Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
auch wenn die geschätzte Initiatorin des Montagsmotz Ihrerseits heute keinen Grund zu motzen sieht, bedeutet das ja nicht, dass ich von selbigem Abstand nehmen muss. Im Gegenteil – ich sehe mich sogar außerstande, das heute nicht zu tun.
Und nun läge es ja nur zu nahe, mich darüber zu echauffieren, dass vorgestern Tausende Menschen dem Aufruf zweier offensichtlicher Diplomatie-Expertinnen gefolgt sind.
Zweier Diplomatie-Expertinnen, die seit geraumer Zeit Unwahrheiten verbreiten wie die, dass man Kriege gegen eine Atommacht nicht gewinnen könne. Natürlich – wer kennt sie nicht, die strahlenden Siege der US-Armee in Korea oder Vietnam, oder den mindestens ebenso überzeugenden Sieg der Russen im Krieg in Afghanistan zwischen 1979 und 1989?
Oder die, dass Kriege nicht mit Waffengewalt beendet werden können. In der Wahrnehmung der beiden Diplomatie-Expertinnen wurde der 2. Weltkrieg vermutlich nicht durch eine mittels massivem Waffeneinsatz aus zahllosen Staaten herbeigeführte bedingungslose Kapitulation beendet, sondern durch gemeinsames Eis essen und anschließende Verhandlungen mit dem Nazi-Regime, die selbstverständlich auf Augenhöhe stattzufinden hatten und in denen selbstverständlich beide Seiten zu Zugeständnissen bereit sein mussten, auch die zahllosen von Nazi-Deutschland überfallenen Staaten, weswegen dann letztlich, wer würde das nicht wissen, ja schließlich auch das Elsass, Eupen-Malmédy, das Sudetenland nebst Hultschiner Ländchen, Österreich und die Hälfte Polens langfristig und bis heute in das deutsche Hoheitsgebiet eingegliedert wurden …
Zwei Diplomatie-Expertinnen, die aber nicht nur durch bemerkenswerte Unkenntnis in Geschichte auffallen, sondern die – eben deswegen sind sie ja Expertinnen – über außerdordentliche Fähigkeiten im Bereich der Diplomatie verfügen müssen, scheinen Sie doch der Meinung zu sein, ein Friedensschluss sei eine ganz einfache Angelegenheit und im Wesentlichen etwa so zu erreichen, wie ein Sechsjähriger sich eine Scheibe Mortadella an der Wursttheke ernörgelt – nämlich wahlweise durch beharrliches Aufstampfen, oder aber auf den Boden werfen oder auch Luftanhalten – oder in etwa so wie man eine Kneipenschlägerei beendet – also sich erst die Fresse polieren, sich dann die Hand geben und zusammen ein Bier trinken, denn irgendwann werden wir bestimmt drüber lachen, und ich weiß eigentlich schon gar nicht mehr, warum wir uns geprügelt haben, und so …
Zwei Diplomatie-Expertinnen, deren Weltbild in erster Linie auf irgendwas zwischen mangelnder Resilienz und kognitiver Dissonanz beruht sowie einer gehörigen Portion Egozentrik und Überheblichkeit, die darauf basiert, dass man Krieg doof findet und jetzt bitte alles wieder so schön zu sein hat, wie es nie war, und welches sich beispielsweise darin manifestiert, dass in ihrem, ähm, Manifest steht: „Es ist Zeit, uns zuzuhören!“ – UNS! Nicht der Ukraine und ihrer Bevölkerung, sondern „uns“, denn „wir“ werden schon wissen, was für andere Staaten richtig ist -, und darin, dass dort ebenfalls steht, dass man den Kanzler daran erinnern müsse, dass zu seinem Amtseid gehöre, „Schaden vom deutschen Volk abzuwenden“. Vom ukrainischen Volk steht im Eid nichts …
Ja, über all das könnte ich mich echauffieren, aber die geschätzte Leserschaft muss heute ein gewisses Durchhaltevermögen an den Tag legen, denn einerseits will ich mich über das o.g. gar nicht aufregen, sondern mich stattdessen mit etwas anderem befassen, was – zumindest in meiner Wahrnehmung -weit weniger im Fokus der Öffentlichkeit stand, was letztlich bedeutet, dass dieser Text an dieser Stelle eigentlich erst so richtig los geht. Na, ich kann ja auch nichts dafür.
Aber eigentlich sollte es an dieser Stelle eben nicht um die o.g. Expertinnen gehen, sondern um Martin Kiese. Um wen? Ja, genau.
Martin Kiese ist seines Zeichens Neonazi und Mitglied im Bundesvorstand der Partei „Die Rechte“ – der Name ist selbstredend Programm. Besagter Herr Kiese befand sich im November 2020 auf einer von Rechten organisierten Veranstaltung zum Volkstrauertag. Und am Rande dieser Veranstaltung ließ sich Herr Kiese dazu herab, anwesenden Journalisten die Worte „Judenpresse“, „Feuer und Benzin für euch“ oder auch „Judenpack“ entgegenzubrüllen. Der Vorgang wurde mittels Handy gefilmt, ist insofern unstreitig und daher im Folgenden Ursache von staatsanwaltlichen Ermittlungen. Bald darauf wurden diese Ermittlungen wegen Verdachts auf Volksverhetzung und Beleidigung jedoch eingestellt.
In der Folge gingen diverse Beschwerden über die Einstellung der Ermittlungen ein, woraufhin die Generalstaatsanwaltschaft diese Entscheidung aufhob und erneute Ermittlungen forderte.
Und selbige sind von der Staatsanwaltschaft Braunschweig Anfang des Monats nun zum zweiten Mal eingestellt worden…
Als Begründung wurde beispielsweise angeführt, dass Herrn Kieses Äußerung klar und explizit an eine Handvoll anwesender Medienvertreter gerichtet war. Um mal aus dem entsprechenden „taz“-Artikel zu zitieren: „Zwar habe er die Journalisten als „Judenpack“ bezeichnen wollen, nicht aber die in Deutschland lebenden Juden als „Pack“. Ach so – na ja, dann …
Außerdem habe sich Kiese ja „spontan“ geäußert. Aha – dann kann so etwas im Eifer des Gefechts schon mal passieren? Na denn. Wobei ich leise Zweifel habe, dass Herrn Kiese selbst dann etwas Gehaltvolleres eingefallen wäre, wenn er für die Ausformulierung seiner Gedanken drei Tage Vorlaufzeit gehabt und zudem die Schriftform gewählt hätte.
Außerdem sei der Vorwurf der Volksverhetzung schon deswegen nicht gegeben, weil die Äußerungen am Rande der Veranstaltung gefallen seien, und niemand da war, der hätte aufgehetzt werden können. Also – außer denen, die ja schon da waren und sowieso den ganzen Tag nichts anderes zu tun haben, selbstverständlich.
Und letztlich könne Herr Kiese ja auch nicht davon ausgehen, dass seine Verbaldiarrhöe an die Öffentlichkeit gelangt. Klar – man beleidigt Journalisten, zu deren Jobbeschreibung es gehört, Dinge an die Öffentlichkeit zu bringen, wird von einem dieser Journalisten auch noch gefilmt, kann aber unmöglich davon ausgehen, dass die das dann wirklich öffentlich machen. Journalisten, die ihre Arbeit machen, damit kann aber auch keiner rechnen …
Nun bin ich kein Jurist. Ich bin aber der Ansicht, dass es vollkommen wurscht sein muss, ob ich bei einer Beleidigung bzw. volksverhetzenden Aussage, die eine wie auch immer geartete Gruppe von Menschen enthält und herabwürdigt, diese Gruppe explizit „mitmeine“. Vielen Menschen ist heutzutage ja auch egal, dass das generische Maskulinum alle Geschlechter mitme… ach, egal, anderes Thema.
Jedenfalls: Wenn wir Ermittlungsbehörden haben, die offensichtlich überhaupt kein Gespür dafür haben, wie Antisemitismus funktioniert, und die Beispiele für Antisemitismus ganz offensichtlich selbst dann nicht erkennen, wenn man sie ihnen nackt auf den Rücken bindet, dann brauchen wir uns auch nicht mehr wundern, wenn die Grenzen des Sagbaren immer weiter verschoben werden.
Dann brauchen wir uns auch nicht wundern, wenn die Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen Herrn Kiese insbesondere von der „Man darf hierzulande aber auch überhaupt nichts mehr sagen!“-Fraktion gefeiert wird wie die Sonnenwendfeier.
Dann brauchen wir uns auch nicht wundern, wenn in Zukunft alle nur noch schulterzuckend zur Kenntnis nehmen, wenn mal wieder eine minderbemittelte Politikerin „mausrutscht“, denn so schlimm ist das dann eigentlich gar nicht mehr.
Dann brauchen wir uns auch nicht wundern, wenn irgendwann Landolf Ladig zu acht Monaten Festungshaft verurteilt wird, in denen er einen verabscheuungswürdigen Bestseller schreibt und anschließend die Macht übernimmt. Zur Verteidigung des Hultschiner Ländchens …
Hier gehts zum Artikel der taz.