster nicht-deutschsprachiger Historiker den Preis des Historischen Kollegs. Sein epochales Buch über den Ersten Weltkrieg, »Die Schlafwandler« (2013), führte wochenlang die deutsche Sachbuch-Bestseller-Liste an und war ein internationaler Bucherfolg. 2018 erschien von ihm der vielbeachtete Bestseller »Von Zeit und Macht«. (Quelle: Random House)
Das Buch: Was hat der Brexit mit Bismarck zu tun? Was verbindet die antike Alexanderschlacht bei Issus mit der Schlacht gegen Napoleon bei Jena 1806? Was lehren uns Psychogramme aus dem Dritten Reich über Gehorsam und Courage? Und wie lässt sich Weltgeschichte schreiben, ohne dabei dem Eurozentrismus verhaftet zu bleiben? Christopher Clark, der mit seinen Büchern über Preußen und den Beginn des Ersten Weltkriegs Millionen Leser begeistert hat, beweist mit seinem neuen Band, wie vielfältig seine Interessen als Historiker sind. In insgesamt 13 ebenso klugen wie elegant geschriebenen Essays zeigt er, wie sehr historische Ereignisse und Taten, Vorstellungen von Macht und Herrschaft über die Zeiten hinweg fortwirken – bis heute. (Quelle: Random House)
Fazit: Als halbstudierter Historiker, man könnte auch sagen, als interessierter Laie, führe ich mir gerne mal Sachbücher mit historischer Thematik zu Gemüte. Und wessen Bücher wären dafür besser geeignet, als die des sympathischen Australiers Christopher Clark!?
In seinem neuen Buch nimmt sich der Historiker keines bestimmten Themas an, sondern versammelt darin 13 Essays, die der Frage auf den Grund gehen, ob historische Persönlichkeiten und Ereignisse tatsächlich als „Gefangene der Zeit“ gesehen werden können, oder ob sie nicht doch – wenn auch manchmal schwer nachweis- oder fassbar – Auswirkungen bis in unsere heutige Zeit haben könnten. Jedenfalls nehme ich an, dass das der rote Faden der Essay-Sammlung sein soll, so richtig gefunden habe ich den zuweilen nämlich nicht.
Dass es in einer solchen Textsammlung Texte gibt, die einem mehr und welche, die einem weniger zusagen, liegt in der Natur der Sache. So erkennt man bereits im Vorwort, dass Texte durchaus Gefangene ihrer Zeit sein können, denn das Vorwort entstand noch in pandemischen Prä-Impfstoff-Zeiten, weswegen manche Passagen mittlerweile obsolet sind. Ich persönlich finde, es wäre ein Leichtes gewesen, das Vorwort für die jüngst erschienene Paperback-Ausgabe ein wenig zu überarbeiten und dem aktuellen Stand anzupassen. Ich gebe aber zu, dass das Leiden auf relativ hohem Niveau ist.
In einigen der anschließenden Essays ist die Grundsatzfrage der historischen Nachwirkung von Personen, Ereignissen, Gedanken und Überzeugungen deutlich ersichtlich. So stellt Clark in seinem Essay „Welche Bedeutung hat eine Schlacht?“ deutlich heraus, welche Folgen die desaströse Niederlage Preußens in der Schlacht bei Jena und Auerstedt 1806 nicht nur für die Organisation des preußischen Heeres, sondern auch für die Gesellschaft Preußens als solche hatte, indem beispielsweise das Bildungssystem und die Landwirtschaft umgekrempelt wurde. Er stellt zudem – für den roten Faden des Buches ungleich wichtiger – heraus, welche Folgen die Schlacht für die weltweiten Militärs der Zukunft hatte, indem er darauf hinweist, dass sich das Konzept der „Entscheidungsschlacht“, mit der man hofft, einen Krieg mit einer einzigen, großen Kraftanstrengung zu gewinnen, nach Jena und Auerstedt eigentlich dauerhaft erledigt hatte. Seither werden Kriege üblicherweise von einzelnen, vergleichsweise kleineren Operationen dominiert oder verharren – wie aktuell ganz besonders tragisch zu sehen – in einem Artillerieduell.
Auch der nachfolgende Essay „Von Bismarck“ lernen hat seinen unbetrittenen Reiz. Hier vergleicht er die Handlungsweise und Persönlichkeitsstruktur Bismarcks mit der von David Cummings, einem der einstmals führenden Köpfe der Brexiteers und begeistertem Bismarck-Fan. Die Parallelen werden schlüssig und nachvollziehbar herausgearbeitet – und wirken in Summe dann ein durchaus bisschen gruselig.
Auch „Leben und Tod des Generalobersten Blaskowitz“ über Johannes Albert Blaskowitz gehört zu den lesenswerten Essays. Blaskowitz war im Dienste der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg zunächst Befehlshaber in Polen, später in Frankreich, allerdings nie Parteimitglied und beim „GröFaZ“ nie wirklich wohl gelitten. Das mag unter anderem damit zusammenhängen, dass Blaskowitz in seiner Zeit als Befehlshaber in Polen in schöner Regelmäßigkeit Protestnoten, Beschwerden und Berichte über die Behandlung der polnischen Zivilbevölkerung – man könnte auch sagen über die willkürliche Ermordnung zahlloser Menschen – durch Polizei und SS ausformulierte und nach Berlin schickte. Clark weist in seinem Essay nach, dass es sich bei Blaskowitz allerdings mitnichten um eine Art gutes Gewissen der Wehrmacht gehandelt hat, sondern schlicht um einen im Kern zutiefst unpolitischen Menschen, dessen oberstes Ziel war, seinen Job als Soldat tadellos zu erledigen. Und willkürliche Erschießungen der Zivilbevölkerung deckte sich mit diesem soldatischen Kodex einfach nicht, grundlegende moralische Bedenken waren allerdings nicht die Triebfeder hinter Blaskowitz Protestschreiben. Letztlich wirft Clark hier die völlig Frage auf, ob ein solcher, lediglich seinem soldatischen Kodex unterworfener, ansonsten aber als unpolitisch geltender Mensch, mit seinem Handeln dem damaligen NS-Regime – wenn er es auch nie offen unterstützte – nicht doch eher Vorschub geleistet haben dürfte.
Für mich am aufschlussreichsten war der Essay „Von Nationalisten, Revisionisten und Schlafwandlern“, in dem er Stellung gegenüber seinen Kritikern an seinem Bestseller „Die Schlafwandler: Wie Europa in den Ersten Weltkrieg“ bezieht – von dem an dieser Stelle übrigens auch bald zu lesen sein wird, da ich es mir derzeit zu Gemüte führe. Besagte Kritiker warfen Clark nach der Veröffentlichung des Buches Geschichtsrevisionismus vor. Ihm wurde ein wissenschaftlicher Rückschritt hinter die Erkenntnisse des Historikers Fritz Fischer unterstellt, der seinerzeit – verkürzt gesagt – die Thesen aufgestellt hat, dass Deutschland spätestens ab dem Jahr 1912 das Ziel eines Krieges ins Auge gefasst und seitdem nur auf eine günstige Gelegenheit gewartet habe und diese in der Ermordung des Erzherzogs Franz Ferdinand auch gefunden zu haben schien, somit Deutschland auch die Hauptschuld am Kriegsausbruch trage. Haben diese Erkenntnisse seinerzeit massive Diskussionen sowie die entsprechend genannte „Fischer-Kontroverse“ ausgelöst, so galten sie in der Geschichtsschreibung in der Folge als weitgehend anerkannt. Irritierend ist in diesem Zusammenhang, dass die Kritiker Clarks die Erkenntnisse von Fischer als eine Art allgemeingültigen Forschungsabschluss zur Kriegsschuldfrage betrachten. Als etwas, nach dem nichts mehr kommen könnte. In der Naturwissenschaft undenkbar, in der Geschichtswissenschaft aber eigentlich auch. Zumal man Fischers Recherchen seinerzeit vorgeworfen hat, dass diese ohne Einordnung in einen gesamteuropäischen Zusammenhang vorgenommen wurden – eben diese geamteuropäische Sichtweise ist nun aber gerade genau das, was Clark in „Die Schlafwandler“ tut. Zudem befindet sich der vermeintliche „Geschichtsrevisionist“ mit seinen Ansichten mittlerweile auch in guter Gesellschaft, vertritt beispielsweise der Historiker Herfried Münkler in seinem Buch „Der Große Krieg“ – welches übrigens gerade in meine Wunschliste gewandert ist – doch ebenfalls ähnlich gelagerte Thesen.
All diesen positiven Essaybeispielen stehen, beispielsweise mit dem Essay „Hoch in heiterer Luft“ nur wenige gegenüber, die mich nicht völlig überzeugt haben, mitunter auch, weil sie mich einfach thematisch weniger interessierten. Oder aber, weil der Erkenntnisgewinn überschaubar blieb. So mag Clarks „Nachruf auf einen Freund“ dem australischen Historiker ein tiefes Bedürfnis gewesen sein, mehr Wirkung hätte dieser Essay – was ich völlig respektvoll meine – aber sicherlich auf Leserinnen und Leser, denen eben dieser Freund, anders als mir, auch bekannt war.
Insgesamt werden historisch interessierten Leserinnen und Lesern – andere werden sich naturgemäß weniger angesprochen fühlen – in 13 Texten von insgesamt überschaubarer Länge und in sehr lesbar formuliertem Ton interessante Thesen präsentiert, über die nachzudenken sich durchaus lohnt.
Demnächst in diesem Blog: „Carl Haffners Lieben zum Unentschieden“ von Thomas Glavinic