Montagsmotz #2

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

auch wenn die geschätzte Initiatorin des Montagsmotz Ihrerseits heute keinen Grund zu motzen sieht, bedeutet das ja nicht, dass ich von selbigem Abstand nehmen muss. Im Gegenteil – ich sehe mich sogar außerstande, das heute nicht zu tun.

Und nun läge es ja nur zu nahe, mich darüber zu echauffieren, dass vorgestern Tausende Menschen dem Aufruf zweier offensichtlicher Diplomatie-Expertinnen gefolgt sind.

Zweier Diplomatie-Expertinnen, die seit geraumer Zeit Unwahrheiten verbreiten wie die, dass man Kriege gegen eine Atommacht nicht gewinnen könne. Natürlich – wer kennt sie nicht, die strahlenden Siege der US-Armee in Korea oder Vietnam, oder den mindestens ebenso überzeugenden Sieg der Russen im Krieg in Afghanistan zwischen 1979 und 1989?

Oder die, dass Kriege nicht mit Waffengewalt beendet werden können. In der Wahrnehmung der beiden Diplomatie-Expertinnen wurde der 2. Weltkrieg vermutlich nicht durch eine mittels massivem Waffeneinsatz aus zahllosen Staaten herbeigeführte bedingungslose Kapitulation beendet, sondern durch gemeinsames Eis essen und anschließende Verhandlungen mit dem Nazi-Regime, die selbstverständlich auf Augenhöhe stattzufinden hatten und in denen selbstverständlich beide Seiten zu Zugeständnissen bereit sein mussten, auch die zahllosen von Nazi-Deutschland überfallenen Staaten, weswegen dann letztlich, wer würde das nicht wissen, ja schließlich auch das Elsass, Eupen-Malmédy, das Sudetenland nebst Hultschiner Ländchen, Österreich und die Hälfte Polens langfristig und bis heute in das deutsche Hoheitsgebiet eingegliedert wurden …

Zwei Diplomatie-Expertinnen, die aber nicht nur durch bemerkenswerte Unkenntnis in Geschichte auffallen, sondern die – eben deswegen sind sie ja Expertinnen – über außerdordentliche Fähigkeiten im Bereich der Diplomatie verfügen müssen, scheinen Sie doch der Meinung zu sein, ein Friedensschluss sei eine ganz einfache Angelegenheit und im Wesentlichen etwa so zu erreichen, wie ein Sechsjähriger sich eine Scheibe Mortadella an der Wursttheke ernörgelt – nämlich wahlweise durch beharrliches Aufstampfen, oder aber auf den Boden werfen oder auch Luftanhalten – oder in etwa so wie man eine Kneipenschlägerei beendet – also sich erst die Fresse polieren, sich dann die Hand geben und zusammen ein Bier trinken, denn irgendwann werden wir bestimmt drüber lachen, und ich weiß eigentlich schon gar nicht mehr, warum wir uns geprügelt haben, und so …

Zwei Diplomatie-Expertinnen, deren Weltbild in erster Linie auf irgendwas zwischen mangelnder Resilienz und kognitiver Dissonanz beruht sowie einer gehörigen Portion Egozentrik und Überheblichkeit, die darauf basiert, dass man Krieg doof findet und jetzt bitte alles wieder so schön zu sein hat, wie es nie war, und welches sich beispielsweise darin manifestiert, dass in ihrem, ähm, Manifest steht: „Es ist Zeit, uns zuzuhören!“ – UNS! Nicht der Ukraine und ihrer Bevölkerung, sondern „uns“, denn „wir“ werden schon wissen, was für andere Staaten richtig ist -, und darin, dass dort ebenfalls steht, dass man den Kanzler daran erinnern müsse, dass zu seinem Amtseid gehöre, „Schaden vom deutschen Volk abzuwenden“. Vom ukrainischen Volk steht im Eid nichts …

Ja, über all das könnte ich mich echauffieren, aber die geschätzte Leserschaft muss heute ein gewisses Durchhaltevermögen an den Tag legen, denn einerseits will ich mich über das o.g. gar nicht aufregen, sondern mich stattdessen mit etwas anderem befassen, was – zumindest in meiner Wahrnehmung -weit weniger im Fokus der Öffentlichkeit stand, was letztlich bedeutet, dass dieser Text an dieser Stelle eigentlich erst so richtig los geht. Na, ich kann ja auch nichts dafür.

Aber eigentlich sollte es an dieser Stelle eben nicht um die o.g. Expertinnen gehen, sondern um Martin Kiese. Um wen? Ja, genau.

Martin Kiese ist seines Zeichens Neonazi und Mitglied im Bundesvorstand der Partei „Die Rechte“ – der Name ist selbstredend Programm. Besagter Herr Kiese befand sich im November 2020 auf einer von Rechten organisierten Veranstaltung zum Volkstrauertag. Und am Rande dieser Veranstaltung ließ sich Herr Kiese dazu herab, anwesenden Journalisten die Worte „Judenpresse“, „Feuer und Benzin für euch“ oder auch „Judenpack“ entgegenzubrüllen. Der Vorgang wurde mittels Handy gefilmt, ist insofern unstreitig und daher im Folgenden Ursache von staatsanwaltlichen Ermittlungen. Bald darauf wurden diese Ermittlungen wegen Verdachts auf Volksverhetzung und Beleidigung jedoch eingestellt.

In der Folge gingen diverse Beschwerden über die Einstellung der Ermittlungen ein, woraufhin die Generalstaatsanwaltschaft diese Entscheidung aufhob und erneute Ermittlungen forderte.

Und selbige sind von der Staatsanwaltschaft Braunschweig Anfang des Monats nun zum zweiten Mal eingestellt  worden…

Als Begründung wurde beispielsweise angeführt, dass Herrn Kieses Äußerung klar und explizit an eine Handvoll anwesender Medienvertreter gerichtet war. Um mal aus dem entsprechenden „taz“-Artikel zu zitieren: „Zwar habe er die Journalisten als „Judenpack“ bezeichnen wollen, nicht aber die in Deutschland lebenden Juden als „Pack“. Ach so – na ja, dann …

Außerdem habe sich Kiese ja „spontan“ geäußert. Aha – dann kann so etwas im Eifer des Gefechts schon mal passieren? Na denn. Wobei ich leise Zweifel habe, dass Herrn Kiese selbst dann etwas Gehaltvolleres eingefallen wäre, wenn er für die Ausformulierung seiner Gedanken drei Tage Vorlaufzeit gehabt und zudem die Schriftform gewählt hätte.

Außerdem sei der Vorwurf der Volksverhetzung schon deswegen nicht gegeben, weil die Äußerungen am Rande der Veranstaltung gefallen seien, und niemand da war, der hätte aufgehetzt werden können. Also – außer denen, die ja schon da waren und sowieso den ganzen Tag nichts anderes zu tun haben, selbstverständlich.

Und letztlich könne Herr Kiese ja auch nicht davon ausgehen, dass seine Verbaldiarrhöe an die Öffentlichkeit gelangt. Klar – man beleidigt Journalisten, zu deren Jobbeschreibung es gehört, Dinge an die Öffentlichkeit zu bringen, wird von einem dieser Journalisten auch noch gefilmt, kann aber unmöglich davon ausgehen, dass die das dann wirklich öffentlich machen. Journalisten, die ihre Arbeit machen, damit kann aber auch keiner rechnen …

Nun bin ich kein Jurist. Ich bin aber der Ansicht, dass es vollkommen wurscht sein muss, ob ich bei einer Beleidigung bzw. volksverhetzenden Aussage, die eine wie auch immer geartete Gruppe von Menschen enthält und herabwürdigt, diese Gruppe explizit „mitmeine“. Vielen Menschen ist heutzutage ja auch egal, dass das generische Maskulinum alle Geschlechter mitme… ach, egal, anderes Thema.

Jedenfalls: Wenn wir Ermittlungsbehörden haben, die offensichtlich überhaupt kein Gespür dafür haben, wie Antisemitismus funktioniert, und die Beispiele für Antisemitismus ganz offensichtlich selbst dann nicht erkennen, wenn man sie ihnen nackt auf den Rücken bindet, dann brauchen wir uns auch nicht mehr wundern, wenn die Grenzen des Sagbaren immer weiter verschoben werden.

Dann brauchen wir uns auch nicht wundern, wenn die Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen Herrn Kiese insbesondere von der „Man darf hierzulande aber auch überhaupt nichts mehr sagen!“-Fraktion gefeiert wird wie die Sonnenwendfeier.

Dann brauchen wir uns auch nicht wundern, wenn in Zukunft alle nur noch schulterzuckend zur Kenntnis nehmen, wenn mal wieder eine minderbemittelte Politikerin „mausrutscht“, denn so schlimm ist das dann eigentlich gar nicht mehr.

Dann brauchen wir uns auch nicht wundern, wenn irgendwann Landolf Ladig zu acht Monaten Festungshaft verurteilt wird, in denen er einen verabscheuungswürdigen Bestseller schreibt und anschließend die Macht übernimmt. Zur Verteidigung des Hultschiner Ländchens …

Hier gehts zum Artikel der taz.

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abc.Etüden KW 6-9/2023 I

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

die Welt ist im Wandel, und die Etüden sind es auch, so scheint es. Ich harre der Dinge, die da kommen – bis dahin wirds aber Zeit, mal wieder eine der von der zauberhaften und unermüdlichen Christiane organisierten Etüden zu verfassen, diesmal zur Wortspende von Myriade. Auf gehts:

 

„Na, wie siehts aus?“

„Ach, wird  Zeit, dass Frühling wird!“

„Findste? Wieso?“

„Weil Winter beschissen ist!“

„Och …“

„Doch! Außerdem darfs wärmer werden!“

„Weil?“

„Weil man dann mal wieder mit einem Buch draußen sitzen und so tun kann, als sei die Welt in Ordnung.“

„So schlimm?“

„Na, es passieren schon dauernd Dinge in den letzten Tagen, bei denen ich mich beherrschen muss.“

„Beispiel?“

„Der EU-Migrationsgipfel! Man bekommt seit Jahren keinen Verteilungsschlüssel hin, aber auf Zäune und Wachtürme konnte man sich jetzt ganz schnell einigen. Das ist so, als würde ich versuchen, Alkoholwerbung zu verbieten, aus Mangel an Mehrheiten dafür dann aber wenigstens therapeutisches Saufen für alle beschließe, weil ich dafür Mehrheiten habe.“

„Nun …“

„Stattdessen will die Bundesrepublik einen seit 35 Jahren hier lebenden Vietnamesen ausweisen, weil der aus gesundheitlichen Gründen seinen Auslandsaufenthalt auf mehr als sechs Monate ausweiten musste. Zwei Steuerzahler weniger ….“

„Nicht dein Ernst?“

„Ja, leider doch. Der entsprechenden Petition, die das zu verhindern versucht, fehlen noch etwa 5.000 Unterschriften …“

„Sachen gibt’s.“

„Jepp. Auf der anderen Seite leben hier mehrere hunderttausend Menschen, die tatsächlich ausreisepflichtig sind. Da passiert dann aber wenig.“

„Ach, komm, mach da mal ´nen Schnitt – immer so schwere Themen.“

„Okay – reden wir über Sprache!“

„Gern.“

„Gut, reden wir beispielsweise darüber, dass in einer PC-Spielezeitschrift kürzlich sinngemäß die Artikelüberschrift „Ich habe Spiel XY probiert und bin jetzt traumatisiert“ zu lesen war.“

„Bitte?“

„Jepp. Da hab ich dann ein wenig rot gesehen und angeregt, ob es nicht vielleicht sinnvoll wäre, einen angemesseneren Umgang mit Worten wie „traumatisiert“ oder auch „getriggert“ zu pflegen.

„Und?“

„Und ich wurde ketzerisch gefragt, ob mich das „getriggert“ habe. Und ob man das nicht ignorieren könne. Erwarte man von anderen hinsichtlich der  „durch das Gendern hervorgebrachten Sprachbehinderungen“ ja auch …“

„Weißt du was?“

„Hm?“

„Es wird wirklich Zeit, dass langsam Frühling wird …“

 

300 Worte.

„The Shards“ von Bret Easton Ellis

Buch: „The Shards“

Autor: Bret Easton Ellis

Verlag: Kiepenheuer & Witsch

Ausgabe: Hardcover, 736 Seiten

Der Autor: Bret Easton Ellis wurde 1964 in Los Angeles geboren. Er besuchte die private Buckley School und begann 1986 ein Musikstudium am Bennington College in Vermont. Schon während seiner Highschool-Zeit bis in die Anfänge der 80er-Jahre spielte Ellis Keyboard in diversen New-Wave-Bands und wollte ursprünglich Musiker werden. Im Laufe des Studiums zog es ihn jedoch immer mehr zum Schreiben. Mit 21 Jahren veröffentlichte Ellis das Debüt »Unter Null« und zog zwei Jahre später nach New York City. 1991 erschien »American Psycho«, der Roman machte ihn endgültig zum Kultautor. Seit 2006 lebt er wieder in Los Angeles, in der Nähe von Beverly Hills. (Quelle: Kiepenheuer & Witsch)

Das Buch: Der siebzehnjährige Bret ist in der Oberstufe der exklusiven Buckley Prep School, als ein neuer Schüler auftaucht. Robert Mallory ist intelligent, gutaussehend und charismatisch und zieht Bret magisch an. Bret ist sich sicher, dass Robert ein düsteres Geheimnis hat, und kann dennoch nicht verhindern, dass Robert Teil seiner Freundesgruppe wird. Als der Trawler, ein Serienmörder, der Jugendliche auf bestialische Weise umbringt, immer näher an ihn und seine Clique heranrückt, gerät Bret zunehmend in eine Spirale aus Paranoia und Isolation. Doch wie zuverlässig ist Bret als Erzähler? (Quelle: Kiepenheuer & Witsch)

Fazit: Es ist schon eine ganze Weile her, seit ich Ellis‘ Roman „American Psycho“ gelesen habe. Und in meiner Erinnerung ist in erster Linie hängen geblieben, dass ich die allenthalben geäußerte Begeisterung über das Buch nachvollziehen konnte, es phasenweise aber dennoch recht prätentiös fand. Ganz ähnlich erging es mir auch mit „The Shards“. Ellis‘ neuester Streich ist ein insgesamt ganz hervorragendes Buch, mit dem ich zwischenzeitlich dennoch so meine Probleme hatte.

In „The Shards“ verfolgt der Autor von Beginn an erkennbar autofiktionale Züge. Vieles – wie beispielsweise das Aufwachsen in recht privilegierten Kreisen sowie der Schulbesuch an der Buckley –  ist Ellis‘ Lebenslauf entnommen, anderes eindeutig fiktional. Um das zu verdeutlichen, heißt die Hauptfigur auch leicht abweichend Bret Ellis, ohne Easton.

Bret ist ein 17 Jahre alter Schüler an der Buckley Prep School, der gerade in das Abschlussjahr kommt. Zu seinem inneren Zirkel gehören die Schulschönheit Susan, der Quarterback des Schulfootballteams Thom – beide sind, schön klischeemäßig, wie in einem beliebigen Highschool-Film, das Traumpaar der Schule – sowie Debbie, die Freundin von Bret. Alle vier wachsen in mehr als gutsituierten Verhältnissen auf und beginnen gerade gemeinsam ihr schulisches Abschlussjahr. Zu diesem Zeitpunkt wechselt mit Robert Mallory ein neuer Schüler in den Abschlussjahrgang. Einerseits begegnet Bret dem Neuen voller Misstrauen, andererseits verfällt er ihm vollumfänglich, denn was niemand ahnt und tunlichst auch niemand ahnen soll: Eigentlich ist Bret schwul und seine Beziehung zu Debbie allenfalls etwas zwischen Alibi und Fassade. Brets Misstrauen wird zusätzlich dadurch geschürt, dass gerade ein Serienkiller, der von den Medien „Trawler“ genannt wird, sein Unwesen treibt, und anhand verschiedenster Hinweise ist sich Bret sicher: Das muss Robert sein.

Bevor sich Bret Easton Ellis allerdings so wirklich mit diesem Handlungsstrang auseinandersetzt, präsentiert er uns erstmal ausgiebig sein Figurenensemble.

Und schon recht zu Beginn wird deutlich, dass man es bei den Hauptfiguren mit einem Rudel wohlstandverwahrloster Heranwachsender zu tun hat, die in erster Linie an ihrem Drogenkonsum – Gras, Koks, Quaaludes -, Sex, Partys und der Zurschaustellung ihres Status interessiert sind. Eltern scheinen meist nur so etwas Randfiguren und die Jugendlichen demnach weitgehend sich selbst überlassen zu sein. Auch Bret selbst ist hier keine Ausnahme von der Regel. Er bewohnt die elterliche Villa derzeit allein, da die Eltern sich auf eine mehrmonatige Kreuzfahrt zwecks Beilegung einer Ehekrise gemacht haben, wird durch eine Haushälterin mit Essen versorgt, und ergeht sich in seiner Freizeit in erster Linie in Alkohol- und Graskonsum, Kinobesuchen, Masturbation und der Arbeit an dem, was irgendwann  mal sein erster Roman werden soll.

Ansonsten macht das Leben der jungen Hauptfiguren ausnahmslos einen recht sinnentleerten und oberflächlichen Eindruck. Der Einzige, der sich dieser Oberflächlichkeit bewusst zu sein scheint, ist offensichtlich Bret. Selbst als einer der Mitschüler des Abschlussjahrgangs zu Tode kommt, mit dem Bret eine intime Beziehung geführt hat – und es zudem Zweifel daran gibt, ob es sich bei der Todesursache, wie offiziell deklariert, wirklich um einen Unfall handelt oder nicht doch der „Trawler“ hierfür verantwortlich zeichnet -, bekommt der Abschlussjahrgang keine wesentlich menschlicheren Züge. Im Gegenteil – die Tatsache, dass es sich beim Todesopfer um ein eher unscheinbares Mitglied des Jahrgangs gehandelt hat, führt dazu, dass besagter Jahrgang erschreckend schnell wieder zur Tagesordnung übergeht und die Frage, wann bei wem welche Party stattfindet wieder wichtiger zu sein scheint, als der Verlust eines Menschenlebens. Insgesamt haben die erwähnten wohlstandverwöhnten Heranwachsenden allesamt weniger Verantwortungsbewusstsein in ihren 17 Lebensjahren entwickelt, als ein in weniger begüterten Verhältnissen aufgewachsener Teenager an einem ganz normalen Dienstag Morgen zwischen zehn und und halb elf.

Und Bret beklagt das durchaus, kann aber nicht umhin, weiter mit dem Strom zu schwimmen bzw. schwimmen zu müssen. Denn einerseits bestimmt eben auch bei ihm das Sein das Bewusstsein. Und zum anderen schwimmt er eben deshalb mit, weil es seine Fassade aufrecht zu erhalten gilt. Denn dass jemand herausfindet, dass er schwul ist, wäre das absolut Letzte, was er gebrauchen kann und wenn der Preis für die Aufrechterhaltung seiner Lebenslüge eine gewisse Oberflächlichkeit im Leben ist – nun, dann ist das eben so.

Und so ist sein Leben eben weiterhin eine zwischenzeitlich endlos erscheinende Abfolge von morgendlicher Masturbation, einem Schultag, der den Eindruck vermittelt, als würde die Schülerschaft selbst entscheiden, was Ihnen beigebracht wird – und als würde das, was ihnen beigebracht wird, überspitzt gesagt im Wesentlichen aus Fahneneid, klatschen, tanzen, Kumbaya und der Lektüre von Joan-Didion-Romanen während des Sportunterrichts bestehen -, zwischenzeitlichem Drogenkonsum, stundenlangem durch die Gegend fahren in Jaguars, Porsches oder, wie Bret, in einem Mercedes SL 450, Kinofilmen, Musikstücken und erneutem Drogenkonsum.

Diese Passagen wirken, unter anderem durch die zahllose, detaillierte Erwähnung bzw. Betrachtung von Musikstücken und Kinofilmen irgendwann über alle Maßen ermüdend. Zu lesen, wie Bret zum gefühlten vierzigsten Mal durch die Straßen der Stadt cruist, welchen Schauspieler er sich zu seiner morgendlichen Selbstbefriedigung nun wieder vorstellt, welch tiefere Bedeutung er „Ultravox“-Songs beimisst, und welche Teeny-Dramen sich nun gerade wieder in seinem Umfeld abspielen, sind an Zähigkeit phasenweise schwer zu übertreffen.

Dann jedoch, irgendwann so um Seite 500 herum, gelingt es Ellis, eine ganz erstaunliche Wendung der Dynamik seines Romans hinzukriegen und man erkennt, dass einiges – nicht alles – aus den zuweilen redundant wirkenden ersten 500 Seiten durchaus Sinn ergeben hat, um seine Figuren an der Position in Stellung zu bringen, in die sie für die letzten gut 200 Seiten gehören. Es gelingt ihm, vom ewigen Teasern zukünftiger Handlungselemente wegzukommen und das absolute Grauen in seinen Roman einziehen zu lassen.

Und es gelingt ihm spannende Fragen aufzuwerfen: Inwieweit ist die Hauptfigur vertrauenswürdig und inwieweit sollte man seiner Schilderung glauben? Und in dem Zusammenhang natürlich auch: Wenn die Frage der Vertrauenswürdigkeit der Hauptfigur aufkommt, wie weit kann man dann dem Erschaffer, wie weit kann man Bret Easton Ellis selbst trauen?

Das nötigt mir einen gewissen Respekt ab, dennoch hätte „The Shards“ wohl eine noch bessere Wirkung erzielt, wenn man einige Längen schlicht herausgekürzt hätte, denn verlorengegangen wäre da nicht viel. So wirkt der Roman ein wenig wie eine Art literarisches Kohlebergwerk, bei dem man erst allerlei Abraum beseitigen muss, bevor man an den begehrten Rohstoff kommt. Wenn man „The Shards“ um diesen literarischen Abraum erleichtert, wenn man sich also die Wiederholungen wegdenkt, meinetwegen – wenn man damit ein Problem hat – auch die deftig geschriebenen, teils ins Pornografische abdriftenden Sexszenen, sowie die zahlreichen expliziten Gewaltdarstellungen, dann bleibt eine spannende Coming-of-Age-Geschichte eines jungen Mannes. Eines Mannes, der augenscheinlich entwurzelt wirkt, was unter anderem beispielsweise dadurch zum Ausdruck kommt, dass Bret im ganzen Roman nicht ein einziges Mal davon spricht „nach Hause“ zu fahren, sondern er fährt immer nur in „das leere Haus am Mulholland Drive“ zurück. Eines Mannes, der sich selbst im Roman als „Selbstdarsteller“ bezeichnet, und der sich einfach nur wünscht, so leben zu können wir er möchte.

Erleichtert um den nach meinem Dafürhalten unnötigen Ballast kommt ein ausgesprochen guter Roman heraus, der einen Hauch an John Boyne sowie ein wenig mehr an Stephen Kings Frühwerk erinnert. Und der immer noch ganz viel Bret Easton Ellis enthält.

Ich danke Kiepenheuer & Witsch für die freundliche Übersendung des kostenlosen Rezensionsexemplars. Die Tatsache, dass es sich um ein Rezensionsexemplar handelt, beeinflusst meine Meinung selbstredend nicht.

Weitere Rezensionen: Buchblogger24

Demnächst in diesem Blog: „Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit“ von Karl Ove Knausgård – über 1.000 Seiten, auf die ich mich mehr freue, als ein Sechsjähriger auf Weihnachten. 

„Königsmörder“ von Robert Harris

Buch: „Königsmörder“

Autor: Robert Harris

Verlag: Heyne

Ausgabe: Hardcover, 544 Seiten

Der Autor: Robert Harris wurde 1957 in Nottingham geboren und studierte in Cambridge. Seine Romane »Vaterland«, »Enigma«, »Aurora«, »Pompeji«, »Imperium«, »Ghost«, »Titan«, »Angst«, »Intrige«, »Dictator«, »Konklave«, »München«, »Der zweite Schlaf« und zuletzt »Vergeltung« wurden allesamt internationale Bestseller. Seine Zusammenarbeit mit Roman Polański bei der Verfilmung von »Ghost« (»Der Ghostwriter«) brachte ihm den französischen »César« und den »Europäischen Filmpreis« für das beste Drehbuch ein. Die Verfilmung von »Intrige« – wiederum unter der Regie Polańskis – erhielt auf den Filmfestspielen in Venedig 2019 den großen Preis der Jury, den Silbernen Löwen. Robert Harris lebt mit seiner Familie in Berkshire. (Quelle: Random House)

Das Buch: England, 1660. König Karl II. erlässt mit einer Akte der Verzeihung ein Generalpardon. Ausgenommen sind die Königsmörder, jene Hochverräter, die das Urteil zur Enthauptung seines Vaters Karl I. unterzeichnet haben. Dazu gehören auch die Oberste Whalley und Goffe, die im Bürgerkrieg auf der Seite Oliver Cromwells kämpften. Sie können rechtzeitig in die neuen Kolonien in Amerika fliehen. Die Flüchtlinge treffen dort auf eine Gesellschaft, die durch einen pietistischen Fanatismus geprägt ist und sich gerade vom Mutterland jenseits des Atlantiks abspaltet. Hier könnten sich die beiden unter Gleichgesinnten in Sicherheit wiegen, wären ihnen nicht ebenso fanatische Häscher auf den Fersen. (Quelle: Random House)

Fazit: Robert Harris gilt für mich als Meister der sogenannten „Alternative History“. Allerdings können seine Bücher für gewöhnlich auch dann überzeugen, wenn sie sich an historische Fakten halten. So erkläre ich heute noch jedem, der nicht danach gefragt hat, für wie gelungen ich in dem Zusammenhang Harris‘ Roman „Intrige“ halte. Und auch in seinem neuen Buch „Königsmörder“ spielt der britische Autor seine altbekannten Stärken wieder aus.

Die Handlung des Romans setzt in England im Jahr 1660 ein. Die für die Geschichte relevanten historischen Ereignisse liegen jedoch noch etwas länger zurück: Karl I. aus dem Hause Stuart regierte England von 1625 bis 1649. Seine Herrschaft war geprägt von Streitigkeiten mit dem Parlament, die sich daraus ergaben, dass das Parlament gerne in irgendeiner Form mitregiert hätte, da es ansonsten nun ja auch bestenfalls überflüssig gewesen wäre, es von Karl I. aber im Wesentlichen nur dann zusammengerufen wurde, wenn dieser mal wieder Geld und für dieses Geld die Zustimmung des Parlaments brauchte. Abseits davon schien Karl I. eine eher absolutistische Form der Monarchie, basierend auf „Gottesgnadentum“,  zu bevorzugen, für die so etwas wie Parlamente allenfalls lästig ist.

Die Streitigkeiten und Spannungen führten letztlich zum Bürgerkrieg, in dem die New Model Army – nicht die mit „51st State“ -, deren Oberbefehlshaber Oliver Cromwell später ab 1650 war, den Sieg davontrug. Infolgedessen wurde Karl I. 1649 hingerichtet. Das Parlament erklärte England zur Republik, regiert unter Oliver Cromwell. So richtig gut funktionierte aber auch das nicht. Nach mehreren Parlamentsauflösungen – unter anderem gewaltsam durch Cromwell selbst – und erfolglosen Versuchen, eine Verfassung für die neue Republik auszuarbeiten, regierte Cromwell das Land ab 1653 als sogenannter Lordprotektor. Heute würde man seine Herrschaft wohl als  Militärdiktatur bezeichnen.

Die Zeit der Republik war jedoch eine vergleichsweise kurze. Nach Cromwells Tod im September 1658 übernahm sein Sohn Richard das Amt, erwies sich nur als mäßig talentiert, gab dieses Amt schon im April 1659 auf und ging ins Exil. Das folgende Machtvakuum wurde dadurch aufgelöst, dass das Parlament von einst wieder zusammentrat und beschloss, den ebenfalls im Exil lebenden Sohn von Karl I. als Karl II. auf den Thron zu heben und zur Staatsform der Monarchie zurückzukehren.

An diesem Punkt setzt nun die Handlung des Romans ein: Zur Wiederherstellung der Monarchie gehörte auch, die Männer, die für die Verurteilung und Hinrichtung Karls I. verantwortlich waren, zur Verantwortung zu ziehen. Edward „Ned“ Whalley, Cousin von Oliver Cromwell, und sein Schwiegersohn William Goffe gehörten zu den 59 Unterzeichnern des Todesurteils gegen den ehemaligen Monarchen, müssen um ihr Leben fürchten und verlassen deshalb ihre Familien und setzen sich nach Neuengland ab. In ihrer englischen Heimat wiederum ist eine Kommission unter Richard Naylor damit beauftragt, alle noch lebenden Königsmörder ausfindig zu machen, und ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Oder was man im England des 17. Jahrhunderts eben so unter gerechter Strafe versteht. Meistens eher unappetitliche Dinge.

Es folgt eine Art Katz-und-Maus-Spiel zwischen den beiden ehemaligen Revolutionären und dem von persönlichen Rachegelüsten getriebenen Richard Naylor, das Whalley und Goffe zwingt, sich in immer weiter entfernte Siedlungen in den englischen Kolonien abzusetzen, jahrelang in irgendwelchen Höhlen oder Kellerräumen auszuharren und möglichst niemandem ihre wahre Identität preiszugeben.

Nun mag das bis hierhin, insbesondere was meinen geschichtlichen Exkurs zu Beginn angeht, etwas trocken klingen, ist es aber nicht. Viel mehr halte ich diesen Exkurs für ziemlich hilfreich. Zwar ist es ohne Probleme möglich, der Handlung auch ohne Kenntnis dieser geschichtlichen Begebenheiten zu folgen, es macht aber vieles einfacher, wenn man die Zusammenhänge kennt. Harris selbst schildert diese Zusammenhänge leider erst vergleichsweise spät in seinem Buch. Das ergibt vor dem Hintergrund der Handlung Sinn, ist für die, die nicht sonderlich firm in englischer Geschichte sind, aber trotzdem schade.

Gleichzeitig ist das aber auch fast das Einzige, was sich an Harris Roman bemängeln lässt.

Grundlage dafür, dass „Königsmörder“ mich so überzeugt hat, ist vermutlich in erster Linie Harris‘ ausgesprochen atmosphärische Erzählweise. Egal, ob man sich an Bord eines Schiffes auf der Überfahrt befindet, im gegen Mitte des 17. Jahrhunderts von so manchen Schicksalsschlägen geplagten London oder in den unendlichen Weiten der sogenannten Neuen Welt – man ist immer irgendwie mittendrin, statt nur dabei. Ohne das jetzt genauer beschreiben zu können.

Zu diesem Eindruck trägt sicherlich auch seine überzeugende Figurenzeichnung bei. Man nimmt Harris seine Interpretationen der historischen Figuren Whalley und Goffe einfach ab. Und gleiches gilt für die Entwicklung der beiden Charaktere, die oft genug für Spannungen sorgt, welche unter anderem darin begründet liegt, dass Goffe, der Jüngere, ein fundamentalreligiöser, fast schon fanatischer Puritaner ist, der sein komplettes Leben auf Gott ausrichtet, und hoffnungsfroh auf das Jahr 1666 wartet, für das er die Ankunft des Messias prophezeit – stattdessen kam in London erst die Pest und dann der Große Brand -, während sein Schwiegervater selbstverständlich als Mensch seiner Zeit ebenfalls religiös ist, mit seiner größeren Lebenserfahrung aber mehr Dinge hinterfragt und sich Gedanken darüber macht, ob man seinerzeit mit Bürgerkrieg und Monarchenhinrichtung nicht vielleicht doch einen Fehler gemacht hat.

Den beiden steht mit Richard Naylor – meines Wissens die einzige fiktive Figur des Romans – ein Antagonist gegenüber, der zwar auch überzeugen kann, dessen Hintergrundgeschichte und Handlungsmotivation aber dann doch ein wenig zu klischeehaft geraten ist. Er erinnert insgesamt unangenehm an eine weniger gut gelungene Version von Victor Hugos Javert. Das tut dem guten Gesamteindruck des Figurenensembles aber keinen Abbruch.

Und im Grunde erstreckt sich der positive Gesamteindruck auch auf die Geschichte selbst. Die jahrelange Flucht der beiden Revolutionäre, die Entfernung und Entfremdung von ihrer Familie, die Einsamkeit, das Gefühl des Eingesperrtseins – alles das schildert Harris spannend, atmosphärisch und auch in emotionaler Hinsicht sehr überzeugend. Wenn man aber zum Einstieg des Romans kritisiert, dass der Autor seiner Leserschaft nennenswerte Informationen vorenthält bzw. diese erst spät preisgibt, muss man auch die Entwicklung der Geschichte gegen Ende des Romans kritisieren. Diese verliert im Laufe der Zeit nämlich deutlich an Dynamik, was sich gezwungenermaßen aus den historischen Tatsachen ergibt. Denn irgendwann ließ dann auch in der englischen Heimat das Interesse daran nach, nach Jahren noch irgendwie zwanghaft ein paar ehemaliger Verräter habhaft werden zu wollen. Dadurch funktioniert das Katz-und-Maus-Spiel, das den Roman bis zu diesem Punkt über weite Strecken getragen hat, nur noch bedingt und Harris wendet sich demnach folgerichtig zeitweise von seinen Protagonisten ab und der Schilderung geschichtlicher Ereignisse wie der Pestepidemie in London 1665/66 bzw. dem Großen Brand von London 166 zu.

Der Roman zerfasert ob der gezwungenermaßen geänderten Ausrichtung ein wenig und die Handlung plätschert eher so aus.

Insgesamt bleibt jedoch ein mehr als überzeugendes Leseerlebnis für alle geschichtsinteressierten Menschen oder die, die es werden wollen. Wer mal wieder Lust hat, sich über mehr als 500 Seiten in einem Abenteuerroman zu verlieren, dem sei „Königsmörder“ wärmstens ans Herz gelegt.

Ich danke dem Bloggerportal bzw. dem Heyne Verlag für die freundliche Übersendung des kostenlosen Rezensionsexemplars. Die Tatsache, dass es sich um ein Rezensionsexemplar handelt, beeinflusst meine Meinung selbstredend nicht.

Demnächst in diesem Blog: „The Shards“ von Bret Easton Ellis. Dauert aber noch …

Montagsmotz #1

 

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

ich bin ja bekennender „Garfield“-Fan. Zu meinen persönlichen Top 3 der Comics rund um den orangefarbenen Kater von Jon Arbuckle aus der Feder von Jim Davis gehört der, in dem Jon seinen Kater fragt: „Sag mal, Garfield, warum hasst du eigentlich Montage?“ Garfield schaltet daraufhin das Radio ein und öffnet, noch während im Radio der Wettermensch verkündet: „Das Wetter: Strahlender Sonnenschein über den ganzen USA …“, die Haustür, vor der es in Strömen regnet, woraufhin der Wettermensch fortsetzt: „…nur über einer kleinen Stadt im Mittleren Westen regnet es in Strömen.“

Exakt so ist auch mein persönliches Verhältnis zu Montagen. 

Da passt es nur zu gut, dass die geschätzte Bloggerkollegin und Landkreisnachbarin Annuschka unlängst zum Montagsmotz aufgerufen hat. Der hat mitnichten zum Ziel, zu einem Rundumschlag gegen alles Mögliche unterhalb der Gürtellinie anzusetzen, sondern vielmehr, in möglichst konstruktiver Weise aktuelle Ärgerlichkeiten anzusprechen und mithilfe der daraus gewonnen Katharsis viel besser in die neue Woche starten zu können. Genau mein Ding! :-)

Nun könnte ich mich anlässlich meines Premieren-Montagsmotz – „Montagsmotz“ ist faszinierenderweise ein Wort, dass die Rechtschreibkorrektur nicht bemängelt, merke ich gerade … – beispielsweise mit dem Umstand beschäftigen, dass die AfD heute zehn Jahre alt wird. Damit ist sie einerseits zwölf Jahre zu alt, andererseits müsste sie dann ja nun bald auf die Klippschule wechseln. Vermutlich wiederholt sie aber seit Jahren beharrlich die erste Klasse. Noch wahrscheinlicher aber wird sie von Chrupalla, Weidel, Gauland und Brandel zu Hause unterrichtet. Da mir aber daran gelegen ist, mein Frühstück bei mir zu behalten, beschäftigen wir uns jetzt nicht mit dieser skurrilen Vereinigung.

Viel eher könnte ich mich angesichts der Erfahrungen des heutigen Morgens beispielsweise mit der Frage der unfassbar intelligenten Ampelschaltungen in diesem Land befassen, die durchaus zur Folge haben können, dass man an einer Kreuzung an einer roten Ampel steht, an der auf der Straße, auf der die Ampel gerade auf grün steht, überhaupt niemand kommt. Oder auch mit der Frage, ob der Lastwagenfahrer vor mir seine konstante Geschwindigkeit von etwa fünf Stundenkilometern heute früh deswegen gehalten hat, weil er gerade extrem reaktionsfreudige Chemiewaffen nach Taiwan gefahren hat. Oder mit der Frage, warum das Schicksal mich an einem Montag Morgen damit konfrontiert, an einer der o.g. roten Ampeln hinter einem anderen Lkw zu stehen, der auf seinem Heck eine riesige Werbung für Weizenbier hatte, während die Band „Blur“ gerade ihren „Song 2“ aus der Anlage jammerte – da gehen einem Fragen durch den Kopf wie „Muss ich jetzt eigentlich hier stehen, oder könnte ich nicht gerade auch was ganz anderes machen?“ 

Nun wären von derartiger anekdotischer Evidenz ausgehende Fragen in erster Linie für mich selbst interessant, weswegen wir uns auch diesen nicht näher zuwenden. 

Nein, wir wenden uns einem bestimmten Umstand und dessen Folgen zu, nämlich dem, dass ich im schönsten Bundesland der Welt wohne. Nun nehmen natürlich zahllose Nicht-Niedersachsen für sich ebenfalls in Anspruch, im schönsten Bundesland der Welt zu wohnen, haben damit aber selbstverständlich vollkommen unrecht. Denn es kann nur eines geben. Ich mag Niedersachsen, ich mag Land und Leute und ich mag durchaus auch die politische Führung des Landes, namentlich in Person des „Landesvaters“ und Ministerpräsidenten Stephan Weil, der in seiner ruhigen besonnenen Art ein wenig an den Kanzler erinnert, nur mit dem Unterschied, dass man ihm tatsächlich abnimmt, dass er alles unter Kontrolle hat.

Umso ärgerlicher war ich nun vor ein paar Tagen bei der Lektüre des Tageszeitung. Die Älteren erklären den Jüngeren jetzt bitte, was das ist, ja!?

Was war passiert? Nun, in erster Linie war passiert, dass die EU eine neue EU-Abgasnorm 7 für Verbrennermotoren durchsetzen möchte, die aber in Teilen auch für Elektromotoren gelten soll. Diese wendet sich in erster Linie der Frage der Stickoxid- und Feinstaubemissionen zu und soll dafür sorgen, dass beispielsweise der Stickoxidausstoß bis 2035 bei Pkw um 35 und bei Bussen und Lkw um 50 Prozent absinkt.

Nun treten die drei Ministerpräsidenten der „Autoländer“ Baden-Württemberg (Audi, Porsche, Daimler), Bayern (BMW, Audi, MAN), und eben Niedersachsen (VW) auf den Plan und beschäftigen sich als eine Art apokalyptische Reiter der Autoindustrie. Gut, die Offenbarung spricht von vier Reitern, aber entweder hatte Ministerpräsident Boris Rhein aus Hessen gerade kein Pferd oder sogar er hat Opel bereits aufgegeben. Sei´s drum. 

Jene drei apokalyptischen Reiter also stimmen ein ins Lamento der Autoindustrie. 

Da wird beispielsweise beklagt, dass die EU-Abgasnorm 7 Sensoren für den Ausstoß bestimmter Schadstoffe verlangt, die es jetzt noch gar nicht gibt. Also, die Sensoren, nicht die Schadstoffe, die gibt’s schon. 

Ich persönlich finde ja, dass man Ingenieure der Autoindustrie gerne mal wieder mit ambitionierten Aufgaben konfrontieren sollte. Und schließlich haben es besagte Ingenieure im Abgasskandal ja auch geschafft, technische Lösungen zu erarbeiten, um gesetzliche Vorgaben zu umgehen. Da hätte ich doch mal den verwegenen Vorschlag, diesmal technische Lösungen zu erarbeiten, um damit gesetzliche Vorgaben einzuhalten

Da wird zudem beklagt, dass sich die Autoindustrie „auf den unumkehrbaren Weg in Richtung emissionsfreie Antriebe gemacht“ habe und man deswegen der Meinung sei, „dass für die Optimierung einer Technologie, die innerhalb der EU voraussichtlich ab 2035 nicht mehr zugelassen wird, über Gebühr Mittel aufgewendet werden müssen“ keine gute Idee ist. Die Kosten, die die Umsetzung der Richtlinie verursachen würden, sollten viel mehr „in die neuen, klimaschonenden Antriebe“ investiert werden.

Ich finde ja, dass diese Haltung im Sinne von „Die Dinger werden eh bald verboten, da isses dann nun doch auch egal.“ ein bisschen an die der Landwirte erinnert, die angesichts der Nitratbelastung des Bodens für sich die Berechtigung erkämpfen wollen, da, wo der Boden noch nicht nitratverseucht ist, solange weiter zu überdüngen, bis das der Fall ist. Diese Haltung erinnert ein bisschen an die eines Alkoholikers, der weitertrinken möchte, bis er sich aber mal wirklich die Leberzirrhose erarbeitet hat. Und zum Einwand, man könne die Kosten viel besser „in die neuen, klimaschonenden Antriebe“ investieren, hätte Loriot gesagt: „Ach was!?“ Ja, dann macht das doch. Stattdessen beklagt die Industrie, dass die Umsetzung der Richtlinie Neuwagen mit Verbrenner um bis zu 5.000 Euro verteuern würde. Und wieder: „Ach was!?“

Während die FDP – Überraschung! – „das vorzeitige Aus für Tausende von Arbeitsplätzen in Deutschland“ prognostiziert – wie schon bei Senkung der Wochenarbeitszeit auf unter 168 Stunden, Verbot der Prügelstrafe an Schulen und Einführung des Mindestlohns, der das Land nach Mutmaßungen der gelben Partei eigentlich schon in den Ruin hätte treiben müssen, beklagen die drei Ministerpräsidenten in ihrer dreiseitigen Festschrift des Lobbyismus, dass die Fristen zur Umsetzung der Abgasnorm 7 viel zu kurz und „technologisch zu ambitioniert“ seien.

Ich finde ja, dass es eigentlich mal ganz erfrischend ist, wenn der Industrie gewisse „ambitionierte“ Vorgaben gemacht werden. Vorgaben, die Umweltverbände übrigens für nicht ansatzweise ausreichend halten. Die Wahrheit wird irgendwo in der Mitte liegen. Jedenfalls: Vorgaben seitens des Gesetzgebers wären tatsächlich öfter mal zu begrüßen, dann hätten wir beispielsweise vermutlich auch schon seit längerem keine Verpackungen mehr aus vierzehn verschiedenen Kunststoffen, die man auch mit einem Master in Abfallwirtschaft und Ökotrophologie nicht korrekt entsorgen könnte.

Was mich an den Untergangsvisionen der drei Ministerpräsidenten so stört, ist die Außenwirkung, die so etwas haben kann. In einer Zeit, in der die Menschen der Meinung sind, dass es sowieso egal ist, was und wen man wählt, weil „die da oben“ – wer immer das auch ist – ja sowieso nur das machen, was „die Wirtschaft“ – wer immer das auch ist – vorgibt, in einer Zeit, in der im Bundestag Mitte letzten Jahres auf jeden Bundestagsabgeordneten und jede Bundestagsabgeordnete rein rechnerisch bereits 38 Lobbyisten kamen – 28 registrierte Lobbyisten saßen seinerzeit auch in Personalunion als Abgeordnete im Bundestag, aber hey … -, in einer Zeit allgemeiner Politikverdrossenheit, die sicherlich unter anderem auch daraus resultiert, dass man gelegentlich hört, dass während der Pandemie die Reichen überdurchschnittlich reicher, die Armen aber überdurchschnittlich ärmer geworden sind, in einer Zeit, in der all das denen Vorschub leistet, die „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!“ blöken, und die sich schon in einer Diktatur wähnen und ihre Meinungsfreiheit eingeschränkt sehen, weil man zu ihrem Blödsinn nicht auch noch applaudiert …

… in einer Zeit, in der all das Beschriebene stattfindet, finde ich es fatal, wenn sich führende Politiker als bessere Pressesprecher beliebiger Wirtschaftszweige betätigen. 

Statt „Das geht so nicht!“ zu sagen, könnte man sagen, dass man verstanden hat, warum die EU neue Vorgaben machen will und nun versucht, diese auch umzusetzen. Denn über vieles wurde schon gesagt, dass es unmöglich sei, bis der Erste kam, der das nicht wusste und es einfach gemacht hat. Also, los, an die Arbeit, liebe Autoindustrie! 

Dann kleben sich in Zukunft vielleicht auch weniger Menschen dort fest, wo eure Kundschaft im Begriff ist, eure Produkte zu nutzen …