„Das Verschwinden der Adèle Berdeau“ von Graeme Mac

Buch: „Das Verschwinden der Adéle Bedeau“

Autor: Graeme Macrae Burnett

Verlag: btb

Ausgabe: Taschenbuch, 288 Seiten

Der Autor: Graeme Macrae Burnet, geboren 1967 in Kilmarnock, Schottland, studierte Englische Literatur in Glasgow. Er schreibt seit seiner Jugend und wurde 2013 mit dem Scottish Book Trust New Writer’s Award ausgezeichnet. Mit seinem einzigartigen historisch-literarischen Krimi »Sein blutiges Projekt« schaffte er 2016 den Sprung auf die Shortlist des renommierten Man Booker Preis und gehört seitdem zu den außergewöhnlichsten Stimmen der internationalen Krimiszene. Er lebt und schreibt in Glasgow. Seine Bücher wurden bislang in über zwanzig Sprachen übersetzt. (Quelle: Random House)

Das Buch: Manfred Baumann ist ein Eigenbrötler. Obwohl als kleinstädtischer Bankdirektor im Elsaß in guter Stellung, tut er sich im Umgang mit Menschen schwer. Umso wichtiger sind für den stillen Junggesellen seine gewohnten Routinen: ein penibel geplanter Tagesablauf, die regelmäßigen Ausflüge nach Straßburg in das Etablissement von Madame Simone und die Besuche in seinem Stammlokal. Tag für Tag beobachtet er dort die blutjunge Kellnerin Adèle Bedeau. Bis sie eines Abends spurlos verschwindet. Manfreds Welt gerät ins Wanken, als Kommissar Georges Gorski die Ermittlungen aufnimmt. Aber wird Gorski, der noch immer schwer an einem früheren Ermittlungsfehler zu tragen hat, diesmal den richtigen Riecher haben?  (Quelle: Random House)

Fazit: Wenn Autoren mit einem Buch erstmals auch international so richtig viel Erfolg haben, dann erscheint in der Folge oftmals in kurzen Abständen so ziemlich alles, was sie bislang verfasst haben. So ist zum Beispiel zu erklären, warum ich mich seinerzeit durch das im Original eigentlich schon vor Urzeiten erschienene „Der Planetenwanderer“ von George R. R. Martin kämpfen musste und so ist auch so erklären, warum ich noch vor Abschluss von „Das Lied von Eis und Feuer“ mit einer Anthologie aller seiner jemals geschriebenen bzw. erhaltenen Einkaufszettel und Tankquittungen rechne. Zudem ist man von diesem im Nachhinein erschienenen Frühwerk dann oftmals eher enttäuscht, weil es qualitativ nicht mit dem international bekannten Werk mithalten kann, sonst hätte es, das Frühwerk,  sich seinerseits ja bereits durchgesetzt.

Und so hätte es auch im Falle von Graeme Macrae Burnet sein können, denn sein neuer Roman „Das Verschwinden der Adéle Bedeau“ erschien im Original bereits vor dem allenthalben und im letzten Jahr auch von mir hochgelobten „Sein blutiges Projekt„, das es immerhin auf die Shortlist des renommierten Man Booker Prize schaffte.

Glücklicherweise stellen sich jegliche vielleicht vorhandenen Sorgen hinsichtlich der literarischen Qualität als unbegründet heraus, denn „Das Verschwinden der Adèle Bedeau“ ist nichts anderes als ein ganz großartiger Roman – wenn man die Stimmung mag, die er verbreitet.

Zu Beginn stellt uns der Autor seinen Protagonisten Manfred Baumann und dessen Wohnort, das Städtchen Saint-Louis im Elsass, vor. Baumann ist als Leiter einer Bank beruflich augenscheinlich recht erfolgreich, führt ansonsten allerdings ein Leben, das strengen Routinen unterworfen ist, zu denen unter anderem gehört, dass er in der Mittagspause in immer dasselbe Lokal geht, wo er immer denselben Mittagstisch bestellt und die immer gleiche Menge des immer gleichen Rotweins trinkt. In diesem Lokal trifft er auch erstmals auf die dort als Kellnerin tätige Adèle Bedeau. Bis auf eine kurze Unterhaltung auf dem Heimweg haben beide jedoch nicht viel miteinander zu tun.

Als Adèle eines Tages nicht zur Arbeit auftaucht, scheint Baumann der einzige zu sein, der sich wirklich Sorgen um sie macht. Erst als ihre Abwesenheit länger dauert, tritt auch die Polizei in Person von Kommissar Georges Gorski auf den Plan, der die Ermittlungen aufnimmt. Im Zuge dieser Ermittlungen wird auch Baumann vernommen, verneint aber, Adèle außerhalb des Lokals jemals begegnet zu sein, obwohl es Beweise dafür zu geben scheint, und verhält sich auch ansonsten auffällig. Gorski ist sicher, mit ihm den Verantwortlichen für Adèles Verschwinden gefunden zu haben.

Der eigentliche Kriminalfall gerät in Burnets Buch sehr schnell in den Hintergrund, im Grunde ist sein Roman oftmals mehr Charakterstudie als Krimi. Allerdings eine ausnehmend gute. Detailliert wird beleuchtet und erklärt, wie die beiden Protagonisten Baumann und Gorski aufgrund ihrer Vorgeschichte zu den Menschen wurden, die sie sind. So leidet Gorski beispielsweise unter einem vor Jahrzehnten unaufgeklärt gebliebenen Mordfall, in dem er für die Ermittlungen zuständig gewesen ist, sowie unter seiner Ehefrau, der er sich im Rückblick viel zu früh an den Hals geworfen hat, die sich selbst für etwas Besseres hält und die keine Gelegenheit auslässt, ihren Mann spüren und wissen zu lassen, dass er „nur“ Polizist ist und wie enttäuscht sie darüber ist, nicht in „besseren“ Kreisen zu verkehren.

Baumann wiederum wirkt so verschroben, wie man nur sein kann. Sein Leben zeichnet sich durch die immer gleichen Routinen ab. An immer denselben Wochentagen werden immer dieselben Lokalitäten aufgesucht, in denen er immer dasselbe tut oder bestellt. Niemals würde er von diesen Routinen abweichen, hat er doch den Eindruck, ständig unter Beobachtung seiner Mitmenschen zu stehen. Und wenn er von seinen Gewohnheiten abwiche, so Baumanns Logik, so würden die anderen das bemerken und er würde sich wessen auch immer verdächtig machen. Wie so häufig würden die anderen Menschen im Falle einer Abweichung von seiner Routine genau das über ihn denken, was die meisten Menschen über ihre Mitmenschen denken, nämlich gar nichts. In der Gedankenwelt von Baumann ergibt seine zwanghafte Handlungsweise allerdings durchaus Sinn und Burnet erklärt detailliert, wie es dazu kommen konnte. Darüber soll an dieser Stelle natürlich geschwiegen werden.

Wären die beiden Charakterstudien als solche vielleicht etwas wenig, so ist es darüber hinaus in erster Linie die verbreitete Stimmung, die den Roman trägt. Und diese kann durchaus als ausgeprochen trostlos bezeichnet werden. Aber das muss ja nichts Schlechtes sein, das muss man halt eben nur mögen. Burnet zeichnet ein eher düsteres Bild von Saint-Louis und seinen Bewohnern, von denen im Grunde genommen keiner, aber auch wirklich keiner, als Sympathieträger taugt. Ich mochte dieses eher graue Flair des Buches, manchen mag es aber vielleicht zu trostlos vorkommen.

Burnets Roman wird allenthalben mit dem Werk von Georges Simenon verglichen, was ich nicht beurteilen kann, weil ich Simenon noch nicht gelesen habe, zeitnah aber vermutlich mal ändern sollte. Der aufmerksamen Leserschaft des Romans wird aber nicht entgehen, dass sich Burnet auch an anderen Stellen der Weltliteratur bedient hat. So findet sich Camus‘ Existenzialismus nicht nur inhaltlich wieder, er wird auch ganz offen thematisiert. Zudem enthält der Roman, zumindest in meiner Wahrnehmung, Züge von Dostojewskis „Schuld und Sühne“ und irgendwie fühlte ich mich auch an Dürrenmatts „Der Richter und sein Henker“ erinnert, auch wenn ich diesen Eindruck vielleicht exklusiv habe.

Den einzigen Ansatz zur Kritik bietet im Grunde genommen das Nachwort, von dem ich allerdings immer noch nicht weiß, ob ich es als überflüssig betrachten oder nicht doch lieber schelmisch grinsen soll. Wie schon in „Sein blutiges Projekt“, dem er einen realen Hintergrund andichten wollte, versucht Burnet, hier die Illusion zu erschaffen, bei „Das Verschwinden der Adèle Bedeau“ handele es sich lediglich um die Übersetzung eines im französischen schon vor Jahrzehnten erschienenen und 1989 von Claude Chabrol verfilmten Romans. Es wird nicht wundern, dass weder der französische Roman noch die besagte Verfilmung jemals existiert haben. Von dieser Idee, seinen Büchern einen realen Hintergrund zu verleihen, mag man halten, was man möchte, die Umsetzung jedoch – das Ganze also eben noch so gerade im Nachwort dranzuhängen – erschien mir persönlich etwas unpassend. Als Einleitung, Prolog oder was auch immer, zumindest aber der eigentlichen Handlung vorangestellt, hätte es besser gewirkt. Aber das ist letztlich Leiden auf hohem Niveau.

Wer also Romane mag, die mit ihren Charakterstudien und ihrer Stimmung überzeugen, in leichten Zügen etwas Kammerspielartiges haben, und wer dafür auf actiongeladenes Feuerwerk und hochdramatische Spannung verzichten kann, der dürfte mit „Das Verschwinden der Adèle Bedeau“ glücklich werden. Ich zumindest wurde es.

Ich danke dem btb Verlag und dem Bloggerportal für die freundliche Übersendung des kostenlosen Rezensionsexemplars. Die Tatsache, dass es sich um ein kostenloses Rezensionsexemplars handelt, beeinflusst meine Meinung selbstredend nicht.

Demnächst in diesem Blog: Entweder „Die Eroberung Amerikas“ von Franzobel oder „Shanghai fern von wo“ von Ursula Krechel.

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„Das Geheimnis von Zimmer 622“ von Joël Dicker

Buch: „Das Geheimnis von Zimmer 622“

Autor: Joël Dicker

Verlag: Piper

Ausgabe: Hardcover, 617 Seiten

Der Autor: Joël Dicker wurde 1985 in Genf geboren. Seine Bücher „Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert“ und „Die Geschichte der Baltimores“ wurden weltweite Bestseller und über sechs Millionen Mal verkauft. Für „Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert“, das in Frankreich zur literarischen Sensation des Jahres 2012 wurde und dessen Übersetzungsrechte mittlerweile schon in über 30 Sprachen verkauft wurden, erhielt Dicker den Grand Prix du Roman der Académie Française sowie den Prix Goncourt des Lycéens. Mit „Das Verschwinden der Stephanie Mailer“ konnte er an seine Erfolge anknüpfen und schaffte es ebenfalls auf die Bestsellerlisten. (Quelle: Piper)

Das Buch: Eine dunkle Nacht im Dezember, ein Mord im vornehmen Hotel Palace de Verbier in den Schweizer Alpen. Doch der Fall wird nie aufgeklärt. – Einige Jahre später verbringt der bekannte Schriftsteller Joël Dicker seine Ferien im Palace. Während er die charmante Scarlett Leonas kennenlernt und sich mit ihr über die Kunst des Schreibens unterhält, ahnt er nicht, dass sie beide in den ungelösten Mordfall hineingezogen werden. Was geschah damals in Zimmer 622, das es offiziell gar nicht gibt in diesem Hotel … (Quelle: Piper)

Fazit: Im Laufe eines Jahres gibt es für mich neben den gesetzlichen Feiertagen immer auch so etwa eine Handvoll literarischer Feiertage, und zwar immer dann, wenn jemand aus dem illustren Kreis der von mir favorisierten Autorinnen und Autoren ein Buch veröffentlicht. Und Joël Dicker gehört zu besagtem Kreis absolut dazu, weswegen es nicht verwundern wird, dass ich mich auf diese Neuerscheinung gefreut habe wie ein Sechsjähriger auf Weihnachten.

Dabei wähnte ich Dickers letzte Veröffentlichung „Das Verschwinden der Stephanie Mailer“ noch gar nicht so lange her, stellte aber mit Erschrecken fest, dass seitdem schon wieder drei Jahre ins Land gegangen sein sollen, was ich mir einerseits nur mit einem Fehler im Raum-Zeit-Kontinuum erklären kann, was uns andererseits aber eigentlich auch gar nicht weiter beschäftigen soll.

Beschäftigen sollte uns viel mehr Dickers neuer Roman. Warum dieses Buch einiges anders macht als vergleichbare Genrevertreter, warum es Dicker-Fans mit Sicherheit glücklich machen wird, warum die, die das nicht sind, aber sicherlich auch Anlasss zur Kritik finden werden, versuche ich im Folgenden mal zu erläutern.

Zu Beginn des Buches lernen wir den Autor höchstpersönlich ein bisschen kennen. Denn Dicker hat sich diesmal selbst als Romanfigur und die Entstehung des vorliegenden Romans selbst als Handlungselement eingebaut. Nun bekommt das Buch auf diese Weise eine gewisse Metaebene – und ich mag Metaebenen -, allerdings muss man fairerweise zugeben, dass das Buch rein auf der Handlungsebene auch funktioniert hätte, wenn man statt des Autors höchstpersönlich eine fiktive Schriftstellerfigur als Protagonisten etabliert und auf sonstige literarische Kunstgriffe verzichtet hätte.

Sehr bald wird allerdings deutlich, warum sich Dicker eben für diesen literarischen Kunstgriff entschieden hat. Denn „Das Geheimnis von Zimmer 622“ ist nicht nur ein einfacher Krimi – was völlig wertfrei gemeint ist – sondern es ist auch als Hommage an Dickers ehemaligen Verleger Bernard de Fallois gedacht, der 2018 im Alter von 92 Jahren verstarb, seinerzeit übrigens von sich reden machte, als man in seinem Nachlass unveröffentlichte Proust-Texte fand, und dem Dicker seine Autorenkarriere im Wesentlichen zu verdanken hat. Und um der Leserschaft alle Dinge über de Fallois, die Dicker als wesentlich und erzählenswert erachtet, zu erzählen, und vielleicht auch, um für sich den Tod des Verlegers ein bisschen zu verarbeiten, erscheint die Idee, sich selbst als Romanfigur einzubauen auch völlig logisch und ist, selbst wenn die Umsetzung ein bisschen aufgesetzt wirkt, schon recht charmant, insofern sei Joel Dicker solcherlei Schnickschnack – ebenfalls wertfrei gemeint – verziehen. Zumal die Wichtigkeit, die Bernard de Fallois als Person für den jungen Schriftsteller besessen haben muss, dadurch deutlich wird, dass Dicker sich unlängst entschieden hat, seinen Verlag „Éditions de Fallois“ zu verlassen und mit Beginn des Jahres 2022 seinen eigenen Verlag zu gründen, in dem zukünftig seine Bücher erscheinen sollen.

Kommen wir ein bisschen weg von der Autoren-Verleger-Beziehung und wenden uns der Handlungsebene zu, dann sehen wir, dass Dicker hier an entscheidenen Stellen Dinge anders macht als in anderen Krimis. In anderen Krimis ist jemand ermordet worden, man erfährt ein kleines bisschen über das Opfer, und dann wird die Täterhatz zum zentralen Element der Handlung. Um solcherlei Krimikonventionen schert sich Dicker allerdings so überhaupt nicht. So erfahren wir zwar auch direkt zu Beginn der Handlung, dass im Zimmer 622 jemand zu Tode gekommen ist, wir erfahren allerdings nicht, um wen es sich dabei überhaupt handelt. In der Tat muss der Leser bis irgendwo auf Seite 415 warten, bis der Autor mit dieser wesentlichen Information herausrückt. Diese Idee hat mich durchaus mehr begeistert, als jegliche Metabenen das überhaupt könnten.

Ansonsten bewegen wir uns inhaltlich im Bereich der Schweizer Hochfinanz. Seit jeher ist die Ebezner Bank im Besitz der Bankiersfamilie Ebezner und der Vorsitz der Bank wird seit Generationen vom Vater an den Sohn weitergegeben. Hurray for patriarchy! Nun ja … Und seit jeher richtet die Ebezner-Bank ein sogenanntes „Großes Wochenende“ im Hotel „Palace de Verbier“ aus, eine Art riesiger Betriebsfeier, bei der immer auch beispielsweise betriebliche Personalentscheidungen verkündet werden. Nur diesmal ist alles anders. So hat Macaire Ebezner, Sohn des derzeitigen Bankpräsidenten, sofort nach Aufrücken seines Vaters auf den Präsidentenposten, verbunden mit Macaires eigenen Aufstieg als Vize, seine Bankanteile an den zwielichtigen Sinior Tarnogol verkauft, sich deswegen den unbegrenzten Zorn seines Vaters zugezogen, woraufhin dieser verfügt, dass das Präsidentenamt erstmals in der Geschichte der Bank nicht einfach weiterverebt, sondern anderweitig vergeben werden soll. Die Verkündung der Präsidiumsnachfolge, auf die sich Macaire Ebenzner nichtsdestotrotz weiter Hoffnung macht, soll nun im Rahmen des „Großen Wochenendes“ verkündet werden – wäre da nicht die Leiche in Zimmer 622 …

Zugegeben, man muss geneigt sein, Dicker so ein, zwei Ideen, die er zur Auflösung seiner Geschichte braucht, einfach abzukaufen, einfach davon auszugehen, dass das alles so umsetzbar ist, wie er uns das weismachen möchte. Und ja, phasenweise hatte ich so meine Probleme damit. Aber wenn man sich mal entschieden hat, sich darauf einzulassen, dann wird man mit einer ziemlich komplexen Handlung belohnt, die sich zudem dadurch auszeichnet, dass mit zunehmender Dauer immer mehr Teile der Handlung zahnradartig so ineinanderfallen, wie ich das bisher noch in wenigen Büchern erlebt habe und überdies auch noch so, dass wirklich alle Fragen, die man vielleicht noch gehabt haben könnte, beantwortet werden. Irgendwo habe ich mal in einer Rezension über Dickers letzten Roman „Das Verschwinden der Stephanie Mailer“ gelesen, dass er eine „Handlung vom Reissbrett“ habe. Und diese Einschätzung passt auch sehr gut auf seinen neuen Roman. Das mag unemotional klingen, soll es aber gar nicht, sondern es soll nur verdeutlichen, wie gut dieser Roman auf der inhaltlichen Ebene konstruiert ist.

Auf der stilistischen Ebene gibt es ebenfalls wenig Grund zur Klage. So etwa zwei, drei Stellen ließen mich scharf die Luft einziehen, unter anderem dort, wo es sinngemäß – ich finde gerade partout die Stelle nicht wieder und ärgere mich – heißt „Wir hätten nie gedacht, was uns dann erwarten würde.“, wodurch ich mich unangenehm an Clickbait-Videos und Artikel erinnert fühlte, in denen es dann beispielsweise heißt „Du wirst nie erraten, was diese Katze gleich mit diesem Hamster macht!!!einself!!“, aber abseits von diesen wenigen Schnitzern ist Dickers Buch stilistisch gut gelungen. Das gilt im übrigen auch für den Aufbau. Munter springt der Autor dabei durch mehrere Zeit- und Handlungsebenen – ich glaube, es waren vier – und schafft es dabei, die Leserschaft nicht den Überblick verlieren zu lassen. Das muss man ihm erst mal nachmachen.

Wenn man überhaupt etwas kritisieren wollte – und insbesondere Nicht-Dicker-Fans werden das tun -, dann sind das wohl die Charaktere, auch und gerade abseits des Schriftsteller-Alter-Ego. Seit seinem ersten Roman zieht sich durch Dickers Werk eigentlich die Tatsache, dass seine Charaktere immer ein wenig, manchmal auch ganz massiv, überzeichnet wirken. Nun habe ich lange Zeit zu seinem Gunsten angenommen, dass das Absicht sein und immer auch einen leicht satirischen Ansatz verfolgen soll. Und diese These ergab irgendwie auch immer Sinn, beispielsweise als Seitenhieb auf den Literaturbetrieb in seinem Debütroman „Der Wahrheit über den Fall Harry Quebert“. Nur leider lässt sich diese Begründung im vorliegenden Buch nicht wirklich aufrecht erhalten. Zwar hätte der Hochfinanz-Zirkus, um den es inhaltlich ja nun geht und in dem sich ein Gutteil der Charakere bewegt, sicherlich Anlass für einen solchen satirischen Ansatz gegeben, der ist allerdings ansonsten nicht erkennbar, weswegen man in Summe, nach der langen Rede kurzem Sinn, einfach zu dem Ergebnis kommen muss: Die Charaktere wirken mehrheitlich überzeichnet, nicht lebensecht und teilweise sogar recht merkwürdig.

Wer willens und in der Lage ist, darüber hinwegzusehen, wird allerdings mit einem spannenden, komplexen Roman belohnt, den ich ausdrücklich empfehlen kann. Und so werde ich mich auch auf Dickers nächstes Buch wieder freuen wie ein Sechsjähriger auf Weihnachten.

Ich danke dem Piper Verlag für die freundliche Übersendung des Rezensionsexemplars. Die Tatsache, dass es sich um ein kostenloses Rezensionsexemplar handelt, beeinflusst meine Meinung selbstredend nicht.

Demnächst in diesem Blog: „Das Verschwinden der Adèle Bedeau“ von Graeme Macrae Burnett.

„Abels Auferstehung“ von Thomas Ziebula – Gelungene Fortsetzung

Buch: „Abels Auferstehung“

Autor: Thomas Ziebula

Verlag: Wunderlich

Ausgabe: Hardcover, 462 Seiten

Der Autor: Thomas Ziebula ist freier Autor und schreibt vor allem Fantasy- und historische Romane. 2001 erhielt er den Deutschen Phantastik-Preis, 2020 den Goldenen Homer. Seine erste Krimi-Reihe um Inspektor Paul Stainer vereint auf beeindruckende Weise Thomas Ziebulas Leidenschaft für deutsche Zeitgeschichte, spannende Kriminalfälle und seine Liebe zu Leipzig, das bis heute seine Lieblingsstadt in Deutschland ist. Der erste Band der Reihe um Inspektor Stainer, „Der rote Judas“, stand auf der Shortlist für den Crime Cologne 2020. Der Autor lebt in der Nähe von Karlsruhe. (Quelle: Rowohlt)

Das Buch: Leipzig 1920: Nach dem Tod seiner Frau stürzt sich Inspektor Paul Steiner in die Arbeit – daran mangelt es nicht in der politisch aufgeheizten Stadt. Die Ermittlungen im Morf an einem jungen Soldaten führen Stainer in das Milieu schlagender Studentenverbindungen; der Fall scheint eindeutig. Bis in Basel ein weiterer toter Soldat aus dem Rhein geborgen wird. Haben die Morde miteinander zu tun? Ein Zigarettenetui, das der Tote bei sich trug, führt auf eine neue Fährte – die der drei Adamek-Brüder: Adrian ist im Krieg gefallen, Konrad führt ein unaufgeregt bürgerliches Leben, doch Roman benimmt sich verdächtig. Stainer folgt der Spur, ohne zu bemerken, wie sich an anderer Front ein Gewitter aufbaut … (Quelle: liebevoll abgetippter Klappentext)

Fazit: Man kann den hehren Vorsatz verfolgen, die jeweils einzelnen Bände einer Buchreihe nicht in Relation zueinander zu setzen, sondern jeweils als eigenständiges Buch zu betrachten, ohne sein Hauptaugenmerk darauf zu legen, was der Autor in diesem oder jedem Band der Reihe vielleicht besser oder schlechter gemacht hat als im vorliegenden. So ganz gelingen will mir das allerdings nie, weswegen sich auch Thomas Ziebulas „Abels Auferstehung“, die Fortsetzung seiner Reihe rund um den Inspektor Paul Steiner den Vergleich mit „Der rote Judas„, dem Auftakt der Reihe, gefallen lassen muss. Auch und gerade, weil eben jener Auftakt seinerzeit so gelungen war.

Glücklicherweise kann man konstatieren, dass es Ziebula gelingt, den Großteil der Stärken des ersten Teils zumindest in ähnlicher Form zu übernehmen. Das beginnt schon beim Setting. Im ersten Teil wurde dieses Setting unter anderem durch Erwähnung politischer und sonstiger historischer Ereignisse mit Leben gefüllt. Im zweiten Teil wurde die Einordnung in den historischen Kontext auf den ersten Blick zwar in meiner Wahrnehmung deutlich zurückgefahren, was ich eigentlich ziemlich schade fand, bei genauerer Betrachtung findet sie aber eben doch statt, nur eben in Form von Ereignissen, die eher regionale Bedeutung, insbesondere für die Stadt Leipzig haben. Und so erwähnt Ziebula dann eben weniger die große Weltpolitik, sondern beispielsweise mehr die Rolle und Situation der Straßenbahnfahrerinnen in Leipzig, die in Kriegszeiten diese Aufgabe von den Männern übernommen haben, nun aber eben wieder von diesen aus ihrem Beruf gedrängt werden sollen. Im Zuge der Gesamthandlung ergibt diese regionalere Sichtweise durchaus Sinn und der Roman fühlt sich dadurch nicht weniger lebendig an als sein Vorgänger.

Auch das Figurenensemble wurde logischerweise in den zweiten Band übernommen und war schon im Auftakt eine große Stärke des Autors. Insbesondere gilt das nach wie vor für den Protagonisten. Jener Paul Steiner wurde bezüglich des ersten Bandes von mir mit dem Kriegheimkehrer Beckmann aus Borcherts „Draußen vor der Tür“ verglichen und diesen Eindruck habe ich immer noch. Nicht nur die Figur an sich, sondern auch ihre Entwicklung gefiel mir gut. Trug Stainer im ersten Teil noch eine überhebliche „Ich kann jederzeit aufhören, wenn ich will!“-Einstellung hinsichtlich seiner Alkoholsucht vor sich her, scheint er nun bereit zu sein, sich einzugestehen, dass hier ein Problem vorliegen könnte. Ebenso verhält es sich mit den ihn darüber hinaus plagenden Schwierigkeiten, die man heute wohl als „Flashbacks“ und „posttraumatische Belastungsstörung“ bezeichnen würde. Für mich persönlich würde sich das Weiterlesen der Reihe allein deshalb lohnen, weil ich wissen möchte, wie die weitere Entwicklung Stainers so voranschreitet.

Das einzige Manko – allerdings leiden wir hier auf vergleichsweise hohem Niveau – des zweiten Teils bietet ausgerechnet die Geschichte selbst. Diese setzt nahezu unmittelbar nach den Ereignissen des ersten Teils ein – den man übrigens für die Lektüre nicht unbedingt gelesen haben muss, weil Ziebula gekonnt wesentliche Stichpunkte rekapituliert; sinnvoll wäre die vorherige Lektüre allerdings dennoch – und man trifft auch wieder auf altbekannte Figuren.

Die Story wirkt etwas geerdeter als im ersten Teil, und vielleicht war es eben das, was sie für mich schlicht weniger spannend machte. Natürlich kann man sich nicht immer mit den Großen in Politik und Militär anlegen und es darf auch gerne mal eine bodenständigere Handlung sein, aber irgendwie hat mich eben diese Handlung im zweiten Teil nicht vollständig überzeugt. Nun sollte man eine solche Einschätzung anschaulich begründen können, fatalerweise kann ich das aber nicht. Im Gegensatz zum ersten Teil – und obwohl dort sogar verhältnismäßig früh klar war, mit wem sich Stainer da angelegt hat und im Groben auch, welchen Fortgang die Ereignisse gehen dürften – hat mich die Handlung des zweiten Teils irgendwie nicht so wirklich erreicht. Ich schiebe das aber einfach mal auf meine schon während der Lektüre im Entstehen begriffene Leseflaute, die mit mangelnder Begeisterung für eigentlich alles einherging bzw. -geht. Mein Eindruck zur Handlung ist daher als ein vollständiger subjektiver zu sehen und es ist durchaus wahrscheinlich, dass andere Leser einen vollständig anderen Eindruck zu Story haben.

Insgesamt hat mich Thomas Ziebula allerdings eindeutig gut genug unterhalten, um der Reihe die Treue zu halten. Und wer Krimis mit historischen Flair mag, der liegt mit „Abels Auferstehung“ nicht verkehrt.

Ich danke dem Wunderlich Verlag für die Übersendung des Rezensionsexemplars. Die Tatsache, dass es sich um ein Rezensionsexemplar handelt, beeinflusst meine Meinung selbstredend nicht.

Demnächst in diesem Blog: „Das Geheimnis von Zimmer 622“ von Joël Dicker. Ein neuer Joël-Dicker-Roman, yaaaaay! ;-)