„Tod oder Taufe – Die Kreuzfahrer am Rhein“ von Jakob Matthiessen

Buch: „Tod oder Taufe“

Autor:: Jakob Matthiessen

Verlag: Gmeiner

Ausgabe: Paperback, 636 Seiten

Der Autor: Jakob Matthiessen lebt seit fast 20 Jahren in Skandinavien. In seiner Jugend verschlang er die Romane von Hermann Hesse, Uwe Timm und J. R. R. Tolkien. Vor einigen Jahren entdeckte er die Liebe zum Schreiben als wohltuenden Ausgleich zu seiner wissenschaftlichen Arbeit. Als Schriftsteller interessieren ihn gründlich recherchierte Darstellungen historischer Ereignisse mit Bezug zu Gegenwartsfragen. „Tod oder Taufe – Die Kreuzfahrer am Rhein“ ist sein erster Roman. (Quelle: Gmeiner) (Autorenhomepage)

Das Buch: Mainz, im Jahre 1096. Ein mächtiges Kreuzfahrerheer steht vor den Toren der Stadt und fordert Einlass. Aufgehetzt von dem fanatischen Priester Rotkutte, wollen die Krieger die jüdische Gemeinde auslöschen. Wer nicht seinen Glauben verrät – ein undenkbares Sakrileg für jeden Juden – soll sterben. Rabbi Chaim und Domdekan Raimund, in ihrem Glauben einander freundschaftlich zugetan, suchen in der belagerten Stadt nach einem Weg, Blutvergießen zu verhindern. In Rotkutte steht ihnen jedoch ein Meister der Intrige gegenüber … (Quelle: Gmeiner)

Fazit: Vor einigen Tagen stand Professor Sucharit Bhakdi, eine der derzeit wohl populärsten Ikonen der Schwurblerszene, wegen des Verdachts der Volksverhetzung in zwei Fällen vor Gericht. Bhakdi sprach auf einer Wahlkampfveranstaltung der Partei „Die Basis“ im Zusammenhang mit der Zulassung von Covid-19-Impfstoffen von einem „zweiten Holocaust“ und einem „Endziel“ und sagte zudem über „das Volk der Juden“ sinngemäß, dass es von den Nazis gelernt habe, um mit diesen Äußerungen seinen Unmut über das Pandemie-Management Israels zu verdeutlichen.

In einem für mich als juristischen Laien unverständlichen Anfall von „Das wird man doch noch sagen dürfen!“ hat das zuständige Gericht Herrn Bhakdi von den Vorwürfen freigesprochen, unter anderem mit der sinngemäßen Begründung, dass für das Sagbare auf Wahlkampfveranstaltungen andere Maßstäbe anzulegen seien – was unter anderem diverse Wahlkampfauftritte der AfD, der Freien Sachsen oder ausländischer Staatspräsidenten erklärt, aber das ist ein anderes Thema. Zudem warf das Gericht die Frage auf, ob derlei Äußerungen vor gerade mal 200 Zuschauern tatsächlich geeignet seien, das Volk aufzuhetzen. Wir lernen demnach: Volksverhetzende Aussagen im kleinen Kreis sind augenscheinlich schon irgendwie okay.

Umso unverständlicher ist das Urteil aus meiner Sicht, wenn man berücksichtigt, welch unrühmliche Geschichte unser Land in diesem Zusammenhang hatte und hat, insbesondere unter Einbeziehung dessen diverser Rechtsvorgänger.

Den Anfang – wenn man denn ein Ereignis suchen möchte, das für Historiker als Anfang passend erscheint – dieser unrühmlichen Geschichte bildeten die Geschehnisse, die Jakob Matthiessen in seinem historischen Roman „Tod oder Taufe – Die Kreuzfahrer am Rhein“ beschreibt:

Im Jahr 1095 ist Byzanz, meinetwegen auch das Oströmische Reich, von den Seldschuken bedroht. Der byzantinische Kaisers Alexios I. schickt Gesandte, um militärische Hilfe aus dem Westen zu erlangen. Unter Einfluss dieser Gemengelage ruft Papst Urban II. Ende 1095 schließlich zum Kreuzzug ins Heilige Land auf.  Anders als gedacht, kommen diesem Aufruf aber nicht nur militärisch geschulte Adelige mit ihrem entsprechenden Gefolge nach, sondern es schließen sich auch zu Tausenden einfaches Stadt- und Landvolk – Männer, Frauen, Kinder – den Kreuzfahrern an, beispielsweise dem Grafen Emicho, dessen 10.000 Menschen umfassendes Heer sich durch das Rheinland bewegt.

Anstatt sich aber nun auf direktem Wege ins Heilige Land zu begeben, setzt sich in Emichos Heer die Ansicht durch, dass es doch erst mal „sinnvoll“ wäre, die Juden in der Heimat zu bekämpfen, bevor man sich auf den weiten Weg macht. Am 8. Mai 1096 kam es daher in Speyer zum ersten Pogrom der Kreuzfahrer an der jüdischen Bevölkerung von Speyer, dem 11 Menschen zum Opfer fielen. Größere Opferzahlen wurden nur durch das beherzte Eingreifen des Bischofs von Speyer verhindert, der die jüdische Bevölkerung in seiner Burg unterbrachte.

Am 18. Mai folgte das Pogrom in Worms. Auch hier versuchte der Bischof, der jüdischen Bevölkerung zu helfen, letztlich griff der Mob aber sogar die Bischofsresidenz an und tötete – je nach Quelle – 400 bis 800 Menschen.

Wenige Tage später steht das Kreuzfahrerheer vor Mainz …

Etwa zu diesem Zeitpunkt setzt die Handlung des Romans ein. Wir lernen zu Beginn die Hauptfiguren des Romans kennen, die im Wesentlichen aus dem Domdekan Raimund, dem Rabbi Chaim und dem jungen Bauernsohn Peter, der Teil des Kreuzfahrerheeres geworden ist, bestehen. Im Wesentlichen wechselt die Erzählperspektive im Roman dann auch zwischen diesen drei Figuren.

Irritierend am Einstieg war aus meiner Sicht zunächst mal der Prolog, der im Grunde genommen wesentliche Elemente der folgenden Ereignisse vorwegnimmt, und Lesern, die die geschichtlichen Fakten nicht kennen, keinerlei Illusionen darüber lässt, wie die ganze Sache denn nun ausgeht. Letztlich muss man bis ungefähr Seite 470 lesen, um zu erkennen, dass sich der genannte Prolog auch in einem anderen Kontext lesen lässt, wodurch sich für die Geschichte tatsächlich eine entsprechende Wendung ergibt, mit der nicht zu rechnen war. „Tod oder Taufe“ ist tatsächlich eines dieser Bücher, das die Leserschaft fürs „Durchhalten“ belohnt.

Nun klingt das negativer, als es gemeint ist. Denn auch vor Seite 470 ist das Buch durchaus lesenswert und unterhaltsam. Allerdings auch sehr konventionell geschrieben. Im Rahmen des Historischen Romans finde ich konventionell geschrieben Romane allerdings gut. In den meisten Historischen Romanen, die sich dem o.g. Setting zuwenden, würde heutzutage nämlich irgendwann so eine Art Jeanne-d’Arc-Lookalike erscheinen, fernab jeglicher historischer Korrektheit das Heer der Kreuzfahrer vor Mainz zurückschlagen, und anschließend mit dem Domdekan oder dem Rabbi in den Sommeruntergang reiten. Bei E. L. James vermutlich mit beiden.

Stattdessen versucht Jakob Matthiessen, sich weitgehend an die historischen Fakten zu halten, auch an das kolportierte Gesellschaftsbild damaliger Zeiten. So spielen Frauen – zumindest in verantwortungsbewussten Positionen – in Matthiessens Roman keine große Rolle. Und die, die auftauchen, weisen schon mal darauf hin, dass die Herren der Schöpfung doch bitte die Küche verlassen sollten, um eine „einfache Frau“ dort ihre Arbeit machen zu lassen, erwähnen mit Nachdruck, dass sie von diesem ganzen Religionskram ja nicht viel verstehen, da sie ja nur eine Frau sind, oder tätscheln ihren in einer Sinnkrise steckenden Männern schon mal mit einem gesäuselten „Mein Held!“ den Kopf.

Man sieht: Bei Jakob Matthiessen ist die Welt noch in Ordnung.

Now that I have your attention: Nur Spaß.

Dennoch ist mit die gewählte Darstellungsform – wenigstens innerhalb des Genres des Historischen Romans – lieber als irgendwelche historisch unkorrekten Jeanne-d’Arc-Lookalikes.

Nun ist auch Matthiessen vor Anachronismen in seinem Roman nicht gefeit. Dass es seinerzeit, so wie im Roman, beispielsweise wirklich eine intensive Freundschaft zwischen einem Domdekan und einem Rabbi gegeben haben kann, ohne einen von beiden, wahrscheinlich aber beide, in schwere Erklärungsnöte zu bringen, scheint ebenso unwahrscheinlich, wie die Tatsache, dass diese beiden dann auch noch in ihrer Freizeit gemeinsam Psalmen ins Deutsche übersetzen. Dessen ist sich der Autor nach eigener Aussage aber bewusst.

Und nun ist die Ausgangslage eben so, wie sie ist. Was zudem die Möglichkeit eröffnet, seine beiden Protagonisten in regelmäßige Dispute religiösen Inhalts ausbrechen zu lassen, unter anderem darüber, dass Judentum und Christentum selbstverständlich sich deutlich voneinander unterscheidende Vorstellungen von der historischen und religiösen Figur Jesu haben. Zwar geht das Buch diesbezüglich nicht so in die Tiefe wie beispielsweise „Der Name der Rose“, aber man muss es ja nun auch nicht übertreiben. „Tod oder Taufe“ bietet in dieser Hinsicht auch für religiös weniger gebildete Menschen wie mich genug Ansätze, über die sich nachzudenken lohnt.

Vor dem Hintergrund der zwar gut gestalteten Figuren, ohne dass diese mir aber vermutlich längerfristig im Gedächtnis bleiben werden, der, wie erwähnt, recht konventionellen – aber guten! – Erzählweise und einer weitgehend von den historischen Tatsachen vorgegebenen Handlung, ist es eben diese Komponente des religiösen Disputs, die „Tod oder Taufe“ letztendlich so lesenswert macht.

Wer also mal wieder einen Historischen Roman lesen möchte, der gut recherchiert ist und nicht in Iny-Lorentz-Sphären abdriftet, ist mit diesem grundsolidem Roman gut bedient.

Demnächst in diesem Blog: „Going Zero“ von Anthony McCarten

Skoutz-Award: Midlist

Hallo, liebe Leserinnen und Leser,

der Stapel der Bücher, über die es noch zu schreiben gälte, sieht mich – in meiner Vorstellung – vorwurfsvoll an, weswegen es nur folgerichtig ist, dass ich ihn ignoriere und mich stattdessen mit angenehmeren Dingen beschäftige. In aller angemessen Bescheidenheit sei es mir nämlich vergönnt, kurz auf den Umstand hinzuweisen, dass folgendes Logo

Skoutz-Award 2023 Badge Midlist

in entsprechend angepasster Größe demnächst die Startseite meines Blogs zieren wird, sobald ich einen angemessenen Platz dafür bekommen habe.

Ursächlich dafür ist, dass mir die große Freude und nicht minder große Ehre zuteil geworden ist, beim diesjährigen Skoutz-Award auf der Midlist im Bereich „Buchblogs“ gelandet zu sein. Das ist erstens insofern erwähnenswert, als dass ich mich nicht entsinnen könnte, überhaupt schon mal auf irgendwelchen Listen vertreten gewesen zu sein und zweitens zudem deswegen, weil mein Auftauchen auf der Midlist impliziert, die Longlist schon überstanden zu haben, was im Übrigen auch tatsächlich der Fall ist.

Im September findet dann die Wahl zur Shortlist statt. Dabei kommen dann auch Community-Stimmen zum Tragen, weswegen ich mich mit ziemlicher Sicherheit dann nochmal an dieser Stelle dazu äußern werde. ;-)

Bis dahin freue ich mich erst mal – und wende mich dann zeitnah vielleicht doch mal dem eingangs erwähnten Stapel zu. Wenn du nämlich lange genug auf diesen Stapel blickst, blickt der Stapel auch in dich hinein – oder so.

Gehabt euch wohl.

abc.Etüden KW 19-22/23

abc.etüden 2023 19+20+21+22 | 365tageasatzaday

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

nachdem ich in letzter Zeit den Etüden, und eigentlich allem, vorübergehend fern geblieben bin, wird es nun langsam mal wieder Zeit, etwas aufs virtuelle Papier zu bringen. Für die aktuellen Etüden fungiert die zauberhafte Christiane nicht nur als Organisatorin, sondern auch als Wortspenderin, was die ganze Sache etwas einfacher macht.

Das leere Blatt Papier

Der Dichter einstmals großer Worte,
sitzt nun hier an diesem Orte,
juckt sich dort und kratzt sich hier,
vor diesem leeren Blatt Papier.

Gestern war er noch leutselig;
fröhlich, eloquent, vergnüglich,
heute sitzt er anders hier,
vor diesem leeren Blatt Papier.

Weiß nun nicht, was sollt‘ er schreiben,
keine Muse mag ihn treiben,
auf dass ein Text entstünde hier,
auf diesem leeren Blatt Papier.

Zaghaft schreibt er dies und das,
ohne Ziel und ohne Spaß,
ein verstimmtes Textklavier,
auf dem sonst leeren Blatt Papier.

An jeder Stellschraub‘ er gedreht;
und doch der Text nicht weitergeht,
kein Bonmot seiner Manier
auf diesem leeren Blatt Papier.

Vielleicht mit Alkohol? Ihm friert,
sechs Schnäpse hat er integriert,
auf dass der Brannt ihn nun traktier‘
vor diesem leeren Blatt Papier.

Ach, manchmal soll es halt nicht sein,
denkt er dann und schenkt sich ein,
nun ist er voll, und das schon sehr;
nur das Papier bleibt weiter leer.

157 Wörter.

„Die Bäume“ von Percival Everett

Buch: „Die Bäume“

Autor: Percival Everett

Verlag: Hanser

Ausgabe: Hardcover, 368 Seiten

Der Autor: Percival Everett, geboren 1956 in Fort Gordon/Georgia, ist Schriftsteller und Professor für Englisch an der University of Southern California. Er hat bereits mehr als dreißig Romane veröffentlicht. Für sein Werk wurde er mit zahlreichen Preisen geehrt, u. a. mit dem PEN Center USA Award for Fiction, dem Academy Award for Literature der American Academy of Arts and Letters und dem PEN/Jean Stein Book Award. Auf Deutsch erschienen bislang „Ausradiert“ (2008), „God‘s Country“ (2014) und „Ich bin Nicht Sidney Poitier“ (2014). Bei Hanser erschienen zuletzt die Romane „Erschütterung“ (2022) und „Die Bäume“ (2023). (Quelle: Hanser)

Das Buch: USA, Anfang des 21. Jahrhunderts: Im Städtchen Money in den Südstaaten werden mehrere Männer ermordet: meist dick, doof und weiß. Neben jeder Leiche taucht ein Körper auf, der die Züge von Emmett Till trägt, eines 1955 gelynchten schwarzen Jungen. Zwei afroamerikanische Detektive ermitteln, doch der Sheriff sowie eine Gruppe hartnäckiger Rednecks setzen ihnen erbitterten Widerstand entgegen. Als sich die Morde auf ganz Amerika ausweiten, suchen die Detektive des Rätsels Lösung in den Archiven von Mama Z, die seit Jahrzehnten Buch führt über die Opfer der Lynchjustiz in Money. (Quelle: Hanser)

Fazit: In Percival Everetts neuem Roman „Die Bäume“ verschlägt es die Leserschaft ins kleine Örtchen Money in Mississippi. In den einleitenden Sätzen des Buches heißt es über den Ort:

„Money, Mississippi, sieht genau so aus, wie es sich anhört. Hervorgegangen aus jener hartnäckigen Südstaatentradition von
Ironie im Verein mit der dazugehörigen Tradition von Unwissenheit, bekommt der Name etwas leicht Trauriges, wird zum
Kennzeichen befangener Ignoranz, die man sich ebenso gut zu eigen machen kann, denn, mal ganz ehrlich, sie wird nicht weggehen. (S.11)

Und ich muss zugegeben, dass mich ein Autor mit einem Buchbeginn selten so schnell am Haken hatte, wie Everett mit den genannten Eingangssätzen. Von diesem Haken hat er mich dann bis zum Ende nicht mehr gelassen, sodass ich „Die Bäume“ in einem Rutsch an einem der derzeit noch spärlich verteilten Sonnentage des Jahres durchgelesen habe.

Und Sonne zur Lektüre kann vielleicht nicht schaden, denn das eigentliche Thema des Buches ist ein ziemlich ernstes: In Money werden auf ziemlich blutig-brutale Weise Menschen umgebracht. Am Tatort findet man aber nicht nur das jeweilige Mordopfer, sondern auch einen toten Afroamerikaner, der die Züge von Emmett Hill trägt.

Emmett Hill, damals 14 Jahre alt, wurde im Jahr 1955 in Money, Mississippi, Opfer eines Lynchmords. Ursprünglich nur in der Stadt, um seinen Onkel zu besuchen, betrat der Junge das Lebensmittelgeschäft von Roy und Carolyn Bryant. Besagte Carolyn Bryant brachte kurz darauf gegen Till die Anschuldigung vor, er habe sie an die Taille gefasst und sich ihr gegenüber unsittlich geäußert.

Wenige Tage später stand Roy Bryant, zusammen mit seinem Halbbruder, vor der Tür von Emmett Tills Onkel und forderte die Herausgabe von Emmett. Als diese Forderung verweigerte wurde, schlugen beide Emmetts Onkel und dessen Frau nieder und verschleppten Emmett. Wiederum einige Tage später wurde der Leichnam des Jungen im Tallahatchie River treibend gefunden, in den man ihn mit einem mit Stacheldraht um den Hals gewickelten Gewicht und einer Schusswunde im Kopf, aber offensichtlich noch lebend, wie die Gerichtsmedizin später herausfand, geworfen hatte.

Roy Bryant und sein Halbbruder John William Milam wurden vor Gericht gestellt, wo die ausschließlich aus Weißen zusammengestellte Jury ganze 67 Minuten Beratungszeit brauchte, um die beiden Angeklagten in allen Anklagepunkten für nicht schuldig zu erklären. Wenige Monate später weigerte sich Rosa Parks, ihren Sitzplatz im Bus für einen weißen Fahrgast zu räumen. Beide Fälle gelten als ausschlaggebend für den Beginn der schwarzen Bürgerrechtsbewegung.

Im Money des 21. Jahrhunderts gehen die Morde indes weiter. Dabei verschwindet der am ersten Tatort gefundene tote Afroamerikaner auf wundersame Weise und taucht dafür, nicht minder wundersam, am nächsten Tatort wieder auf. Und später erneut. Nicht nur die vor Ort ermittelnden Polizisten können sich keinen Reim darauf machen, weswegen letztlich das FBI auf den Plan gerufen wird. Dieses schickt zwei Detektive – nur handelt es sich dabei um Afroamerikaner, was für die rassistischen Rednecks in Money – und auch für die, die überhaupt nicht für sich in Anspruch nehmen würden, Rassist zu sein – irgendwo zwischen massiver Herausforderung und Affront liegt.

Der Weg der Bundesbeamten führt sie irgendwann zu Mama Z, die nicht nur alles über jeden im Ort zu wissen scheint, sondern auch ein Archiv über alle Lynchmorde in der Geschichte der USA führt. Und das sind verdammt viele …

Percival Everett hätte es nach eigener Aussage als leicht empfunden, „einen düsteren, dichten Roman über Lynchmorde zu schreiben – den will aber niemand lesen.“ Daher findet er einen anderen Ansatz, nämlich den des Humors. Und der kommt bemerkenswert oft zum Tragen, sei es in der Schilderung der zumeist als eher schlichte Gemüter dargestellten Rednecks in der Stadt – was Absicht im Sinne eines Spiegel Vorhaltens sein dürfte -, sei es in den Dialogen, insbesondere denen zwischen den beiden FBI-Beamten, die zuweilen den lässigen Coolness-Faktor eines 80er-Jahre-Cop-Movies haben, sei es aber auch der zuweilen überzogen wirkende Gewaltgrad an den Tatorten, der – zumindest für mich – eher befremdlich-erheiternd als abstoßend wirkt und irgendwo zwischen Quentin Tarantino und „Kick-Ass“ liegt.

Auf der anderen Seite hat der Roman – natürlich – auch seine stillen, ernsten Momente, beispielsweise wenn in einem Lokal jemand ein Lied der Bürgerrechtsbewegung singt, oder aber seitenweise Namen – und nichts anderes – von Lynchmord-Opfern aufgelistet sind. Menschen auf diese Weise ihren Namen zurückzugeben, aus Statistiken, die beispielsweise aussagten, dass zwischen 1877 und 1950 – also teils noch weit vor Emmett Till – über 4.400 Menschen Opfer von Lynchjustiz geworden sind – wieder greifbare Personen zu machen, erzeugte bei mir eine Gänsehaut, ebenso wie es das beim Schreiben gerade wieder tut.

Und Everett gelingt es, zwischen diesen beiden Polen die Waage zu halten, den Roman nicht in eine Richtung kippen und daraus entweder einen Klamauk werden zu lassen, der der Sache nicht angemessen wäre oder aber eben doch den „düsteren, dichten Roman über Lynchmorde“, den er ja eigentlich vermeiden wollte.

Geblieben ist insgesamt eine erfrischend unkorrekte Leseerfahrung, eine Mischung aus Hardboiled-Krimi, Thriller, Gesellschaftskritik, Komödie und magischem Realismus, die ich aufs Wärmste empfehlen kann und deren Thematik ihre Kreise praktisch noch bis in die Jetzt-Zeit zieht.

Denn auch wenn Roy Bryant und John William Milam, die Mörder von Emmett Till, seinerzeit schon kurz nach dem Gerichtsprozess- ganze vier Monate später – gegenüber einer Zeitung gegen entsprechendes Honorar zugaben, den Jungen getötet zu haben, detaillierte Schilderungen und Täterwissen zum Besten gaben und daraufhin weitgehend gemieden wurden und letztlich verarmt und einsam starben, traten im Jahr 2005 anlässlich einer Dokumentation zum Fall Emmett Till Hinweise zu Tage, die auf bis zu acht weiteren Tatbeteiligte schließen lassen.

Unter anderem geriet auch Carolyn Bryant ins Visier, deren Anschuldigungen den Lynchmord an Emmett Till erst ausgelöst hatten. 2017 schließlich wurden Auszüge aus einem Interview veröffentlicht, das Carolyn Brant bereits 2007 gegeben hat, und in dem sie zugibt, sich den Vorwurf, der Junge habe sie an die Taille gefasst und sich ihr gegenüber unsittlich geäußert, vollständig ausgedacht zu haben. Zwischen 2004 und 2007 wurde gegen sie ermittelt. Ohne Ergebnisse. Im Jahr 2018 – noch unter Trump, man glaubt es kaum – erklärte das Justizministerium, den Fall neu aufrollen zu wollen. Die Ermittlungen endeten im Dezember 2021 mit der Erkenntnis, dass man nicht beweisen könne, dass Carolyn Bryant damals gelogen habe. Folgerichtig – oder auch folgefalsch, ganz wie man möchte – lehnte im August 2022 eine Grand Jury eine erneute Anklage von Bryant aus Mangel an Beweisen ab.

Dass man ihr seitens der ermittelnden Behörden auch damals schon nicht vollständig geglaubt hat, dass sie die arme Unschuldige in dieser Angelegenheit ist, lässt sich vielleicht daran erkennen, dass im Juli 2022 ein Haftbefehl aus dem Jahr 1955 gegen sie aufgefunden wurde, der damals aber ganz offensichtlich, aus welchen Gründen auch immer, nicht vollstreckt wurde.

Carolyn Bryant verstarb unlängst am 25. April 2023 im Alter von 88 Jahren in Westlake, Louisiana.

Am 29. März 2022 erließ US-Präsident Biden ein „Emmett Till Antilynching Act“ genanntes Gesetz, nach dem Lynchmorde nun endlich als Hassverbrechen angesehen und mit bis zu 30 Jahren Haft bestraft werden kann. 67 Jahre nach dem Mord am Emmett Till. Seitdem waren zuvor über 200 Versuche, lynchen per Bundesgesetz zu verbieten, gescheitert.

Emmett Till wäre im Juli dieses Jahres 82 Jahre alt geworden. Er ich und ich haben am selben Tag des Jahres Geburtstag.

Demnächst in diesem Blog: Vermutlich „Montecrypto“ vom Tom Hillenbrand.