„Gefangene der Zeit“ von Christopher Clark

Buch: „Gefangene der Zeit – Geschichte und Zeitlichkeit von Nebukadnezar bis Donald Trump“

Autor: Christopher Clark

Verlag: Pantheon

Ausgabe: Paperback, 336 Seiten

Der Autor: Christopher Clark, geboren 1960, lehrt als Professor für Neuere Europäische Geschichte am St. Catharine’s College in Cambridge. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Geschichte Preußens. Er ist Autor einer Biographie Wilhelms II., des letzten deutschen Kaisers. Für sein Buch »Preußen« erhielt er 2007 den renommierten Wolfson History Prize sowie 2010 als erster nicht-deutschsprachiger Historiker den Preis des Historischen Kollegs. Sein epochales Buch über den Ersten Weltkrieg, »Die Schlafwandler« (2013), führte wochenlang die deutsche Sachbuch-Bestseller-Liste an und war ein internationaler Bucherfolg. 2018 erschien von ihm der vielbeachtete Bestseller »Von Zeit und Macht«. (Quelle: Random House)

Das Buch: Was hat der Brexit mit Bismarck zu tun? Was verbindet die antike Alexanderschlacht bei Issus mit der Schlacht gegen Napoleon bei Jena 1806? Was lehren uns Psychogramme aus dem Dritten Reich über Gehorsam und Courage? Und wie lässt sich Weltgeschichte schreiben, ohne dabei dem Eurozentrismus verhaftet zu bleiben? Christopher Clark, der mit seinen Büchern über Preußen und den Beginn des Ersten Weltkriegs Millionen Leser begeistert hat, beweist mit seinem neuen Band, wie vielfältig seine Interessen als Historiker sind. In insgesamt 13 ebenso klugen wie elegant geschriebenen Essays zeigt er, wie sehr historische Ereignisse und Taten, Vorstellungen von Macht und Herrschaft über die Zeiten hinweg fortwirken – bis heute. (Quelle: Random House)

Fazit: Als halbstudierter Historiker, man könnte auch sagen, als interessierter Laie, führe ich mir gerne mal Sachbücher mit historischer Thematik zu Gemüte. Und wessen Bücher wären dafür besser geeignet, als die des sympathischen Australiers Christopher Clark!?

In seinem neuen Buch nimmt sich der Historiker keines bestimmten Themas an, sondern versammelt darin 13 Essays, die der Frage auf den Grund gehen, ob historische Persönlichkeiten und Ereignisse tatsächlich als „Gefangene der Zeit“ gesehen werden können, oder ob sie nicht doch – wenn auch manchmal schwer nachweis- oder fassbar – Auswirkungen bis in unsere heutige Zeit haben könnten. Jedenfalls nehme ich an, dass das der rote Faden der Essay-Sammlung sein soll, so richtig gefunden habe ich den zuweilen nämlich nicht.

Dass es in einer solchen Textsammlung Texte gibt, die einem mehr und welche, die einem weniger zusagen, liegt in der Natur der Sache. So erkennt man bereits im Vorwort, dass Texte durchaus Gefangene ihrer Zeit sein können, denn das Vorwort entstand noch in pandemischen Prä-Impfstoff-Zeiten, weswegen manche Passagen mittlerweile obsolet sind. Ich persönlich finde, es wäre ein Leichtes gewesen, das Vorwort für die jüngst erschienene Paperback-Ausgabe ein wenig zu überarbeiten und dem aktuellen Stand anzupassen. Ich gebe aber zu, dass das Leiden auf relativ hohem Niveau ist.

In einigen der anschließenden Essays ist die Grundsatzfrage der historischen Nachwirkung von Personen, Ereignissen, Gedanken und Überzeugungen deutlich ersichtlich. So stellt Clark in seinem Essay „Welche Bedeutung hat eine Schlacht?“ deutlich heraus, welche Folgen die desaströse Niederlage Preußens in der Schlacht bei Jena und Auerstedt 1806 nicht nur für die Organisation des preußischen Heeres, sondern auch für die Gesellschaft Preußens als solche hatte, indem beispielsweise das Bildungssystem und die Landwirtschaft umgekrempelt wurde. Er stellt zudem – für den roten Faden des Buches ungleich wichtiger – heraus, welche Folgen die Schlacht für die weltweiten Militärs der Zukunft hatte, indem er darauf hinweist, dass sich das Konzept der „Entscheidungsschlacht“, mit der man hofft, einen Krieg mit einer einzigen, großen Kraftanstrengung zu gewinnen, nach Jena und Auerstedt eigentlich dauerhaft erledigt hatte. Seither werden Kriege üblicherweise von einzelnen, vergleichsweise kleineren Operationen dominiert oder verharren – wie aktuell ganz besonders tragisch zu sehen – in einem Artillerieduell.

Auch der nachfolgende Essay „Von Bismarck“ lernen hat seinen unbetrittenen Reiz. Hier vergleicht er die Handlungsweise und Persönlichkeitsstruktur Bismarcks mit der von David Cummings, einem der einstmals führenden Köpfe der Brexiteers und begeistertem Bismarck-Fan. Die Parallelen werden schlüssig und nachvollziehbar herausgearbeitet – und wirken in Summe dann ein durchaus bisschen gruselig.

Auch „Leben und Tod des Generalobersten Blaskowitz“ über Johannes Albert Blaskowitz gehört zu den lesenswerten Essays. Blaskowitz war im Dienste der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg zunächst Befehlshaber in Polen, später in Frankreich, allerdings nie Parteimitglied und beim „GröFaZ“ nie wirklich wohl gelitten. Das mag unter anderem damit zusammenhängen, dass Blaskowitz in seiner Zeit als Befehlshaber in Polen in schöner Regelmäßigkeit Protestnoten, Beschwerden und Berichte über die Behandlung der polnischen Zivilbevölkerung – man könnte auch sagen über die willkürliche Ermordnung zahlloser Menschen – durch Polizei und SS ausformulierte und nach Berlin schickte. Clark weist in seinem Essay nach, dass es sich bei Blaskowitz allerdings mitnichten um eine Art gutes Gewissen der Wehrmacht gehandelt hat, sondern schlicht um einen im Kern zutiefst unpolitischen Menschen, dessen oberstes Ziel war, seinen Job als Soldat tadellos zu erledigen. Und willkürliche Erschießungen der Zivilbevölkerung deckte sich mit diesem soldatischen Kodex einfach nicht, grundlegende moralische Bedenken waren allerdings nicht die Triebfeder hinter Blaskowitz Protestschreiben. Letztlich wirft Clark hier die völlig Frage auf, ob ein solcher, lediglich seinem soldatischen Kodex unterworfener, ansonsten aber als unpolitisch geltender Mensch, mit seinem Handeln dem damaligen NS-Regime – wenn er es auch nie offen unterstützte – nicht doch eher Vorschub geleistet haben dürfte.

Für mich am aufschlussreichsten war der Essay „Von Nationalisten, Revisionisten und Schlafwandlern“, in dem er Stellung gegenüber seinen Kritikern an seinem Bestseller „Die Schlafwandler: Wie Europa in den Ersten Weltkrieg“ bezieht – von dem an dieser Stelle übrigens auch bald zu lesen sein wird, da ich es mir derzeit zu Gemüte führe. Besagte Kritiker warfen Clark nach der Veröffentlichung des Buches Geschichtsrevisionismus vor. Ihm wurde ein wissenschaftlicher Rückschritt hinter die Erkenntnisse des Historikers Fritz Fischer unterstellt, der seinerzeit – verkürzt gesagt – die Thesen aufgestellt hat, dass Deutschland spätestens ab dem Jahr 1912 das Ziel eines Krieges ins Auge gefasst und seitdem nur auf eine günstige Gelegenheit gewartet habe und diese in der Ermordung des Erzherzogs Franz Ferdinand auch gefunden zu haben schien, somit Deutschland auch die Hauptschuld am Kriegsausbruch trage. Haben diese Erkenntnisse seinerzeit massive Diskussionen sowie die entsprechend genannte „Fischer-Kontroverse“ ausgelöst, so galten sie in der Geschichtsschreibung in der Folge als weitgehend anerkannt. Irritierend ist in diesem Zusammenhang, dass die Kritiker Clarks die Erkenntnisse von Fischer als eine Art allgemeingültigen Forschungsabschluss zur Kriegsschuldfrage betrachten. Als etwas, nach dem nichts mehr kommen könnte. In der Naturwissenschaft undenkbar, in der Geschichtswissenschaft aber eigentlich auch. Zumal man Fischers Recherchen seinerzeit vorgeworfen hat, dass diese ohne Einordnung in einen gesamteuropäischen Zusammenhang vorgenommen wurden – eben diese geamteuropäische Sichtweise ist nun aber gerade genau das, was Clark in „Die Schlafwandler“ tut. Zudem befindet sich der vermeintliche „Geschichtsrevisionist“ mit seinen Ansichten mittlerweile auch in guter Gesellschaft, vertritt beispielsweise der Historiker Herfried Münkler in seinem Buch „Der Große Krieg“ – welches übrigens gerade in meine Wunschliste gewandert ist – doch ebenfalls ähnlich gelagerte Thesen.

All diesen positiven Essaybeispielen stehen, beispielsweise mit dem Essay „Hoch in heiterer Luft“ nur wenige gegenüber, die mich nicht völlig überzeugt haben, mitunter auch, weil sie mich einfach thematisch weniger interessierten. Oder aber, weil der Erkenntnisgewinn überschaubar blieb. So mag Clarks „Nachruf auf einen Freund“ dem australischen Historiker ein tiefes Bedürfnis gewesen sein, mehr Wirkung hätte dieser Essay – was ich völlig respektvoll meine – aber sicherlich auf Leserinnen und Leser, denen eben dieser Freund, anders als mir, auch bekannt war.

Insgesamt werden historisch interessierten Leserinnen und Lesern – andere werden sich naturgemäß weniger angesprochen fühlen – in 13 Texten von insgesamt überschaubarer Länge und in sehr lesbar formuliertem Ton interessante Thesen präsentiert, über die nachzudenken sich durchaus lohnt.

Demnächst in diesem Blog: „Carl Haffners Lieben zum Unentschieden“ von Thomas Glavinic

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„Der Nachtstimmer“ von Maarten ´t Hart

Buch: „Der Nachtstimmer“

Autor: Maarten ‚t Hart

Verlag: Piper

Ausgabe: Taschenbuch, 312 Seiten

Der Autor: Maarten ’t Hart, geboren 1944 in Maassluis bei Rotterdam als Sohn eines Totengräbers, studierte Verhaltensbiologie, bevor er sich 1987 als freier Schriftsteller in Warmond bei Leiden niederließ. Nach seinen Jugenderinnerungen „Ein Schwarm Regenbrachvögel“ erschien 1997 auf Deutsch sein Roman „Das Wüten der ganzen Welt“, der zu einem überragenden Erfolg wurde und viele Auszeichnungen erhielt. Seine zahlreichen Romane und Erzählungen machen ihn zu einem der meistgelesenen europäischen Gegenwartsautoren. (Quelle: Piper)

Das Buch: Eine Hafenstadt in Südholland, bevölkert von Misanthropen und Hinterwäldlern. Ein Orgelstimmer, der seine Arbeit nur in der Stille der Nacht verrichten kann. Und eine Furie von Frau, so schön wie furchteinflößend, die bereits ganz anderen den Kopf verdreht hat. (Quelle: Piper)

Fazit: Ich gehöre zu den Menschen, die schon fast unhöflich früh zu Partys erscheinen – bei literarischen Partys ist jedoch oft das Gegenteil der Fall, will sagen: Zuweilen gehen renommierte Autorinnen und Autoren mit ihrem Schaffen jahrelang oder gar jahrzehntelang an mir vorbei. So auch im vorliegenden Fall. Obwohl zum umfangreichen Schaffen des niederländischen Autors Maarten ´t Hart bereits 18 Romane zählen, war „Der Nachtstimmer“ meine erste diesbezügliche Leseerfahrung. Und es hat den Anschein, als hätte ich nun etwas nachzuholen …

Der Orgelstimmer Gabriel Pottjewijd, Protagonist und Ich-Erzähler des Romans, befindet sich in den 80ern des vergangenen Jahrhunderts auf dem Weg in ein kleines, nicht namentlich genanntes Städtchen – Namen von Straßen und Gebäuden lassen jedoch auf die Geburtsstadt des Autors schließen -, um dort in der „Grote Kerk“, nun ja, eben eine Orgel zu stimmen. Vor Ort angekommen, wird er von der Wirtin des „Seemannsheims“, in dem er untergebracht ist, erst mal mit „FGK“ (Fleisch, Gemüse, Kartoffeln) versorgt, gerät in Kontakt mit dem örtlichen Bibelkreis und macht sich dann alsbald ans Werk. Als Helferin betätigt sich die hierzu in der Vergangenheit bereits öfter eingesetzte 15 Jahre alte Lanna Edelenbos, Tochter der brasilianischstämmigen Stadtschönheit und Seemannswitwe Gracinha.

Lanna wird von den Bürgern der Stadt allgemein als geistig behindert abgetan – vielmehr vermute ich persönlich in der mir eigenen diesbezüglichen grenzenlosen Unkenntnis eher eine Form des Autismus – und auch über Gracinha kursieren die wildesten Geschichten, die Gabriel im Laufe der Zeit im Gespräch mit den Bewohnern des Ortes zu Ohren kommen.

Für Gabriel sind derlei Gerüchte jedoch vollkommen unerheblich, denn Lanna leistet ausnehmend gute Arbeit und zudem genießt er die Anwesenheit Gracinhas – nach einer gewissen Eingewöhnungszeit mit der zuweilen etwas kratzbürstig erscheinenden Brasilianerin – sehr.

Nun hat es aber den Anschein, als würde der enger werdende Kontakt zwischen Gabriel und Gracinha nicht jedem im Ort gefallen. Der Orgelstimmer bekommt Drohbriefe, fühlt sich verfolgt und wird irgendwann sogar ins Hafenbecken gestoßen. In der immer bedrohlicher werdenden Atmosphäre versucht er, einerseits seinen Job gut zu erledigen und andererseits, sich über seinen Umgang mit Gracinha klar zu werden.

Auf der reinen Handlungsebene ist „Der Nachtstimmer“ eigentlich überwiegend recht unspektakulär. So etwas wie Spannung kommt auf, als klar wird, dass die Beziehung zwischen Gabriel und Gracinha jemandem ein Dorn im Auge sein muss, atemlos ist diese Spannung nun aber auch wieder nicht. Das tut dem Gesamteindruck aber überhaupt keinen Abbruch. Denn die wahren Stärken liegen in den Nebensächlichkeiten, den zahllosen Themen, die der Autor anspricht.

Da wäre zunächst mal das Bild, das der Autor vom Leben in dieser zutiefst konservativ-religiösen Stadt malt, von „seiner“ Stadt, in der es schon mal zum Politikum werden kann, wenn ein christlicher Bauunternehmer den Auftrag zum Bau einer Moschee in der Stadt annimmt und der dafür zur Strafe vom Abendmahl ausgeschlossen werden soll. Hartes Brot …

Da wäre aber auch alles das, was ´t Hart der Leserschaft in Person seines Protagonisten verdeutlicht. Gabriel geht guten Gewissens als eigenbrötlerischer, einzelgängerischer und abseits seiner beruflichen Fähigkeiten nicht gerade von sich überzeugter Sonderling durch, der ein Faible für Züge und klassische Musik hat, ansonsten von den modernen Zeiten aber ziemlich überfordert zu sein scheint und insgesamt irgendwie anachronistisch wirkt. Der Gedanke, dass Gabriel hier für den sich mittlerweile in – bei allem gebührenden Respekt – fortgeschrittenen Alter befindlichen Verfasser des Buches steht, der sich in den modernen Zeiten von „heute“ nicht mehr in seiner eigenen Heimatstadt zurechtfindet, drängt sich hier – nebst allen anderen ähnlich gelagerten Interpretationen – förmlich auf.

Zudem nutzt der Autor seinen Protagonisten zu einem sehr gelungenen und überaus vergnüglich zu lesenden Rundumschlag gegen die Religion. Gabriel ist selbst in einem armen, aber religiösen Elternhaus groß geworden, in dem sich als einziges Buch eine Bibel befand, in der dann auch so regelmäßig gelesen wurde, dass der Orgelstimmer große Teile davon auswendig beherrscht. Und irgendwann wurde dem jungen Gabriel bewusst, dass die Bibel Geschichten enthält, die gewisse Ungereimtheiten enthält. Sei es nun die Frage, welche Frauen bei der Kreuzigung Jesu anwesend gewesen sind bzw. gewesen sein können, oder auch nur, warum Bileam beim plötzlichen Sprechen seiner Eselin nicht schlicht eine Herzattacke bekommt, wie es wohl den meisten passieren würde, deren Nutztiere plötzlich das Parlieren anfangen. Nachdem aufgrund dieser Ungereimtheiten die Saat des Zweifels in Gabriel aufkeimt, hat er sich von einem tiefreligiösen Christen zu einem einem überzeugten Atheisten gewandelt. Diese Religionskritik kann als eines der vorherrschenden Themen des Romans betrachtet werden und hat für mich einen Großteil des Reizes der Lektüre ausgemacht.

Und so fabuliert sich `t Hart abseits von formalen Konventionen durch seine Themen, offensichtlichen Anliegen und die von Skurrilitäten angefüllte Handlung, deren skurrilstes Element wahrscheinlich die Geschichte vom Landwirt und dessen Ziege darstellt, die aber hier zum Schutz jüngerer Leserschichten nicht genauer betrachtet werden soll… – Und irgendwann stellt man dann betrübt fest, dass man schon am Ende des Buches angelangt ist und fasst umgehend den Plan, sich mit den früheren Romanen des Autors auseinanderszusetzen. Es sind ja genug da …

Demnächst in diesem Blog: „Gefangene der Zeit“ von Christopher Clark

„Der Gesang der Flusskrebse“ von Delia Owens

Buch: „Der Gesang der Flusskrebse“

Autorin: Delia Owens

Verlag: Heyne

Ausgabe: Taschenbuch, 464 Seiten

Die Autorin: Delia Owens, geboren in Georgia, lebt auf einer Ranch in Idaho. Über zwanzig Jahre erforschte die Zoologin in verschiedenen afrikanischen Ländern Elefanten, Löwen und Hyänen. Als Kind verlebte Owens die Sommerurlaube mit ihren Eltern in North Carolina, wo auch ihr Romandebüt spielt. (Quelle: Heyne)

Das Buch: Chase Andrews stirbt, und die Bewohner der ruhigen Küstenstadt Barkley Cove sind sich einig: Schuld ist das Marschmädchen. Kya Clark lebt isoliert im Marschland mit seinen Salzwiesen und Sandbänken. Sie kennt jeden Stein und Seevogel, jede Muschel und Pflanze. Als zwei junge Männer auf die wilde Schöne aufmerksam werden, öffnet Kya sich einem neuen Leben – mit dramatischen Folgen. (Quelle: Heyne)

Fazit: Manchmal muss ich gewissen Dingen auf den Grund gehen, insbesondere in literarischer Hinsicht. Dieses Bedürfnis geht jetzt nicht unbedingt so weit, dass ich spontan anfangen würde, Lucinda Riley zu lesen, was ich vollkommen wertfrei meine, aber dem Erfolg von „Der Gesang der Flusskrebse“, dem wollte ich schon gerne nachgehen und überprüfen, ob mich ein Buch, das auf den ersten, zweiten und dritten Blick so gar nicht in mein literarisches Beuteschema passt, auch überzeugen würde. Die Antwort, so viel sei vorweggenommen, ist ein klares, definitives „jein“.

Zu Beginn des Romans lernen wir dessen Protagonistin, Kya Clark, kennen. Sie lebt mit ihren Eltern und ihren Geschwistern im Marschland an der Küste von North Carolina im Amerika der 50er-Jahre. Eine eher abgelegene Gegend, in der sich häufig Menschen ansiedeln, die einen guten Grund haben, sich von der Gesellschaft anderer Menschen fernzuhalten. Im Alter von nur sieben Jahren fällt das Leben der jungen Kya allerdings Stück für Stück auseinander. Zunächst verlässt die Mutter die Familie. Sie leidet zu sehr unter ihrem gewalttätigen Ehemann, der sie nach Lust und Laune verprügelt.

Im Laufe der nächsten Jahre werden auch Kyas Geschwister die Familie verlassen. Somit bleibt das junge Mädchen allein mit ihrem gewalttätigen und alkoholkranken Vater. Aber irgendwann bleibt auch dieser verschwunden und Kya ist gezwungen, sich alleine durchzuschlagen. Versuche der Behörden, das Mädchen mittels einer Sozialarbeiterin in die Gesellschaft einzugliedern, schlagen fehl, auch der Versuch eines Schulbesuchs zeitigt keinen dauerhaften Erfolg. Letztlich wird das „Marschmädchen“ einfach irgendwie vergessen und schlägt sich wieder alleine durch.

Dieser erste Teil des Buches, in dem die beschriebenen Ereignisse stattfinden, ist auch gleichzeitig der stärkste. Owens schildert eindrücklich das abgeschiedene Leben ihrer einsamen Protagonistin in weitgehend unberührter Natur zwischen Bootsfahrten und Muschelsammelei.

Irgendwann tritt dann aber der junge Tate in ihr Leben und damit fangen die Probleme an. Für Kya – und für den Roman. Tate ist der Sohne eines Krabbenfischers, oft selbst mit dem Boot in der Gegend unterwegs und freundet sich mit dem jungen Mädchen an. Über die Jahre entsteht eine intensive Freundschaft, Tate bringt ihr das Lesen bei und in der Folge verschlingt Kya förmlich zahlreiche Biologie-Bücher. Aus der Freundschaft wird schließlich mehr, woraus weitere Probleme entstehen. Für Kya – und für den Roman. Aus Gründen, die zu erzählen zu weit führen würde, tritt neben Tate nun auch Chase in ihr Leben, so eine Art „bad guy“, erfolgreicher Quarterback, umwerfend gutaussehend, zwischenmenschlich aber eher diskutabel.

Und irgendwann wird Chase tot aufgefunden. Für die Bewohner des nahe gelegenen Örtchens scheint klar zu sein: „Das Marschmädchen“ muss es gewesen sein. Und plötzlich sieht sich Kya einer Mordanklage gegenüber.

Je weiter der Roman fortschreitet, desto weiter entfernt er sich von der eingangs erzeugten Stimmung und Erzählweise. Stattdessen driftet die Handlung – schon bei der Schilderung der Entwicklung der Freundschaft zwischen Kya und Tate, ganz bestimmt aber spätestens, nachdem Chase zusätzlich noch auf den Plan tritt – zuweilen ins Kitschige ab und sprachlich steht das dem dann leider in nichts nach.

Auf die weiteren Irrungen und Wirrungen, mit denen sich Kya auseinandergesetzt sieht, möchte ich nicht näher eingehen, weil es mir fern liegt, den gesamten Roman nachzuerzählen, aber je länger der Roman dauert, desto mehr hat man den Eindruck, als hätte sich Delia Owens erzählerisch verzettelt, als würde ihr aufgefallen sein, dass hier und da noch lose Fäden ihrer Handlung rumliegen, mit denen man zwischendurch ja noch etwas machen könnte.

In der Folge schleichen sich dann noch so ein, zwei inhaltliche Ideen ein, die das auf logische Stringenz getrimmte Leserhirn zuweilen strapazieren. Beispielsweise betätigt sich Kya im späteren Verlauf der Handlung als Autorin von biologischen Fachbüchern, die sich intensiv mit Flora und Fauna ihrer Heimat beschäftigen. Dabei handelt es sich nicht um „einfache“ Bildbände, was ich Owens vollkommen hätte durchgehen lassen, sondern tatsächlich um Fachliteratur inklusive Schilderung von biologischen Zusämmenhängen, die sich die Protagonistin offensichtlich einfach so durch Beobachtung und eine Handvoll Bio-Bücher erschlossen hat – ohne eine Stunde Biologie-Unterricht genossen zu haben, in dem man ihr hätte erklären können, was sie in diesen Bio-Büchern eigentlich gerade gelesen hat oder gar eine Uni von innen gesehen zu haben.

Der oben genannte Eindruck, dass sich Owens ein bisschen erzählerisch verzettelt haben könnte, wird durch solche deus-ex-machina-Einfälle zusätzlich verstärkt. Möglicherweise möchte „Der Gesang der Flusskrebse“ auch einfach ein bisschen viel auf einmal sein. Es möchte eine Coming-of-Age-Geschichte sein. Es möchte eine Liebesgeschichte sein. Es möchte im Herzen eine Hommage an die Natur und den Planeten sein. Und es möchte so ganz nebenbei auch noch ein Krimi sein, drückt sich aber auch hier vor einer detaillierten Ausarbeitung einer stringenten Krimihandlung, sondern arbeitet allenfalls mit Andeutungen und zieht sich damit noch meinen größten Unmut im Zusammenhang mit der Lektüre zu.

Trotz all der vorgenannten Kritik habe ich „Der Gesang der Flusskrebse“ schon recht gerne und in verdächtig kurzer Zeit gelesen, weiß aber spätestens jetzt auch wieder, warum derartige Bücher auf den ersten, zweiten und dritten Blick so gar nicht in mein Beuteschema passen.

Für Fans anrühriger Wohlfühlliteratur – dieses Ende! – kann „Der Gesang der Flusskrebse“ bedenkenlos empfohlen werden.

Demnächst in diesem Blog: „Der Nachtstimmer“ von Marten ‚t Hart.

„Neulich in der Hölle #10“

Wir befinden uns in der Hölle, dem Stammsitz der Firma „Fate LLP“ deren Eigentümer und Geschäftsführer S. Atan hektisch an seinem Bücherregal rumfummelt, als sein Untergebener, Sekretär, Prokurist und Lakai Lübke das Büro betritt.

„Guten Morgen, Chef, was … was machen Sie da?“

„Ich sortiere mein Bücherregal aus!“

„Warum?“

„Ich will einen Shitstorm vermeiden!“

„Weswegen?“

„Na, haben Sie das noch nicht gehört? Der Ravensburger Kinderbuchverlag hat sein Buch „Der junge Winnetou“ noch vor der Auslieferung aus dem Programm genommen.“

„Wegen? Ach, halt, lassen Sie mich raten …“

„Genau, wegen rassistischer Stereotype und des Vorwurfs der kulturellen Aneignung, weil die Schauspielerinnen und Schauspieler im dazugehörigen Film wohl zweifelsfrei keine … Vertreter der indigenen Bevölkerung sind. Und Karl May war auch keiner.“

„Und nun?“

„Wie, und nun?“

„Na, warum räumen Sie denn jetzt ihr Bücherregal leer?“

„Gegenfrage: Haben Sie je „Fahrenheit 451″ gelesen?“

„Nun machen Sie aber mal ´nen Punkt, Chef. Wir haben ja nun keine Bücher abfackelnde Feuerwehr, keine Bücherpolizei oder sonstwas in der Richtung?“

„Finden Sie nicht? Vielleicht nicht in dieser Form, nein, aber in Form medialer Shitstorms. Und die möchte ich eben vermeiden, nur weil möglicherweise ein Besucher in meinem Büro sieht, dass ich vielleicht noch „Jim Knopf“ oder „Pippi Langstrumpf“ im Regal stehen habe.“

„Haben Sie die denn alle gelesen?“

„Natürlich! Wieso?“

„Haben Sie in ihren damaligen jungen Jahren begriffen, dass es sich dabei um Phantasiegeschichten handelt, die der Realität nicht entsprechen müssen?“

„Natürlich! Wieso?“

„Nur so …“

„Und hier: „Heidi“ – muss auch weg! Ableismus!“

„Jetzt übertreiben Sie aber, Chef!“

„Nein! Ich habe nicht damit angefangen! Und sicher ist sicher!“

„Na, wenn wir beim Vorwurf der kulturellen Aneigung nach der Devise „Sicher ist sicher!“ vorgehen, haben wir aber noch viel Arbeit vor uns, die weit über ihr Bücherregal hinausgeht. Und das hört nie auf!“

„Inwiefern?“

„Nun, zunächst mal würde ich die Kantine anweisen, Tomaten, Mais und alle anderen Lebensmittel zu entfernen, die aus anderen Kulturkreisen eingeflogen werden. Dann muss es mit der Buchhaltung weitergehen. In letzter Konsequenz wäre die Verwendung der arabischen Zahlen nicht mehr haltbar.“

„Ja, aber was machen die in der Buchhaltung denn dann?“

„Die könnten ja wieder zurück zu den römischen Zah…, ach verdammt! Na gut, dann … wird wohl nichts übrig bleiben, als ein separates Zahlensystem zu entwerfen.“

„Aber damit kann doch das Finanzamt dann nichts anfangen?“

„Das soll ja nicht unser Problem sein, wenigstens haben wir uns dann kein Zahlensystem mehr angeeignet.“

„Wenn Sie meinen …“

„Und wir sind ja auch noch nicht am Ende, Chef.“

„Nein?“

„Nein. Nehmen wir nur mal … das Feuer!“

„Das Feuer?“

„Natürlich! Sie werden sich erinnern, das Feuer haben sich damals zuerst die Bewohner aus Höhle 2 untertan gemacht. Streng genommen wäre die Verwendung des Feuers als kulturelle Eigenschaft also demnach nur den Nachkommen der Bewohner von Höhle 2 erlaubt.“

„Das rauszufinden wird aber schwierig sein …“

„Eben, daher im Zweifelsfall, denn sicher ist sicher: Feuer aus!“

„Feuer aus?“

„Feuer aus!“

„Lübke, Sie wissen schon, dass wir hier in der Hölle sind, ja!? Sie wollen jetzt nicht allen Ernstes die Hölle löschen?“

„Ich hab doch gesagt, Chef: Das hört nie auf!“

„Die Anomalie“ von Hervé Le Tellier

Buch: „Die Anomalie“

Autor: Hervé Le Tellier

Verlag: Rowohlt

Ausgabe: Taschenbuch, 352 Seiten

Der Autor: Hervé Le Tellier wurde 1957 in Paris geboren. Er veröffentlichte Romane, Erzählungen, Gedichte und Kolumnen. Seit 1992 ist er Mitglied der Autorengruppe OuLiPo (Ouvroir de Littérature Potentielle), die von François Le Lionnais und Raymond Queneau gegründet wurde und der Autoren wie Georges Perec, Italo Calvino und Oskar Pastior angehörten. Er lebt in Paris. Für seinen Roman «L’Anomalie» erhielt er 2020 den Prix Goncourt. (Quelle: Rowohlt)

Das Buch: Im März 2021 fliegt eine Boeing 787 auf dem Weg von Paris nach New York durch einen elektromagnetischen Wirbelsturm. Die Turbulenzen sind heftig, doch die Landung glückt. Allerdings: Im Juni landet dieselbe Boeing mit denselben Passagieren ein zweites Mal in New York. Im Flieger sitzen der Architekt André und seine Geliebte Lucie, der Auftragskiller Blake, der nigerianische Afro-Pop-Sänger Slimboy, der französische Schriftsteller Victor Miesel, eine amerikanische Schauspielerin. Sie alle führen auf unterschiedliche Weise ein Doppelleben. Und nun gibt es sie tatsächlich doppelt − sie sind mit sich selbst konfrontiert, in der Anomalie einer verrückt gewordenen Welt. (Quelle: Rowohlt)

Fazit: Lateiner würden etwas von „creatio ex nihilo“, der Schöpfung aus nichts, erzählen, Physiker vielleicht etwas vom ersten Satz der Thermodynamik, nach dem die Änderung der inneren Energie eines geschlossenen Systems gleich der Summe der Änderung der Wärme und der Änderung der Arbeit ist, Laien würden vermutlich einfach sagen, dass aus dem Nichts nichts entstehen kann.

Und trotzdem ist anscheinend genau das passiert. Denn die Boing 787 der Fluges AF006 Paris-New York, die im Juni 2021 in den USA landen will, die hat das – mit den exakt gleichen Passagieren an Bord – im März 2021 bereits einmal getan. Passagiere, Crew, Flugzeug, all das existiert jetzt doppelt.

Bevor uns der Autor allerdings mit dieser anspruchsvollen Grundannahme seines Buches konfrontiert, stellt er uns erst mal seine Protagonisten vor, die allesamt an Bord des Fluges, nein, der Flüge saßen. So lernen wir kapitelweise zum Beispiel den Auftragskiller Blake kennen, den nigerianischen Musiker Slimboy oder auch den Autor Victor Miesel. Schon hier gelingt es Le Tellier, rund um seine Protagonisten kleine Geschichten zu erzählen, die man gerne länger auserzählt hätte, über die man gerne einen separaten Roman lesen würde. Die Geschichte von Slimboy, die nicht nur die Tatsache, dass der Sänger mit seiner Homosexualität hinterm Berg halten muss, weil man darauf in seinem Heimatland nicht soooo wohlwollend reagiert, thematisiert, sondern auch das – aus meiner Sicht vollkommen schwachsinnige – Megaprojekt vor der Küste des nigerianischen Bundesstaats Lagos, die auf dem Atlantik abgetrotztem Gebiet errichtete Planstadt Eko Atlantic, diese Geschichte also würde beispielsweise auch einen separaten, kleinen Roman tragen.

Ähnlich verhält es sich mit dem Schriftsteller Victor Miesel, dem der ganz große Erfolg, trotz wohlwollender Besprechungen, bisher nicht zuteil wurde. Im späteren Verlauf ist Miesel so etwas wie der Philosoph des Romans, erklärt anwesenden Journalisten die Natur des Menschen und wirft mit Sätzen um sich, die eine kleine Aphorismensammlung rechtfertigen würden. Auch hier gilt: Davon hätte ich gerne mehr gelesen.

Zurück zur Boing: Da den Damen und Herren der Flugsicherung selbstverständlich nicht unbemerkt bleibt, dass das Flugzeug, das da landen will, bereits einmal gelandet ist und sich der Pilot, der da landen will, tatsächlich eigentlich bereits im Ruhestand befindet, treten Militär und Geheimdienste auf den Plan. Die Maschine wird auf einen Militärflughafen umgeleitet, die Passagiere – 243 an der Zahl – werden dort fürs erste festgehalten.

In ihrer Planlosigkeit wenden sich die Behörden an zwei Wissenschaftler. Diese haben seinerzeit in gemeinsamer Arbeit nach den Anschlägen des 11. September für die US-Regierung ein riesengroßes Maßnahmenpaket erarbeitet, das für eine Unzahl möglicher Krisenszenarien entsprechende Handlungsempfehlungen ausspricht, um zukünftig besser und schneller auf jede Art der Katastrophe reagieren zu können, inklusive des Falles einer potenziellen Zombieapokalypse. Dabei haben sie sich den – vom Militär unbemerkten – Spaß erlaubt, sich das „Protokoll 42“ auszudenken, für den Fall eines Szenarios, das von allen im Maßnahmenpaket berücksichtigten abweicht, und welches unter anderem darin besteht, den Passagieren Fragen aus dem Film „Unheimliche Begegnung der dritten Art“ zu stellen. Douglas Adams und Steven Spielberg hätten ihre Freude …

In der Folge schlägt das Buch dann aber doch mitunter einen etwas ernsteren Ton an und stellt berechtigte Fragen über das Leben, das Universum und den ganzen Rest. Wenn nämlich ganz plötzlich Menschen zweimal auftauchen, bei denen es sich um Grunde unzweifelhaft, genetisch und auch in jeder anderen Hinsicht um exakt dieselbe Person handelt,  nur mit dem Unterschied, das die im März gelandete Identität drei Monate länger gelebt hat, die im Juni gelandete aber glaubt, es sei März, dann wirft so etwas beispielsweise religiöse Fragen auf. Steht dazu irgendwas in der Bibel, dem Koran, der Thora? Und falls ja, was!? Und was, falls nein?

Neben den philosophischen, gesellschaftlichen und religiösen Fragen beschäftigt sich der Autor aber auch mit der Frage, was das Szenario mit den Passagieren selbst macht. Diese werden irgendwann unter Aufsicht von Psychologen quasi mit sich selbst, ihrem zweiten Ich, konfrontiert und erfahren so, wie es ihnen in den letzten drei Monaten ergangen ist. Und wie geht man dann damit um, wenn man weiß, dass man – wie beispielsweise der Pilot – in drei Monaten schwer krank darniederliegen wird? Wie geht man damit um, wenn man wie der Autor Victor Miesel erfährt, dass man im März, unter den Eindrücken des turbulenten Flugs, in atemloser Hast den Bestseller „Die Anomalie“ geschrieben, den Entwurf an seine Verlegerin geschickt, und sich dann umgebracht hat? Wenn man von allen, die nun zweimal vorhanden sind, der einzige ist, für den das nicht gilt, weil man ja eigentlich schon verstorben ist? Irgendwie.

Letztlich versucht Le Tellier, seiner Leserschaft natürlich auch eine Art Lösung oder Ursache für das zweifach erschienene Flugzeug zu präsentieren. Hierbei stützt er sich auf den schwedischen Philosophen Nick Bostrom, nach dem das Leben, wie wir es kennen, beispielsweise nichts anderes sein könnte als eine Simulation einer posthumanen Zivilisation, die mittels entsprechender Computertechnologie die Menschheit und ihre Geschichte virtuell simuliert – so ähnlich, wie wir eben „Die Sims“, „Spore“ oder „Creatures“ auf dem PC simulieren würden. Nur mit dem Unterschied, dass wir in dieser Simulationshypothese selbst die Sims sind … Nun klingt das zunächst vielleicht seltsam, würde aber beispielsweise den den physikalischen Gesetzen folgenden Aufbau des Lebens, des Universums und des ganzen Rests ebenso erklären wie beispielsweise die Tatsache, dass die Menschheit noch keine Kontakt zu Außerirdischen gehabt hätte. Ersteres, weil Quellcode idealerweise auch in sich logisch ist und formalen Gesetzmäßigkeiten unterliegt und letzeres, weil die Simulation potenzieller Aliens für die Simulation vollkommen unerheblich, nur mit Aufwand verbunden und daher vermutlich schlicht nicht implementiert ist.

„Die Anomalie“ ist eines der Bücher, die man, wenn man sie durchgelesen hat, am liebsten sofort ein zweites Mal lesen möchte. Es ist zwar ein wilder Ritt, schert sich wenig um formale Konventionen, verliert dabei aber nie die Stringenz und vor allem sich selbst nicht in irgendwelchen dem Setting geschuldeten Logiklöchern und ist in seiner Mischung aus Sci-Fi, Thriller, Komik, Philosphie und literarischen Spielereien einzigartig. Nach der Lektüre stürzt man vermutlich entweder in eine existenzielle Krise oder nimmt sich demgegenüber stattdessen vor, nie wieder Zeit zu verschwenden. Außer es handelt sich um intendierte Zeitverschwendung. Denn nichts ist schöner als intendierte Zeitverschwendung. Idealerweise mit einem Buch. Ich würde „Die Anomalie“ vorschlagen!

Demnächst in diesem Blog: Sehr zum Unbill eines einzelnen, sehr geschätzten Lesers musste ich auf einen Text zu Nabokovs „Luschins Verteidigung“ vorerst verzichten, einfach, weil dieser Text partout nicht entstehen will. Momentan habe ich außer „Hab ich gelesen!“ wenig dazu zu sagen. Bis mir diesbezüglich etwas einfällt, wenn wir uns vielleicht erst mal „Der Gesang der Flusskrebse“ von Delia Owens zu.

Neulich in der Hölle … #9

Wir befinden uns in der Hölle, dem Stammsitz der Firma Fate LLP, wo wir deren Eigentümer und Geschäftsführer S.Atan dabei über die Schultern schauen können, wir er mit konzentriertem Gesichtsausdruck kleine Kunststoffspielsteine über eine Weltkarte schiebt, als sein Assistent, Prokurist und Untergebener Lübke das Chefbüro betritt.

„Guten Morgen, Chef – Sie, äh, Sie spielen „Risiko“? Mit sich selbst?“

„Morgen, Lübke. Mitnichten, Lübke, mitnichten.“

„Aha. Sondern?“

„Ich bereite mich vor!“

„Worauf?“

„Die Weltherrschaft an mich zu reißen! Muhahahaha!“

„Och, neee, Chef – nicht schon wieder!“

„Nein, nein, nein, Lübke, das wird nicht wieder so ´ne „Pinky und der Brain“-Nummer, nein. Ich habe einen Plan. Und vor der Weltherrschaft …  fange ich vielleicht der Einfachheit halber mal damit an, die Herrschaft in Deutschland zu übernehmen, denn sind wir mal ehrlich, Lübke: Haben Sie nicht den Eindruck, dass die Menschen dort Hilfe brauchen?“

„Inwiefern?“

„Na, zum einen überkommt einen das Gefühl, dass dort Dinge gerne mal ausgesessen werden.“

„Zum Beispiel?“

„Oh, da kann ich Ihnen mehrere nennen. Fangen wir einfach mal mit der Frage an, warum man nach zweieinhalb Jahren Pandemie immer noch keine flächendeckende Luftfilterversorgung an deutschen Schulen hat.“

„Und warum?“

„Kurz gesagt: Bürokratische Hürden, uneinige Einschätzungen von Experten, ob die Dinger wirklich hilfreich sind oder nicht und so weiter – aber mit Sicherheit auch der Gedanke: „Wenn wir es klug anstellen, ziehen wir die Verwaltungsakte so in die Länge, dass die Pandemie ganz sicher irgendwann vorbei ist und wir die Dinger einfach nicht mehr brauchen.“

„Aber ist das nicht eine Unterstellung?“

„Aber natürlich – ich extrapoliere hier von einem Einzelfall nach ähnlichem Muster.“

„Welchem?“

„Na, in einem kleinen Mittelzentrum in der Nähe von diesem Reisswolfblog-Spinner, der bei uns auf der Lohnliste steht, gab es kürzlich eine Diskussion darüber, dass man nur noch bis 2024 Zeit hat, um die dortigen Grundschulen inklusionstauglich zu machen.“

„Wie jetzt? Ich dachte, Deutschland hätte die UN-Behindertenrechtskonvention schon 2009 ratifiziert!?“

„Stimmt ja auch.“

„Ja, aber hätte man dann nicht schon längst …?“

„Selbstverständlich hätte man. Es wäre auch viel günstiger gewesen, wenn man die notwendigen Umbauten schon in der Vergangenheit durchgezogen hätte.“

„Ja, aber … wie begründet die Lokalpolitik das denn?“

„Sinngemäß damit, dass man habe abwarten wollen, ob die Anforderungen durch das Land nicht vielleicht doch noch gesenkt werden und es dann nicht vielleicht doch gereicht hätte, nur eine Schule fit für die Inklusion zu machen statt, wie jetzt, deren vier.“

„Ja, aber – ist das nicht ein ganz bisschen menschenverachtend? Und irgendwie auch … na ja, doof?“

„Zweifellos! Und ein Beispiel für meine o.g. These: Ein Problem aussitzen und abwarten, ob es sich nicht doch von selbst erledigt. Ein weiteres habe ich noch!“

„Nämlich?“

„Die Menschen in diesem Land sind unheimlich gut darin, bis auf Nachkommastellen genau auszurechnen, wann in welcher Branche wie viele Stellen nicht mehr besetzt werden können. Egal, ob es um Kinderärzte, Lehrerinnen oder Pflegekräfte geht – man kann dort präzise voraussagen, wie viele davon beispielsweise 2035 fehlen.“

„Aber?“

„Aber diese Erkenntnis bleibt dann weitgehend konsequenzlos. Ein Rechenspiel ohne Mehrwert. Und wenn dann mal neue Arbeitskräfte in nennenswerter Zahl ins Land kommen, die den Fachkräftemangel vielleicht nicht kurz- oder mittel-, wenigstens aber langfristig abmildern könnten, brüllt der erregte deutsche Michel, mit dessen politischer Bildung, der Bildung allgemein und der Fähigkeit, Dinge außerhalb des eigenen Mikrokosmos zu betrachten, es auch immer weiter bergab geht – aber dazu komme ich später -, der deutsche Michel brüllt in dem Fall dann also irgendwas von „Einwanderung in die Sozialsysteme“. Sie erkennen also, Lübke: In einer Welt, die zögerliches Handeln irgendwann nicht mehr verzeihen wird, sitzt man in der deutschen Politik gerne die Dinge aus, ähnlich wie ein mathematisch mäßig begabter Schüler hofft, dass die Mathearbeit vielleicht ja doch ausfällt – ungeachtet der Tatsache, dass das Problem damit nicht weg, sondern nur verschoben ist.“

„Tja, das …“

„Und diese Koalition! Finden Sie nicht, dass diese Koalition dringend mal einen Mediator bräuchte?“

„Schon, ja.“

„Jemand sagte neulich, die Koalition erwecke den Eindruck eines Ehepaares, dessen Ehe schon lange zerrüttet ist und die nur wegen der Kinder zusammenbleiben – die Kinder wären dann die Deutschen.“

„Treffender Vergleich!“

„Absolut. Manchmal hat man den Eindruck, die Koalitionsparteien betreiben gegeneinander schon Oppositionspolitik, noch während sie in der Regierung sitzen. Ehrlicherweise ist das aber auch kein Wunder, wenn jeden Tag ein FDPler den Mund aufmacht, um Blödsinn zu reden.“

„Wer denn?“

„Na, für gewöhnlich ja Lindner. Der ja vor einiger Zeit anlässlich der Forderung nach einer Verlängerung des 9-Euro-Tickets mit dem Vorwurf der „Gratismentalität à la bedingungsloses Grundeinkommen“ um die Ecke kam. „“Die Menschen auf dem Land, die keinen Bahnhof in der Nähe haben und auf das Auto angewiesen sind, würden den günstigen Nahverkehr subventionieren. Das halte ich für nicht fair.“ hat er gesagt.“

„Und?“

„UND? Selten hat ein Politiker mit so wenig Worten so viel Blödsinn erzählt. Zunächst mal wäre das bedingungslose Grundeinkommen angesichts der Tatsache, dass psychische Erkrankungen eine der häufigsten Ursachen für Ausfallzeiten am Arbeitsplatz und die häufigste für Berufsunfähigkeit darstellen, das wohl wirksamste Instrument, die psychische Gesundheit von Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern beizubehalten, die im Falle eines Jobverlusts wüssten, dass sie immer noch irgendwie existieren könnten, und das ganz ohne sich gegenüber irgendwelchen Ämtern nackig zu machen, bei denen sie ihre Würde am Eingang abgeben müssen, aber das BGE soll uns heute ausnahmsweise mal nicht weiter interessieren. Zurück zu Lindner: Zweitens hat von „gratis“ ja überhaupt niemand etwas gesagt. Einfach nur bezahlbar wäre ja schon schön. Es wurde vorgerechnet, dass ein Preis von 69 Euro gegenzufinanzieren wäre, wenn man im Gegenzug dafür das Dienstwagenprivileg reformieren würde, das den deutschen Steuerzahler 3 Milliarden Euro im Jahr kostet. Das wollte der Lindner aber irgendwie nicht …“

„Warum nur?“

„Tja, keine Ahnung. Jedenfalls: Dann kommt er noch mit dem Argument der Menschen auf dem Land, die den ÖPNV ja nicht wirklich nutzen könnten, ihn aber mitfinanzierten. Erst stellt man den Leuten also einen beschissenen ÖPNV hin und schiebt ihnen dann die Verantwortung für das Auslaufen des 9-Euro-Tickets in die Schuhe. Genial! Und außerdem: Selbst wenn ich den ÖPNV mitfinanziere, ohne ihn zu nutzen: Ich finanziere auch die Instandhaltung von Autobahnen, ohne drauf zu fahren! Ich finanziere auch Polizeieinsätze mit, ohne mich selbst im Stadion zu prügeln. Ich finanziere über meine Steuern anteilig auch die AfD mit, ohne den Reichstag zu stürmen! Mit anderen Worten: Dass man Dinge mitfinanziert, die man selbst nicht nutzt, ist Alltag in Deutschland. Das sollte Herr Lindner in seinem Amt aber bekannt sein.“

„Tja, der Lindner …“

„Na, wenns nur der Lindner wäre! Aber wenn der mal einen Tag an keinem Mikro vorbeikommt oder länger im Bett liegen bleibt, springt sofort der Kubicki in die Bresche. Hier, ganz aktuell: Es gebe „keinen vernünftigen Grund, Nord Stream 2 nicht zu öffnen“ hat er gesagt! Das würde helfen, „dass Menschen im Winter nicht frieren müssen und unsere Industrie nicht schweren Schaden nimmt“, hat er gesagt.

„Ähm, weiß er, dass Krieg herrscht? Dass die Schließung von Nord Stream 2 als Teil der Sanktionen gegen den russischen Aggressor-Autokraten durchaus einen Sinn hat? Dass sich Deutschland anfangs noch dafür kritisieren lassen musste, bei der Durchsetzung von Sanktionen zu zögerlich zu sein?“

„Ja, keine Ahnung! Vielleicht hat er´s vergessen? Vielleicht stellt er sich unter Sanktionen auch eher „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass!“ vor. Nun kann man über Nord Stream 2 unterschiedlicher Meinung sein, man kann ja gerne die Meinung vertreten: „Wenn wir eh Gas aus Russland beziehen, ist auch wurscht, wie viel!“. Mein Problem mit Kubickis Äußerung ist die Erwähnung „dass Menschen im Winter nicht frieren müssen“. Denn sind wir mal ehrlich: Die Menschen, die ob ihrer finanziellen Situation und angesichts der ansteigenden Energiepreise wirklich Gefahr laufen, in diesem oder spätestens im nächsten Winter zu frieren, die sind Kubicki, Lindner und ihrem gemeinnützigen Verein doch scheißegal! Um Kubicki das abzunehmen, hat sein Parteikollege mindestens einmal zu oft den „Eure-Armut-kotzt-mich-an-Mittelfinger“ gegen die Bedürftigen in diesem Land ausgestreckt.“

„Auch wahr, ja!“

„Eben! Und deswegen muss da etwas getan werden.“

„Und da kommen Sie ins Spiel, Chef?“

„Exakt!“

„Wie ist denn ihr Plan?“

„Nun, erst mal ist der Auftritt wichtig. Der muss medienwirksam sein. Ich würde vorschlagen, ich entsteige an der Nordmole in Bremerhaven den Fluten, deute also den halb umgefallenen Leuchtturm dort als eine Art himmlisches Fanal um, ein Fan…“

„Höllisches!“

„Was?“

„Sie sagten „himmlisches“ Fanal.“

„Oh, Freudscher Versprecher … jedenfalls …“

„Entschuldigen Sie die Unterbrechung, Chef, aber ich verstehe die Intention hinter diesem Auftritt, daher mein Gegenvorschlag: Wäre es nicht besser, Sie würden den Fluten der Oder entsteigen? Dass das massenhafte Fischsterben das Resultat des Auftauchens des Höllenfürsten ist, glauben die Leute sofort!“

„Guter Gedanke! Okay – ich steige also aus der Oder. Es muss sichergestellt sein, dass dort dann möglichst viele Leute rumlaufen. In einer spontanen Presseerklärung werde ich ihnen dann erläutern, dass ich, der Höllenfürst persönlich, erschienen bin, um sie in eine bessere Zukunft zu führen. Spontan werden sich die ersten ein paar Transparente mit dem Slogan „S. Atan – Höllisch gut!“ bauen und hinter mir her marschieren. Dann gehts Richtung Berlin! Unterwegs werden sich Myriaden Gleichgesinnte anschließen. Und in Berlin stürzen wir dann die Regierung. So eine Art Kapp-Lüttwitz-Putsch halt.“

„Der … hat aber jetzt nicht so gut funktioniert …“

„War auch gut so – aber mein Putsch ist ja zum Wohl der Allgemeinheit.“

„Ja, das sagen sie alle …“

„Was?“

„Ach, nichts … – und wenn die Regierung dann gestürzt ist, wen werden Sie in Ihre berufen? Darf ich davon ausgehen, Vizekanzler werden zu dürfen?“

„Was? Bleiben Sie mal auf dem Teppich! Wen ich in meine Regierung berufen werde? Niemanden! Das war doch bislang Teil des Problems. Zu viele unterschiedliche Meinungen trafen aufeinander. Nein, ich mach das ganz alleine. Und als erste Amtshandlung …“

„Ja?“

„…werde ich verbindliche Tests zu Intelligenz und politischer Bildung durchführen.“

„Warum?“

„Warum? Sagen Sie, Lübke, haben Sie ein paar der Schreihälse in Neuruppin gesehen bzw. gehört?“

„Ähm – ja.“

„Dann sollten sie die Antwort kennen. 300 Leute, die, wohlwollend betrachtet, mit ausreichend Zeit ausgestattet und in gemeinschaftlicher Gruppenarbeit imstande wären, zwei zweistellige Zahlen zu addieren und anschließend ein annähernd richtiges Ergebnis zu präsentieren. Die Thermopylen hätten Sie mit denen nicht verteidigt …“

„Chef, bitte!“

„Na, ist doch wahr!“

„Selbst wenn! Dummheit und politische Unkenntnis sind nicht strafbar.“

„Noch nicht, Lübke, noch nicht. Unter mir aber schon.“

„Das bedeutet …?“

„Das bedeutet: Wer den eben genannten Test nicht besteht, wird nach Österreich ausgewiesen. Kann für beide Länder nur von Vorteil sein …“

„Das lassen Sie mal bloß nicht die Österreicher hören …“

„Pah …“

„Also – halten wir fest: Sie wollen Deutschland zu so einer Art Diktatur umgestalten. Sie wollen so eine Art Säuberungsaktion in der Bevölkerung durchführen, sodass diese, sollten Sie mal in Rente gehen, so eine Art Epistokratie formen könnten, und alle, die dafür, aus welchen Gründen auch immer, nicht geeignet scheinen, schicken Sie nach Österreich, aus dem Sie so eine Art Gulag-Staat machen?“

„Genau!“

„Ähm, Chef, wie … wie erkläre ich Ihnen das!? Also, ähm …nun. Das … wird nicht funktionieren!“

„Warum?“

„Haben Sie irgendwann mal ein Geschichtsbuch in der Hand gehabt?“

„Natürlich. Aber die Leute in Deutschland sind in Teilen doch sowieso schon überzeugt davon, in einer Diktatur zu leben!? Ich gebe ihnen nur, was sie schon zu haben glauben. Außerdem: Wenn mittlerweile schon der Abbas in einer PK unwidersprochen etwas von …“

„Nein, Chef! Nein – für Ihren Plan ist die Welt noch nicht bereit. Tut mir leid.“

„Ach, Mist!“

Ziemlich geknickt wischt S.Atan die Kunststoffspielsteine wieder in die Schachtel …

„Als Einstein und Gödel spazieren gingen“ von Jim Holt

Buch: „Als Einstein und Gödel spazieren gingen – Ausflüge an den Rand des Denkens“

Autor: Jim Holt

Verlag: Rowohlt

Ausgabe: Hardcover, 493 Seiten

Der Autor: Jim Holt ist Autor und Essayist. Er schreibt über Philosophie, Mathematik und Naturwissenschaften vor allem für die New York Times Book Review und die New York Review of Books. Sein Buch «Gibt es alles oder Nichts?» war in den USA ein Bestseller und wurde in 18 Sprachen übersetzt, die New York Times zählte es überdies zu den fünf besten Sachbüchern des Jahres. (Quelle: Rowohlt)

Das Buch: Unter Physikern und Mathematikern sind sie legendär geworden, die Spaziergänge über den Campus von Princeton, die den fast 70-jährigen Albert Einstein und den 25 Jahre jüngeren Ausnahme-Mathematiker Kurt Gödel verbanden. Zwei Spaziergänger, die jeweils ihr Fach revolutioniert, Grenzen überschritten und neue aufgezeigt haben. Gödel hatte schon früh beschlossen, sich nur um mathematische Probleme zu kümmern, die auch eine philosophische Dimension haben. Damit ist er quasi ein Bruder im Geiste für Jim Holt, den Philosophen und Mathematiker, der sich gerne mit den letzten Fragen beschäftigt – und mit jenen, die ihnen ihr Leben widmeten. Und so erzählt er in diesem Buch mit dieser Geschichte einer Freundschaft zugleich die Geschichte der revolutionären geistigen Umwälzungen im 20. Jahrhunderts.
Daneben versammelt Holt in diesem Band 22 weitere Erzählungen und Reflexionen, in beeindruckend schöner Sprache und reich an biografischen und kulturgeschichtlichen Anekdoten. Sie widmen sich den „aufregendsten intellektuellen Errungenschaften, denen ich in meinem Leben begegnet bin“ (Holt). Es geht darin um das kosmologisches Denken über Zeit und Raum, Unendlichkeit im Großen und Kleinen, das Heraufziehen des Computerzeitalters, den Code des Lebens und die Frage, was man wahr nennen darf. Mal stehen Wissenschaft und Philosophie ein wenig im Vordergrund, mal die außergewöhnlichen Geschichten ihrer bedeutenden Protagonisten, von Holt fesselnd erzählt, mit Tiefgang und Intimität und einem besonderen und persönlichen Blick.  (Quelle: Rowohlt)

Fazit: Es ist spannend zu sehen, in welche Zahlenbereiche man einen siechenden Blog treiben kann, wenn man, so wie ich gestern, über Bestseller schreibt, die jeder kennt oder von denen alle wenigstens schon mal irgendwie gehört haben. Insofern ist es nur konsequent, heute das genaue Gegenteil zu machen und über ein Sachbuch mit weitestgehend naturwissenschaftlichem Hintergrund zu schreiben. (Und alle so: „Buuuuh!“)

Darüber schreiben muss ich aber allein deswegen schon, weil die Vorgeschichte bis hin zu diesen Zeilen schwierig war. Ursprünglich hatte ich bei Erscheinen des Buches ein Rezensionsexemplar angefragt, nur befanden sich zu diesem Zeitpunkt zahllose Verlagsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter im Home Office und man sah sich seitens des Verlags nur in der Lage, mir die E-Book-Version zukommen zu lassen. Das war zwar ausgesprochen nett, nun kommt mir aber dieser Antichrist des Literaturbetriebs leider nicht ins Haus. Daraufhin schlummerte Jim Holts Buch lange Zeit in der Wunschliste der Buchhandlung meines Vertrauens, bis ich vor einiger Zeit dachte: „Na, jetzt aber!“ Und das hat sich tatsächlich gelohnt.

In seinem Buch nimmt sich Jim Holt mitnichten eines bestimmten Themas an, vielmehr sind darin eine stattliche Zahl an Essays aus den letzten zwei Jahrzehnten über die unterschiedlichsten Figuren der naturwissenschaftlichen Bühne und ihr Schaffen versammelt. Insofern ist der Titel des Buches eigentlich etwas irreführend, denn die namensgebenden Herren Einstein und Gödel tauchen in der Mehrzahl der Essays gar nicht auf. Zumindest beginnt das Buch aber mit ihnen und mit Gödels Unvollständigkeitssatz.

Dieser besagt – so weit ich das verstanden habe – dass es innerhalb eines formalen Systems – wie beispielsweise der Mathematik – Aussagen geben muss, die weder beweis- noch widerlegbar sind. Dabei sind die Grundzüge der mathematischen Beweisführung . so weit ich die verstanden habe – recht einfach. Entweder, eine Behauptung lässt sich aus den vorhandenen Axiomen beweisen oder eben widerlegen. Oder aber man findet etwas, das immer Gültigkeit hat, aber nicht bewiesen werden kann, dann macht man es zu einem weiteren Axiom. Theoretisch müsste sich daraus ableiten lassen, das irgendwann alle existenten Axiome gefunden und die Mathematik quasi „abgeschlossen“ ist. Exakt das versuchte zu Zeiten Gödels der Mathematiker David Hilbert aber nun mit seinem Hilbert-Programm zu beweisen und war dementsprechend nicht begeistert, als ihm Gödel mit seiner Beweisführung in die Parade fuhr. Denn dieser besagt nun – so weit ich das verstanden habe -, dass es innerhalb eines solchen formalen Systems immer Behauptungen geben wird, die sich mit den Mitteln dieses Systems nicht beweisen oder widerlegen lassen, sondern allenfalls über einen Blick von „draußen“ auf dieses System.

Mit Gödels Unvollständigkeitssatz setzt Jim Holt sein thematisches Schwergewicht glücklicherweise an den Anfang des Buches und hätte er sich im Folgenden ausschließlich ähnlich komplexen Themen zugewendet, hätte ich wohl mittendrin aufgegeben, denn ich muss gestehen, spätestens bei Gödels Beweisführung auf der Verständnisebene ausgestiegen zu sein. Im Folgenden beschäftigt sich Holt allerdings mit Themen, die zwar mehrheitlich weiterhin naturwissenschaftlich-mathematischer Art, für den Laien aber deutlich einfacher zu verstehen sind. Klassiker wie der Vier-Farben-Satz, der sinngemäß besagt, dass vier Farben ausreichen, um eine beliebige Landkarte so zu bemalen, dass keine zwei benachbarten Länder gleich eingefärbt sind, oder das Ziegen-Problem, das sich mit der großen „Geh aufs Ganze“-Frage beschäftigt, ob ich beispielsweise nicht doch von Tor 1 auf Tor 2 umwechseln sollte, nachdem der Moderator Tor 3 geöffnet und den darin befindlichen „Zonk“ gezeigt hat. Spoiler: Ich sollte! Selbst der in jüngerer Vergangenheit immer öfter in – meist online geführten – Diskussionen zur Sprache kommende Dunning-Kruger-Effekt bleibt nicht unbesprochen, auch wenn dieser mittlerweile auch kritisch betrachtet wird – obwohl in in meiner Wahrnehmung täglich zahllose Menschen beweisen …

Die Stärke von Jim Holts Buch liegt nicht nur in der vergleichsweise einfachen Darstellung teils sehr komplexer Thematiken, sondern darin, diese Themen noch mit ein bisschen Anekdoten, ein bisschen „Gossip“ würden denglischsprechende Menschen wohl sagen, aufzulockern. So kommt beispielsweise zur Sprache, dass Kurt Gödel felsenfest davon überzeugt war, in der amerikanischen Verfassung – mit der er sich aus Gründen seiner Einbürgerung intensiv auseinandersetzte -, eine gesetzgeberische Lücke gefunden zu haben, die theoretisch die Umwandlung der USA von einer Demokratie in eine Diktatur erlaubte. Seine Begleiter konnten Gödel davon abhalten, das weiter auszuführen, dann verfolgte auch der Richter, vor dem Gödel zwecks seiner Einbürgerung antreten musste, das Thema nicht weiter und letzten Endes rettete ihm das vermutlich seine neue Staatsbürgerschaft.

In diesen Anekdoten liegt aber auch gleichzeitig eine gewisse Schwierigkeit, denn da es sich um Essays handelt, die unabhängig voneinander über einen Zeitraum von zwei Dekaden entstanden sind, enthalten sie öfter dieselben Anekdoten, und man denkt sich unweigerlich: „Ja, weiß ich schon!“ Zudem nehmen in einigen Kapiteln diese „Nebensächlichkeiten“ gefühlt mehr Platz ein als das eigentliche naturwissenschaftliche Thema.

Darüber hinaus lässt der Autor häufig etwas zu deutlich durchschimmern, welche Sympathie oder Antipathie er seinen einzelnen Protagonistinnen und Protagonisten entgegenbringt. So wird er beispielsweise nicht müde, klarzustellen, für wie unfähig er doch Ada Lovelace – heute als eine Art „erste Programmiererin der Welt“ gefeiert – im Bereich der Mathematik hält. Nun mag das den Tatsachen entsprechen, eine etwas weniger persönlich gefärbte Darstellung wäre hier aber gut gewesen. Nun lässt es sich Jim Holt nicht nehmen, auch andere Größen der Wissenschaft zu kritisieren, wann immer es angebracht scheint, wenn sie durch ihre Person oder ihre Forschung Anlass zur Kritik geben. Wenn aber einerseits über Francis Galton, der sich unter anderem mit der Frage nach der Intelligenz der Masse beschäftigte, gesagt wird, dass er zwar im Grunde genommen der Weichensteller für die Eugenik war, damit aber ja eigentlich hehre Ziele verfolgte und nicht das, was mittels Zwangssterilisierungen und ähnlichem später und anderswo dann draus gemacht wurde, dann wirkt die überzogene Kritik an Ada Lovelace, die vielleicht einfach nur schlecht in Mathe war, umso unverhältnismäßiger.

Geblieben ist in Summe ein Sachbuch mit Licht und Schatten, das aber zumindest über weite Strecken auch für Laien gut nachvollziehbar bleibt und mit dem der Autor seinem eigenen Anspruch, seiner Leserschaft mit seinem Buch Kenntnisse zu vermitteln, die bei einer Cocktailparty unter Zuhilfenahme eines Kugelschreibers und einer Serviette zur Anwendung kommen können, vollkommen gerecht wird.

Demächst in diesem Blog: „Lushins Verteidigung“ von Vladimir Nabokov. Nicht der erste Schachroman hier. Und auch nicht der letzte.

„Über Menschen“ von Juli Zeh

Buch: „Über Menschen“

Autorin: Juli Zeh

Verlag: Luchterhand

Ausgabe: Hardcover, 416 Seiten

Die Autorin: Juli Zeh, 1974 in Bonn geboren, studierte Jura in Passau und Leipzig. Schon ihr Debütroman „Adler und Engel“ (2001) wurde zu einem Welterfolg, inzwischen sind ihre Romane in 35 Sprachen übersetzt. Ihr Gesellschaftsroman „Unterleuten“ (2016) stand über ein Jahr auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Juli Zeh wurde für ihr Werk vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Rauriser Literaturpreis (2002), dem Hölderlin-Förderpreis (2003), dem Ernst-Toller-Preis (2003), dem Carl-Amery-Literaturpreis (2009), dem Thomas-Mann-Preis (2013), dem Hildegard-von-Bingen-Preis (2015) und dem Bruno-Kreisky-Preis (2017) sowie dem Bundesverdienstkreuz (2018). 2018 wurde sie zur ehrenamtlichen Richterin am Verfassungsgericht des Landes Brandenburg gewählt. (Quelle: Random House)

Das Buch: Dora ist mit ihrer kleinen Hündin aufs Land gezogen. Sie brauchte dringend einen Tapetenwechsel, mehr Freiheit, Raum zum Atmen. Aber ganz so idyllisch wie gedacht ist Bracken, das kleine Dorf im brandenburgischen Nirgendwo, nicht. In Doras Haus gibt es noch keine Möbel, der Garten gleicht einer Wildnis, und die Busverbindung in die Kreisstadt ist ein Witz. Vor allem aber verbirgt sich hinter der hohen Gartenmauer ein Nachbar, der mit kahlrasiertem Kopf und rechten Sprüchen sämtlichen Vorurteilen zu entsprechen scheint. Geflohen vor dem Lockdown in der Großstadt muss Dora sich fragen, was sie in dieser anarchischen Leere sucht: Abstand von Robert, ihrem Freund, der ihr in seinem verbissenen Klimaaktivismus immer fremder wird? Zuflucht wegen der inneren Unruhe, die sie nachts nicht mehr schlafen lässt? Antwort auf die Frage, wann die Welt eigentlich so durcheinandergeraten ist? Während Dora noch versucht, die eigenen Gedanken und Dämonen in Schach zu halten, geschehen in ihrer unmittelbaren Nähe Dinge, mit denen sie nicht rechnen konnte. Ihr zeigen sich Menschen, die in kein Raster passen, ihre Vorstellungen und ihr bisheriges Leben aufs Massivste herausfordern und sie etwas erfahren lassen, von dem sie niemals gedacht hätte, dass sie es sucht. (Quelle: Random House)

Fazit: Braucht es zur erfolgreichsten Neuerscheinung des Jahres 2021 wirklich eine weitere Rezension? Habe ich den unzähligen Stimmen, die sich zu Juli Zehs „Über Menschen“ äußerten, wirklich noch neue, relevante Gedankengänge hinzuzufügen? Beide Fragen müssen ehrlicherweise wohl mit „Nein!“ beantwortet werden. Da hierzu also wohl alles gesagt ist, nur noch nicht von jedem, muss ich meinen Eindruck zu Juli Zehs Roman dennoch loswerden. Gesprächsstoff liefert dieser nämlich allemal. Deswegen ist nachfolgender Text auch nichts für die „tl;dr“-Generation. Ich sag´s nur vorher …

Dora, die Protagonistin des Romans, lebt zusammen mit ihrem Freund Robert, tätig für eine Online-Zeitung, in Berlin. Dann bricht die Pandemie über das Land herein. War Robert vorher schon mit einem umfassenden ökologischen Bewusstsein und einer großen Begeisterung für die Fridays-for-Future-Bewegung ausgestattet, was in der Beziehung mit Dora bereits zu Konflikten geführt hat – und sei es nur über die Mülltrennung -, so ändert sich seine Persönlichkeit während der Pandemie noch zusätzlich. Er beginnt, neurotische Züge auszubilden und die Pandemie sowie die beiden unterschiedlichen Sichtweisen darauf bildet praktisch das einzige Gesprächsthema zwischen den beiden Mittdreißigern.

Konsequenz für Dora: Sie muss da ganz dringend raus! Wie gut, dass sie sich in weiser Voraussicht ein kleines Häuschen in einem Örtchen namens Bracken – phonetisch reine Poesie -, irgendwo im Brandenburgischen, gekauft hat. Mit Sack und Pack und ihrer Hündin namens „Jochen-derr-Rochen“ – was entweder den Versuch, die Genderthematik ins ländliche Brandenburg zu tragen, einen sehr individuellen Humor oder schlicht Blödsinn darstellt – siedelt Dora nach Bracken über.

Im Folgenden schildert Juli Zeh den Versuch ihrer Protagonistin, sich im ländlichen Brandenburg einzuleben, sich mit Gegebenheiten wie einem praktisch nicht existenten ÖPNV zu arrangieren und die Bewohner des Dörfchens kennenzulernen.

Diese Bewohner, Dora inbegriffen, wirken ausnahmslos ziemlich klischeebeladen. Offensichtlich gibts auf dem brandenburgischen Land nur Nazis. Heini, der Nachbar von Gegenüber, hilft Dora zwar immer mit massivem Werkzeug bei Arbeiten am bzw. ums Haus, sondert dabei aber regelmäßig rassistische Witze ab. Auch das schwule Pärchen ein paar Häuser weiter scheint recht AfD-affin zu sein. Frau Weidel ist also nicht allein. Und dann wäre da ja noch Gote, der direkte Nachbar, der sich Dora am Gartenzaun mit dem Hinweis vorstellt, er sei hier so was wie der „Dorfnazi“. Spätestens nachdem er dieser Selbsteinschätzung Taten folgen lässt, indem er mit Kumpels Bier trinkend im Garten sitzt und gemeinschaftlich das Horst-Wessel-Lied grölt, lässt sich von Leserseite besagter Selbsteinschätzung wenig Widerspruch entgegenbringen.

Dora lernt Gote aber auch von einer anderen Seite kennen. So hilft er der jungen Frau tatkräftig, sich im Ort zurecht zufinden, stellt zwischendurch aber auch mal die Antwort auf eine Frage dar, die nie gestellt wurde. Beispielsweise, wenn Dora nach Hause kommt und feststellt, dass Gote ihr in ihrer Abwesenheit ein Bett gezimmert und ins Haus gebracht hat. Ich finds gruselig-übergriffig, Dora findet es toll, irgendwie rührend. Deswegen beschreitet Juli Zeh diesen Weg auch weiter. DIe Bindung zwischen den beiden Hauptfiguren wird enger, immer wieder schildert die Autorin der Leserschaft, die natürlich immer im Hinterkopf hat, dass es sich hier um den „Dorfnazi“ handelt, die andere Seite von Gote. Die freundliche. Die nachbarschaftliche. Die fürsorgliche. Auch Dora selbst ist bewusst, dass Gotes Weltanschauung im Grunde verabscheuungswürdig ist. Aber er ist doch so nett. Da wundert es auch nicht, dass Dora dann auch an Gotes Seite bleibt, als es für ihn mal nicht so rund läuft.

Irgendwann war dann der Punkt erreicht, an dem ich Fragen hatte. Der Punkt, an dem ich mich beispielsweise fragte, was, um alles in der Welt, mir Juli Zeh mit ihrem Roman sagen möchte. Stellt „Über Menschen“ nichts anderes dar, als die Aufforderung, mit Nazis zu reden? Die Menschen dahinter und ihre Beweggründe zu erkennen? Weil sie vielleicht Gründe haben, so geworden zu sein, wie sie nunmal sind? Schlägt sie hierbei in dieselbe Kerbe wie ein ehemaliger Bundespräsident, der vor einigen Jahren eine „erweiterte Toleranz in Richtung rechts“ forderte? Hat sich Juli Zeh hier irgendwie vertellkampt?

Falls dem so ist, hat sich die Autorin verhementen, dreifachen Widerspruch verdient.

Zum einen wäre ihre Darstellung der Hauptfigur dann eben nicht so wirklich stringent. Denn es darf schon fragend eingeworfen werden, warum sich Dora so sehr bemüht, den Menschen hinter der eigentlich verabscheuungswürdigen Figur Gote zu erkennen, sie sich aber bei ihrem eigenen Freund Robert – mit dem sie immerhin einige Jahre zusammen verbracht hat, und der wenigstens kein gewaltbereiter Nazi ist, sondern allenfalls etwas anstrengend – offensichtlich außerstande sieht, zu hinterfragen, warum er so ist, wie er ist. Vielleicht hat Robert Gründe dafür, nicht so ganz stressresistent, resilient und krisenfest zu sein. Das aber interessiert Dora nicht. Allerdings hat Robert ihr auch kein Bett gezimmert …

Zum zweiten reden wir hier bezüglich der Figur des „Dorfnazis“ Gote eben nicht nur von einem, der nur mal am Stammtisch blubbert, dass die Ausländer an allem schuld sind und sowieso schon viel zu viele davon hier – und ein Bier später dann in individuellem Verständnis von logischer Konsequenz den Fachkräftemangel anprangert, gegen den ja niemand was tut. Nein, wir reden hier von jemandem, der wegen versuchten Totschlags im Knast gesessen hat. Wir reden hier von jemandem, der über die Geschehnisse von Rostock-Lichtenhagen sagt: „“Abends Pyro, Bier und geile Stimmung. War ein Volksfest.“

Kurzer Exkurs, da es Leserinnen und Leser unter 30 gibt: In Rostock-Lichtenhagen fanden 1992 die schwersten rassistischen Angriffe auf Menschen seit Ende des Zweiten Weltkriegs statt. Schon im Jahr davor hatte die Anzahl fremdenfeindlicher Angriffe massiv zugenommen – ähnlich wie ab 2015, weil die Menschen offensichtlich nicht dazu lernen oder nur nachsehen wollten, ob sie Pogrome noch beherrschen. Über einen Zeitraum von 4 (!), in Worten: vier, Tagen waren zunächst die „Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber“ Ziel von Attacken mit Molotow-Cocktails und Betonplatten durch die Verdummten und Vermummten. Dieses wurde später evakuiert, ein angrenzendes Asylbewerberheim, in dem sich noch 115 Vietnamesen und ein Team des ZDF aufhielten, jedoch nicht. In der Folge richteten die Randalierer, die teilweise in die Trikots gewandet herumliefen, in denen zwei Jahre zuvor Andy Brehme und Rudi Völler den WM-Titel holten, ihren Frust auf dieses Gebäude und dessen Bewohner. Am dritten Tag der Randale konnten die Bekloppten und Bescheuerten – um mal Dietmar Wischmeyer zu zitieren – dann das Gebäude stürmen, auch weil die Polizei wegen Fehlern auf der Leitungsebene immer mal wieder mit Abwesenheit oder Inaktivität glänzte. Dass es letztlich keine Todesfälle gab, dürfte reine Glückssache und der Tatsache geschuldet sein, dass die Bewohner des Gebäudes sich selbständig aufs Dach retten konnten.

Mein 15 Jahre altes Ich, geschichtsunterrichtlich entsprechend vorgebildet und daher mit einer unerschütterlichen und nach wie vor vorhandenen „Nie wieder“-Überzeugung ausgestattet, von der ich annahm, jeder normal denkende Mensch müsste sie teilen, saß damals fassungslos vor dem Fernseher. In den Flammen des Sonnenblumenhauses verbrannte mein Idealismus.

Exkurs Ende.

Wir reden also von einem Typen, der die genannten Ereignisse als „Volksfest“ einstuft, der dessen „geile Stimmung“ lobt. Ganz ehrlich: Mit so einem Menschen, für den Gewalt nicht die letzte Zuflucht des Unfähigen darstellt, um es mal mit Asimov zu sagen, sondern für den sie adäquates Mittel zum Zweck ist, mit so einem Menschen möchte ich gar nicht reden! Und es interessiert mich dann auch nicht im Geringsten, warum Gote so tickt, wie er tickt. Es ist mir völlig egal, ob er eine schwere Kindheit hatte – auch weil aus dem Kind irgendwann ein erwachsener Mann wird, der Dinge hinterfragen sollte -, es ist mir egal, ob er sich in irgendeiner Art und Weise abgehängt sieht, und reflexhaft andere dafür verantwortlich machen muss. Nein, ich möchte nicht den Menschen hinter dem Dorfnazi kennenlernen, nicht die möglicherweise gepeinigte Seele eines Menschen, der ein ach so hartes Leben gehabt haben mag. Stattdessen ist mir Gote angesichts seiner Vorgeschichte, aus der er nicht dazulernt, sondern ableitet, dass das alles schon irgendwie so seine Richtigkeit hatte und irgendwie „geil“ war, vor allem eines: Vollkommen egal!

Und der dritte Einwand, der gegen Juli Zehs Auforderung zum Dialog spricht: Sollte man der Aufforderung, mit Nazis zu reden, nachkommen, würde man ihre Weltsicht von einer verabscheuungswürdigen, buchstäblich indiskutablen Ideologie zu einer ernstzunehmenden Gesprächsgrundlage befördern. Und spätestens da steige ich aus. Hass ist keine Meinung!

Hat sich Juli Zeh denn nun, wie oben bereits gefragt, vertellkampt oder vergauckt?

Ich denke nicht. Ich denke, „Über Menschen“ ist nichts weiter als das Abbild einer nach meinem Dafürhalten leicht naiven Weltsicht, in der sich doch bitte alle lieb haben sollen, um mich in meiner Komfortzone nicht über Gebühr zu stören. Eine Weltsicht, die sich unlängst auch dadurch ausdrückte, dass die Autorin sich bezüglich des Ukraine-Kriegs dafür aussprach, dass beide Seiten eine Verhandlungslösung finden müssten und dabei ausblendete, dass der Aggressor dieses Konflikts dabei an so ziemlich allem interessiert sein dürfte, insbesondere am gesamten ukrainischen Staatsgebiet, aber sicherlich nicht an Verhandlungen.

Als solches kann ich Juli Zehs Appell durchaus respektieren, teile ihn aber in keiner Weise.

Trotz der umfassenden vorangegangenen Kritik muss ich allerdings zugeben, dass ich „Über Menschen“ ausgesprochen gerne gelesen habe. Juli Zeh verfügt über einen gewissen Sprachwitz, die Dialoge sind zuweilen absolut auf den Punkt und die Charaktere mögen klischeebeladen sein, andererseits werden diese Klischees im Roman nicht selten auch ausgehebelt. Dass ich einen Roman gerne gelesen habe, der bei mir während der Lektüre solche Widerstände hervorruft, wundert mich selbst am meisten. Und wenn ein Buch so etwas schafft, dann ist es wohl ein gutes.

Demnächst in diesem Blog: „Als Einstein und Gödel spazieren gingen“ von Jim Holt.

„Der Mann, der Sherlock Holmes tötete“ von Graham Moore

Buch: „Der Mann, der Sherlock Holmes tötete“

Autor: Graham Moore

Verlag: Eichborn

Ausgabe: Taschenbuch, 480 Seiten

Der Autor: Graham Moore, Jahrgang 1981, arbeitet als Drehbuchautor und Schriftsteller. In seinen Romanen fiktionalisiert er gerne historische Personen und Gegebenheiten. 2015 gewann er den Oscar für das beste Drehbuch; „The Imitation Game“ wurde mit Benedict Cumberbatch und Keira Knightley verfilmt und von der internationalen Kritik gefeiert. Moore lebt in Los Angeles. (Quelle: Eichborn)

Das Buch: Arthur Conan Doyle tritt in die Fußstapfen seiner berühmtesten Figur: Weil Scotland Yard keinen Anlass sieht, den Mord an einem Mädchen aufzuklären, nimmt er selbst Ermittlungen auf. Er schleicht durch die Straßen des viktorianischen London und landet an Orten, die kein Gentleman betreten sollte.

Etwa hundert Jahre später ist ein junger Sherlock-Fan in einen Mordfall verstrickt, bei dem Doyles verschwundenes Tagebuch und einige Fälle seines berühmten Detektivs eine wichtige Rolle spielen.

Zwei Morde, zwei Amateurdetektive – ein großer Lesespaß! (Quelle: Eichborn)

Fazit: Graham Moore hat sich zunächst mit „Die letzten Tage der Nacht“ nachhaltig in mein Gedächtnis geschrieben, mich dann mit „Verweigerung“ zwar durchaus unterhalten, aber dennoch leicht enttäuscht und sich seitdem offensichtlich beharrlich geweigert, weitere Bücher zu schreiben. Grund genug für mich, mich mit seinem Romandebüt „Der Mann, der Sherlock Holmes tötete“ zu befassen.

Moore teilt seine Geschichte in zwei Handlungsstränge und Zeitebenen. Einmal begegnen wir dabei im Hier und Jetzt dem jungen Sherlock-Fan Harold, der es zu seiner eigenen, unermesslichen Freude geschafft hat, in den illustren Kreis einer Sherlock-Holmes-Fanvereinigung aufgenommen zu werden. Zum Treffen dieser Sherlockians ist diesmal auch Alex Fund angekündigt, eine Koryphäe im Bereich der Sherlock-Forschung, der etwas Revolutionäres mitzuteilen hat: Angeblich ist es ihm gelungen, den bislang verschwundenen Tagebuch-Band von Sir Arthur Conan Doyle aufzuspüren.

Noch bevor es zur medienwirksamen Vorstellung dieses Tagebuchs kommt, wird Alex Fund jedoch tot in seinem Hotelzimmer aufge … äh… funden. Und ehe sich Harold versieht, fundet, nein, findet er sich an der Seite der Journalistin Sarah in den Ermittlungen zu diesem Todesfall wieder.

Im zweiten Handlungsstrang begegnen wir Sir Arthur Conan Doyle persönlich. Selbiger ist von seiner berühmten Romanfigur mittlerweile mehr als genervt. Daher beschließt er, Sherlock Holmes in seiner nächsten Geschichte sterben zu lassen. Die Reaktionen der Fans lassen nicht lange auf sich warten. Nun könnte Sir Arthur vermutlich damit umgehen, dass er auf offener Straße von älteren Damen, die gefälligst ihren Meisterdetektiv wiederhaben wollen, mit einem Regenschirm verhauen wird, dass man ihm aber Briefbomben zuschickt, geht ihm nun entschieden zu weit.

Da sich Scotland Yard nur so halbherzig mit seiner Angelegenheit beschäftigen will, sieht sich Sir Arthur genötigt, an der Seite seines Freundes Bram Stoker eigene Ermittlungen anzustellen und der Frage auf den Grund zu gehen, ob und, falls ja, inwiefern der Bombenanschlag auf ihn im Zusammenhang mit einer Serie von Morden an jungen Frauen steht.

Moore wendet sich seinen beiden Handlungssträngen kapitelweise abwechselnd zu und schon kurz nach Beginn der Lektüre werden zwei Dinge deutlich: Zunächst mal, dass sich hier jemand intensiv mit der Figur Sherlock Holmes beschäftigt hat und offensichtlich – völlig berechtigt, meiner Meinung nach – eine große Begeisterung für ihn hegt. Und zum zweiten, dass hier jemand am Werk ist, der ein Herz für verschrobene, aber sympathische Charaktere hat.

Im Grunde sind die Figuren im Buch – hier sei beispielhaft insbesondere mal die Journalistin Sarah genannt – nicht dichter als Blümchenkaffee und wie schnell Sarah und Harold ein Ermittlerduo bilden, obwohl sie im Grunde genommen vorher kaum fünf Worte miteinander gewechselt haben, wirkt etwas befremdlich. Für die meisten Figuren gilt aber eben auch, dass sie einen gewissen Charme haben, allen voran Harold selbst. Der junge Mann wirkt extrem nerdig, trägt den lieben, langen Tag eine Deerstalker Mütze und macht im Umgang mit anderen Menschen oft einen etwas unbeholfenen Eindruck. Im Gegensatz zu praktisch allen anderen Figuren gelingt es Moore, seinen Protagonisten auch mit einer überzeugenden Charakterisierung und Hintergrundgeschichte zu versehen, die geschickterweise häufig wie nur beiläufig eingetreut wirkt, dadurch aber umso mehr Eindruck hinterlässt.

Für die restlichen handelnden Personen gilt das in diesem Umfang leider nicht. Sie überzeugen eher in ihrem Wie als in ihrem Warum, das schadet dem Buch aber eigentlich wenig.

Denn in erster Linie geht es hier nunmal um die Geschichte. Und die ist eine, bei der nicht nur, aber natürlich ganz besonders Fans von Sherlock Holmes auf ihre Kosten kommen. Die Story ist gefüllt mit Reminiszenzen an das Werk von Arthur Conan Doyle. Harold fungiert dabei als wandelndes Lexikon und tut der weniger vorkenntnisreichen Leserschaft kund, was Sherlock in welchem Roman was gesagt oder getan hat oder womit sich Sir Arthur Conan Doyle in welcher Lebensphase beschäftigt hat.

Dabei manöviert sich der junge Mann zusammen mit seinem Sidekick Sarah – hm, „Sidekick-Sarah“, ich glaube, ich habe gerade eine neue Marvel-Figur erfunden … – in eine Geschichte, die turbulenter und aufregender als sein ganzes bisheriges Leben ist.

Mir persönlich hat jedoch der in der Vergangenheit stattfindende Handlungsstrang besser gefallen. Die Handlung erschien mir dort stringenter und das Duo Doyle/Stoker, die zum Zeitpunkt der Handlung bereits eine Weile befreundet sind, wirkt authentischer und überzeugender als Harold und Sarah. Das ist aber sicherlich Geschmackssache.

Wer auch nur die kleinste Sympathie für Sherlock Holmes hat, kommt mit „Der Mann, der Sherlock Holmes tötete“ sicherlich ebenso auf die Kosten wie jemand, der einfach nur einen gut geschriebenen Krimi lesen will, der wie ein literarisches Äquivalent zu einem leichten, spitzigen Sommerwein daherkommt.

Demnächst in diesem Blog: „Über Menschen“ von Juli Zeh.

„Kalmann“ von Joachim B. Schmidt

Buch: „Kalmann“

Autor: Joachim B. Schmidt

Verlag: Diogenes

Ausgabe: Taschenbuch, 352 Seiten

Der Autor: Joachim B. Schmidt, geboren 1981, aufgewachsen im Schweizer Kanton Graubünden, ist 2007 nach Island ausgewandert. Seine Romane ›Tell‹ und ›Kalmann› waren Bestseller; mit ›Kalmann‹ erreichte er den 3. Platz beim Schweizer Krimipreis und erhielt den Crime Cologne Award. ›Tell‹ war auf Platz 1 der Schweizer Bestsellerliste. Der Doppelbürger lebt mit seiner Frau und zwei gemeinsamen Kindern in Reykjavík. (Quelle: Diogenes)

Das Buch: Er ist der selbsternannte Sheriff von Raufarhöfn. Er hat alles im Griff. Doch in Kalmanns Kopf laufen die Räder manchmal rückwärts. Als er eines Winters eine Blutlache im Schnee entdeckt, überrollen ihn die Ereignisse. Mit seiner naiven Weisheit und dem Mut des reinen Herzens wendet er alles zum Guten. Kein Grund zur Sorge. (Quelle: Diogenes)

Fazit: Unlängst erwähnte ich, dass der Zyniker in mir langsam die Oberhand gewinnt. Daher war eine meiner ersten Reaktionen nach der Lektüre von „Kalmann“ – neben der Freude über einen wirklich gut gelungenen Roman, der sehr viel mehr als „nur“ ein Kriminalroman ist – die, dass ich darüber nachdachte, wie wohl jüngere, aufgeregtere Lesergenerationen über das Buch urteilen würden. Je nach persönlichem Basisechauffierungspotenzial würde man sich gegebenfalls darüber empören, wie Joachim B. Schmidt sich überhaupt erdreisten könne, über eine solche Hauptfigur zu schreiben, ohne selbst entsprechende Kenntnisse und/oder Erfahrungen zu haben, würde zudem etwas von „sensitivity reading“ blubbern und sich allgemein entrüsten.

Denn der namensgebende Kalmann, mit vollständigem Namen Kalmann Óðinsson, ist tatsächlich eine sehr spezielle Persönlichkeit. Dazu später mehr.

Kalmann, ein junger Kerl in seinen 30ern, lebt im verschlafenen, islandischen Fischerdörfchen Raufarhöfn, gut 170 Einwohner. Raufarhöfn hat seine beste Zeit bereits hinter sich. Konnten die Einwohner früher noch recht gut vom Heringsfang leben, so haben Überfischung, Klimawandel und daraus resultierende sinkende Fangquoten ihre Spuren hinterlassen. Aus dem einst florierenden Ort ist ein langsam sterbendes Dörfchen geworden.

Um dem Dahinsiechen des Ortes entgegenzuwirken, betätigt sich der ansässige Hotelbesitzer als Investor und beginnt, einen vollkommen absurden Tourismus-Hotspot – ein an ein berühmtes schottisches Vorbild gemahnendes Steinmonument mit der nur semi-kreativ gewählten Bezeichnung „Arctic Henge“, das im Übrigens tatsächlich existiert – in eine Gegend zu pflanzen, in die sich ohnehin kaum Touristen verirren. Und nun ist besager Hotelbesitzer ganz plötzlich verschwunden. Und zu allem Übel hat Kalmann in der Nähe des Arctic Henge auch noch Blutspuren gefunden.

Die Polizei nimmt ihre Ermittlungen auf, die Presse und das Fernsehen machen sich auf den Weg nach Raufarhöfn. Die beschauliche nordisländische Idylle scheint für die Anwohner zu bröckeln. Aber keine Sorge, denn es gibt ja Kalmann.

Der junge Protagonist ist in der Tat etwas anders. Kalmann erinnert in seiner sympathischen Schlichtheit ein wenig an Forrest Gump, wird innerhalb des Romans auch selbst von anderen Charakteren mit diesem verglichen. Als selbsternannter Sheriff von Raufarhöfn kleidet sich Kalmann auch entsprechend in eine amerikanische Sheriff-Uniform, nebst Stern, Hut und Mauser, letztere ein Erbe seines amerikanischen Vaters. Die Einwohner von Raufarhöfn verfolgen die Schrullen ihres vermeintlichen Dorftrottels mit wohlwollender Gelassenheit.

Dabei wäre nichts falscher, als Kalmann als simplen, zurückgebliebenen Idioten abzustempeln. Denn der junge Mann bemerkt sehr genau, wie sein Umfeld auf ihn reagiert und reflektiert zudem sehr präzise über sich und sein Leben. So leidet er massiv an seiner Einsamkeit, an der Tatsache, keine Frau an seiner Seite zu haben und sein einziger, wirklicher Freund ist ein Jungspund, den er nie persönlich getroffen hat und mit dem er nur online spricht.

Über diese Hauptfigur könnte man tatsächlich ganze literaturwissenschaftliche Hausarbeiten schreiben. Die gesamte Darstellung des Protagonisten ist nicht mehr und nicht weniger als ganz großes Kino und sucht in ihrer Vielschichtigkeit und Behutsamkeit ihresgleichen. Das ergibt sich in erster Linie durch den cleveren Schachzug, Kalmann selbst als Erzähler auftreten zu lassen und die Geschehnisse daher in dessen oft stoisch-unbedarft, aber auch mal überraschend clever und tiefgründig erscheinendem Ton beschreiben zu lassen. Aus dieser Wahl ergibt sich zudem zwangsläufig eine extrem subjektiv eingefärbte Erzählweise, da man eben nur Kalmanns Sichtweise vorgesetzt bekommt und inwieweit dieser nun vollständig zu trauen ist, sei dahingestellt, schließlich ist Kalmann ja auch davon überzeugt, für das Verschwinden des Hoteliers und die Blutspuren sei bestimmt ein Eisbär verantwortlich, was letztlich dazu führt, dass sich landesweit agierende Fernsehstationen auf den Weg nach Raufarhöfn machen, um vor Ort live und in Farbe von der Suche nach dem Hotelier und/oder dem Eisbären zu berichten.

In der Folge entwickelt sich dann eine skurrile Geschichte voller Drogenschmuggel, Gammelhai und Lokalkolorit.

Hätte Joachim B. Schmidt sich entschieden, sich weniger auf seine Hauptfigur zu konzentrieren, sondern beispielsweise eher die polizeilichen Ermittlungen in den Blick zu nehmen, wäre vermutlich nur einer von vielen ähnlich gelagerten Krimis herausgekommen. Gerade der Fokus auf den selbsternannten Sheriff und dessen hervorragende Darstellung macht aus „Kalmann“ dann aber ein Buch, an das ich  mich noch lange erinnern werde.

Für Fans nordischer Settings und ganz besonderer Hauptfiguren eine klare Leseempfehlung.

Demnächst in diesem Blog: „Der Mann, der Sherlock Holmes tötete“ von Graham Moore.