„Dorfroman“ von Christoph Peters

Buch: „Dorfroman“

Autor: Christoph Peters

Verlag: Luchterhand

Ausgabe: Hardcover

Der Autor: Christoph Peters wurde 1966 in Kalkar geboren. Er ist Autor zahlreicher Romane und Erzählungsbände und wurde für seine Bücher mehrfach ausgezeichnet, unlängst z. B. mit dem Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg (2016) und dem Wolfgang-Koeppen-Preis (2018). Christoph Peters lebt heute in Berlin. Zuletzt erschienen von ihm bei Luchterhand der Erzählungsband „Selfie mit Sheikh“ (2017) sowie der Roman „Das Jahr der Katze“ (2018). (Quelle: Random House)

Das Buch: Die große weite Welt gibt es nur im Fernsehapparat – zumindest in Hülkendonck, einem kleinen Dorf am Niederrhein in den 70er Jahren. Bäuerlich und zutiefst katholisch ist das Milieu, in dem der Erzähler seine Kindheit und Jugend verbringt. Doch diese Welt wird brüchig mit dem geplanten Bau eines neuartigen Atomkraftwerks, das die Menschen im Ort genauso tief spaltet wie im ganzen Land. Als die Atomkraftgegener schließlich im Dorf ihr Lager beziehen, prallen die Gegensätze aufeinander. (Quelle: Klappentext)

Fazit: Der Autor verlegt die Handlung seines Romans in die 70er Jahre des genauso beschaulichen wie fiktiven Dörfchens Hülkendonck am Niederrhein. Ich gestehe, bei dem Namen Hülkendonck immer ein bisschen an Fräulein Müller-Wachtendonk gedacht zu haben, die uns allen im Zusammenspiel mit Siggi Sorglos ab Anfang der 90er in vom Bundesumweltministerium in Auftrag gegebenen Zeichentrickfilmchen Dinge wie die Mülltrennung erklärte. Und tatsächlich liegt der echte Ort Wachtendonk nur ein paar Dutzend Kilometer von den Schauplätzen des Buches entfernt, aber ich schweife ab.

Hülkendonck gehört zur Stadt Kleve, liegt aber unweit des Ortes Kalkar, wo ein Atomkraftwerk des Typs „Schneller Brüter“ gebaut werden soll. Die Älteren werden sich erinnern: Nach einer schon Ende der 60er beginnenden Planungsphase wurde mit dem Bau begonnen. Letztlich verschlang das Projekt ein Vielfaches der ursprünglich in Aussicht gestellten Kosten, ans Netz ging der Schnelle Brüter nach einem Regierungswechsel in NRW, dem Erstarken der Anti-Atomkraft-Bewegung und schließlich auch aufgrund von Störfällen wie in Harrisburg und insbesondere natürlich nach der Tschernobyl-Katatrophe, jedoch nie. Im Jahr 1991 wurde das endgültige Ende für das Projekt beschlossen. Heute ist aus dem geplanten AKW von einst ein Freizeitzentrum mit Kletterwand am Kühlturm entstanden …

In diesem zeitlichen und geografischen Umfeld lässt der Autor seinen Protagonisten in den 70ern aufwachsen, und macht daraus einen Roman, der in so vielen Bereichen gut gelungen ist, dass ich ausnahmsweise kaum weiß, wo ich anfangen soll.

Nun, vielleicht am Anfang. Denn zu Beginn schildert der Autor erst mal die Gegebenheiten im idyllischen Hülkendonck der 70er. Peters entwirft das Bild eines landwirtschaftlich geprägten Dorfes, in dem die Bauern das Sagen haben, beschreibt Hierarchien und Gemeinschaften, in denen es Hilfsarbeiter und insbesondere Zugezogene schwer haben, dazu zu gehören. Ein Dorf, dessen Bewohner zumeist tiefreligiös und erzkonservativ sind und denen eine intensive Obrigkeitshörigkeit inne zu sein scheint, unterwirft man sich doch gerne dem Urteil von Kirchenvorstand, Bischof oder Papst, Lokal-, Kommunal- oder Bundespolitiker, denn die werden ja schon wissen, was sie tun und außerdem ist gewählt eben gewählt, da kann man dann ja auch sowieso nichts mehr ändern. So oder ähnlich scheint die vorherrschende Denkweise der Bewohner Hülkendoncks zu sein.

In diesem Umfeld sozialisiert, wundert es nicht, dass der junge Protagonist des Buches zunächst ähnlich tickt. Das Urteil der eigenen Eltern scheint ein unfehlbares zu sein, zudem führt der Junge regelmäßig religiöse Begründungen dafür an, warum er etwas gut oder nicht so gut findet. Erst mit den aufkommenden Plänen für das AKW, für das große Teile der zum kirchlichen Grundbesitz gehörende Flächen verkauft werden müssten, tauchen die Probleme auf, denn erstmals ist man im Dorfe uneins. Da sind auf der einen Seite beispielsweise die Bauern, die bislang davon profitierten, dass sie die der Kirchengemeinde gehörenden Flächen zu einem wesentlich geringeren Preis pachten konnten als das bei einem anderen Eigentümer des Grund und Bodens möglich wäre, und die daher aus rein wirtschaftlichen Gründen dagegen sind. Und auf der anderen Seite sind die, so wie der als Kirchenvorstand tätige Vater der Hauptfigur, die für den Verkauf der Flächen sind, weil Fortschritt eben sein muss, die entsprechenden Fachleute sicherlich schon wissen, was sie da tun und letztlich alles besser ist, als die Flächen im Endeffekt einfach enteignet zu bekommen. Und dann ist da noch der Gastwirt, der sich zu keiner Seite richtig bekennt, weil er Sorge davor hat, dass die Vertreter der jeweiligen Gegenseite dann nicht mehr seinen Gasthof betreten würden …

Und spätestens nachdem eine Gruppe Atomkraftgegner ist Dorf zieht, ändert sich nicht nur die Stimmung im Dorf, sondern eben diese Änderung setzt auch beim Protagonisten ein. Er wird durch Kontakt mit den Gegnern politisiert, verliebt sich in eine der Protestlerinnen und beginnt, die Denkweisen der Eltern zu hinterfragen, in Zweifel zu ziehen und auf Konfrontationskurs zu gehen.

Vor diesem Hintergrund ist „Dorfroman“ erst einmal eine Coming-of-Age-Geschichte. Aber das Buch ist eben nicht nur im Bezug auf seine Hauptfigur ein Entwicklungsroman, sondern auch hinsichtlich der Entwicklung des ländlichen Raums in den letzten Jahrzehnten. Das literarische Bild, dass Peters diesbezüglich malt, deckt sich übrigens sehr mit meinen eigenen Erfahrungen, in denen in einem ähnlichen Zeitraum aus meinem beschaulichen heimatlichen Dörfchen mit nahezu 1.100 Einwohnern mit eigener Post- und Sparkassenfiliale, zwei Gaststätten, einer co op-Filiale und täglichem Zug von Rinderherden auf und von den Weiden quer durchs Dorf, ein Dorf geworden ist, in dem es all das nicht mehr gibt, dafür aber seit Anfang der 90er ein schon vor Jahren durch einen amerikanischen Konzern mit Milliardenumsatz aufgekauftes Großunternehmen mit 400 Mitarbeiten und einen Schweinemastbetrieb mit 3.000 Mastplätzen, und dessen Einwohnerzahl mittlerweile bei etwa 900 stagniert. Lediglich die im Buch geschilderte nahezu fundamentale Religiösität habe ich hier nicht so wahrnehmen können, aber vielleicht ist der südniedersächsiche Raum damals schon säkularisierter gewesen, als der des westlichen NRW, wer weiß …!?

Wenn man den Blickwinkel weiter fasst, ist „Dorfroman“ in einem weiteren Punkt ein Entwicklungsroman, nämlich hinsichtlich der Entwicklungen in der damaligen Bundesrepublik und ihrer Bevölkerung, eben weg von einer obbrigkeitshörigen Generation, hin zu einer jungen, kritischen Generation, die Fragen an ihre Eltern- und Großelterngeneration hat. Und zwar berechtigte Fragen. Fragen, die leider teilweise bis heute unbeantwortet geblieben sind.

Christoph Peters Erzählweise passt sich dabei dem geschilderten Umfeld an. Er hat eine über weite Strecken des Romans gemütliche Art zu erzählen, was ich im Übrigen ausnehmend positiv verstanden wissen möchte. Besonders erwähnenswert finde ich in stilistischer Hinsicht, wie gut es dem Autor gelingt, den beiden Versionen seines Protagonisten zwei völlig unterschiedliche und dem jeweiligen Alter angemessene Erzählstimmen zu geben. Gerade für die junge Ausgabe der Hauptfigur gilt, dass diese vollkommen überzeugend wirkt, sowohl in sprachlicher als auch intellektueller Hinsicht, der Junge wirkt an keiner Stelle des Buches klüger als er sein sollte.

Nun ließe sich die Liste der positiven Aspekte noch beliebig verlängern, aber ein bisschen Eigenleistung kann von der potenziellen Leserschaft ja auch erwartet werden, deswegen belasse ich es bei der abließenden Feststellung, dass „Dorfroman“ ein 412 Seiten umfassendes, reines Lesevergnügen darstellte, und wenn Denis Scheck über den Roman urteilt: „Ein wunderbar humorvoll geschriebener Roman…für mich einer der lesenswertesten Romane in diesem Herbst.“ dann hat er damit vollumfänglich recht.

Ich danke dem Luchterhand Verlag sowie dem Bloggerportal für die freundliche Übersendung des Rezensionsexemplars. Die Tatsache, dass es sich um ein Rezensionsexemplar handelt, beeinflusst meine Meinung selbstredend nicht.

Demnächst in diesem Blog: „Mein abenteuerliches Leben als Hochstapler“ von Georges Manolescu/Fürst Lahovary

„Alphavirus“ von Peter Georgas-Frey

Buch: „Alphavirus“

Autor: Peter Georgas-Frey

Verlag: Selbstverlag

Ausgabe: Taschenbuch, 102 Seiten

Der Autor: Peter Georgas-Frey ist ein 1970 geborener Autor, der seit 1999 am schönen Bodensee lebt. Er veröffentlichte bereits Erzählungen und Gedichte wie „Als Paolos Hände reden lernten“, „Soantà“ und „Zeitspuren“, den Roman „Die Revolte“ sowie eine Trilogie rund um die außerirdischen Aurumer, bestehend aus „Die Heimkehr“, „Die Rückkehr“ und „Projekt Epilog“.

Wer mehr über den Autor und seine Bücher erfahren möchte, dem sei der Besuch seines sehr lesenswerten Zeilen-Portals empfohlen. Wer das nicht möchte, dem sei ein dortiger Besuch ebenfalls empfohlen!

Das Buch: Drei Jahre nach der letzten Pandemie beschäftigt erneut einer Virus die Menschheit. Doch diesmal scheint der Erreger noch gefährlicher, noch tödlicher. Ohne erkennbare Infektionskette verbreitet sich die Krankheit über die Welt. Auf der Suche nach der Ursache wird der Sonderermittler Reeves eingeschaltet. Sein kühnster Verdacht wird von der Realität übertroffen. (Quelle: Klappentext)

Fazit: Einerseits wartet der geschätzte Bloggerkollege Peter schon recht lange auf diese Zeilen. Zu lange. Andererseits ist diesbezüglich alles besprochen, insofern stellt die Tatsache, dass der Umstand hier dennoch erwähnt wird, eher so eine Art Notiz an mich dar, zukünftig Besserung zu geloben.

Zumal es in literarischer Hinsicht gar nicht notwendig gewesen wäre, „Alphavirus“ auf die lange Bank zu schieben,  denn es überzeugt trotz seiner Kürze absolut.

Zwar kann ein Buch, das gut dafür geeignet ist, an einem regnerischen Nachmittag gelesen zu werden, von denen wir in absehbarer Zeit ja wohl noch so einige bekommen werden, in gewissen Bereichen nicht gleichwertig punkten, wie das ein unfangreicheres Werk könnte, beispielsweise bei den Figuren. Das wäre auch zu viel verlangt, denn gut 100 Seiten reichen eben nicht aus, um Figuren wirklich komplex darzustellen. Vor dem Hintergrund der Kürze sind die handelnden Personen allerdings gut gelungen, insbesondere Mark, so eine Mischung aus Scharlatan und Aluhutträger, hat es mir hier angetan. Insgesamt erfüllen die Charaktere ihre Aufgaben also zufriedenstellend.

In stilistischer Hinsicht hatte ich bei den Büchern des Autors noch nie wirklich viel zu meckern und das gilt auch für „Alphavirus“. Er schreibt vergleichsweise kurze Sätze und passt sich damit stilistisch der Länge des Buches an. Komplizierte Satzkonstruktionen wären hier insgesamt auch völlig fehl am Platze, in Summe passt das also schon.

In diesem Zusammenhang sei mal das Lektorat erwähnt, ein Punkt der bei Selfpublishern – aus meiner Erfahrung heraus – häufig etwas stiefmüttlicher behandelt wird bzw. behandelt werden muss, aus ganz naheliegenden und nachvollziehbaren Gründen. Oftmals werden daher Rechtschreibfehler oder unpassende Kommasetzung nicht erkannt und finden letztlich ihren Weg ins Buch. Auffällig war das beispielsweise in „Projekt Epilog“, über das ich seinerzeit in diesem Zusammenhang schrieb: “ Erwähnen muss ich allerdings so ein oder zwei Wort-, Komma- oder Kasus-Stolperer, über die ich aber insgesamt großzügig hinweggelesen habe“

Diesbezüglich kann man konstatieren, dass hier eine deutliche Besserung eingetreten ist, was der Lesbarkeit des Buches natürlich zuträglich ist. Lediglich ein, zwei Tippfehler haben sich eingeschlichen sowie eine mich irritierende Eigenheit: Wenn man beispielsweise schreibt “ „Gehen Sie nachsehen.“ Forderte er die Krankenschwester auf.“ (S.7), so könnte man – ich finde, man sollte auch – „Forderte“ klein schreiben und mittels eines Kommas zusammen mit dem Rest an die wörtliche Rede anhängen. Die hier gewählte Vorgehensweise findet sich allerdings mehrfach und wirkte, zumindest auf mich, irgendwann etwas störend. Abseits davon muss aber darauf hingewiesen werden, dass im Bereich des Lektorats eine deutliche Besserung im Vergleich zu früheren Büchern das Autors zu verzeichnen ist.

Das naturgemäß Wichtigste in einem Buch von überschaubarer Länge ist aber ja ohnehin die Handlung selbst. Und die hat mich vollständig überzeugt. Lange ließ mich das Gelesene die Stirn runzeln, weil ich mir dachte: „Na, da bin ich ja mal gespannt, wie er mir erklären will, was er mir hier so erzählt.“ Letztlich folgt diese Erklärung dann, wie sich das gehört, ganz zum Schluss, und ließ mich anerkennend nicken. Tolle Idee!

In Summe ist „Alphavirus“ also ein spannendes Leseerlebnis für zwischendurch, und ich hoffe, dass der Autor diesem literarischen Häppchen baldmöglichst weitere folgen lässt.

Ein herzlicher Dank geht an Peter für die Übersendung des Rezensionsexemplars. Die Tatsache, dass es sich um ein Rezensionsexemplar handelt, beeinflusst meine Meinung selbstredend nicht.

Demnächst in diesem Blog: „Dorfroman“ von Christoph Peters.

„Die Republik“ von Maxim Voland

Buch: „Die Republik“

Autor: Maxim Voland

Verlag: Piper

Ausgabe: Hardcover, 528 Seiten

Der Autor: Hinter Maxim Voland verbirgt sich ein deutscher Bestsellerautor. Seine Werke – bereits international bekannt. Sein Spektrum – vielfältig. Sein Roman „Die Republik“ – ein faszinierendes Gedankenspiel: Was wäre, wenn die Geschichte anders gelaufen wäre?
Maxim Voland plant bereits weitere Romane. (Quelle: Piper)

Das Buch:Europa, 1949: Die neu gegründete DDR umfasst nach einem unglaublichen Coup das gesamte deutsche Staatsgebiet, mit Ausnahme des westlichen Teils von Berlin. Gegenwart: Die DDR ist führende europäische Macht – ein hochmoderner Überwachungsstaat mit einem glücklichen Volk. So scheint es. Während internationale Agentenorganisationen im autonomen West-Berlin ihre Pläne schmieden, wird die DDR von einem furchtbaren Vorfall erschüttert: Über den Platz der Akademie zieht eine Giftgaswolke und fordert zahlreiche Tote. Ein Unfall? Ein Anschlag? Welche Macht steckt dahinter? Ein desillusionierter Stasi-Oberst, der französische Dolmetscher Christopher und die junge DDR-Bürgerin Alicia geraten in eine Verschwörung gigantischen Ausmaßes, die das Ende Europas bedeuten könnte … (Quelle: Piper)

Fazit: Mit Romanen im Stile von Robert Harris oder auch Philip K. Dick, die alternative Geschichtsverläufe zum Thema haben, kann man mich wirklich gut kriegen, behandeln diese Romane häufig eben spannende Was-wäre-wenn-Szenarien, die auf mich als halbstudierten Historiker einen gewissen Reiz ausüben. Allerdings habe ich bei diesem Genre eben auch ziemlich genaue Vorstellungen, wie ein entsprechendes Buch zu sein hat und was es behinhalten sollte und was eben nicht. Daher scheitert „Die Republik“ bei mir leider an meinen Erwartungen, mag für andere Leser aber durchaus eine gute Wahl darstellen.

Meine Schwierigkeiten mit dem Buch begannen schon bei den Charakteren, insbesondere bei der Agentin Harper. Innerhalb recht kurzer Zeit schafft es der Autor, diese Figur als frustrationsintolerante Person darzustellen, bei der es schon mal vorkommen kann, dass ein sie auf ihre „niedlichen Sommersprossen“ ansprechender Kollege „mit einem Schlag wegen seines Machospuchs die Nase gebrochen“ bekommt (S. 28), eine Person, die einen gewissen Hang zur zwanglosen One-Night-Stand-Promiskuität aufweist und die ingesamt so gewollt edgy und unangepasst rüberkommt, dass es manchmal etwas albern wirkt. Das männliche Pendant zu dieser Figur hätten sensiblere Lesergruppen dem Autoren vermutlich um die Ohren gehauen. Aber darum geht es mir nicht, mir geht es lediglich darum, dass Harper keine überzeugende Figur darstellt.

In abgeschwächter Form gilt das auch für den Dolmetscher Chris, der den Eindruck einer typischen Fitzek-Hauptfigur macht, die unbedarft und unabsichtlich in eine gefährliche Handlung hineinstolpert. Überhaupt hatte ich bei der Lektüre von Maxim Voland durchgehend das Gefühl, ich lese einen Fitzek. Schauen wir mal, wenn die Identität von Maxim Voland irgendwann geklärt ist, ob ich recht hatte.

Lediglich der Stasi-Oberst Gustav Kuhn weiß zu überzeugen. Dieser hat vom Regime die Nase voll und will beim Einsetzen der Handlung eigentlich rübermachen. Seine Hintergrundgeschichte ist schlüssig, seine Motive nachvollziehbar und insgesamt kann er bei mir durchaus Smypathiepunkte sammeln.

Ähnlich wie bei den handelnden Personen erging es mir auch in stilistischer Hinsicht, nur in abgeschwächter Form. Im Grunde kann man Maxim Voland hier wenig Vorwürfe machen, denn das Buch ist in einem äußert lesbaren Ton formuliert, von dem ich persönlich mich allerdings ein wenig unterfordert fühlte. Darüber enthielt das Buch aus meiner Sicht auch zu viele simple pew-pew-Schießereien, inklusive permanenter, für mich etwas befremdlicher Erwähnung der dabei verwendeten Schießeisen, bei denen es dann beispielsweise heißt „Die leblosen Körper der Männer und Frauen dampften in der Winterkühle, Blut sickerte über den Boden; zerplatzte Gedärme lagen wie Girlanden zwischen den Toten“ oder auch „Keuchend glitt er bäuchlings durch den Belag aus Blut, Dreck und Exkrementen und rutschte bis an die Kante; der stinkende, warme Dampf aus den Leichen gab ihm Deckung. Es roch wie in einer Schlachterei.“ (S. 314 und 315). Nun mag es zweifellose Leser geben, die diese eher rustikale Art der Darstellung mögen, nur gehöre ich nicht dazu. Insgesamt gilt für den stilistischen Bereich aber eindeutig, dass er eben Geschmackssache ist. Meiner wurde halt leider nicht getroffen.

Abseits von Charakteren und Stil lebt ein Buch wie „Die Republik“ natürlich in erster Linie von seiner Handlung und seinem Setting. Und hier kann der Roman erfreulicherweise am meisten punkten, auch wenn es trotzdem Anlass zur Kritik gibt. Zum einen ist die Handlung durchweg spannend, ideenreich und temporeich erzählt. Zum anderen ist das Setting als solches zwar ebenfalls spannend, auch weil immer die Frage im Raum steht, wie es denn überhaupt zur Übernahme des gesamten bundesdeutschen Gebiet durch die DDR kommen sollte, bzw. warum die Alliierten diesen Gebietsanspruch so widerstandlos geschehen ließen. Leider wird dieses Setting dann aber zu wenig mit Leben gefüllt, im Grunde besteht der Unterbau das Handlungsrahmens häufig lediglich in einer Art Namedropping von DDR-Begriffen wie der Hotelkette Interhotel. Einerseits hätte ich mir hier ein wenig mehr Unterbau für das Setting gewünscht, zum anderen muss erwähnt werden, dass die Art und Weise wie, bzw. wann, die oben genannte Frage nach dem Usprung des Settings beantwortet wird, aus meiner Sicht fast schon ein bisschen frech ist. Das mag bewusst so entschieden worden sein, erweckt aber leider den Eindruck, als wäre Maxim Voland bis zum Abschluss des Buches keine schlüssige Begründung für sein Setting eingefallen, als hätte man diese dann erst während es Lektorats drangeflanscht. Natürlich möchte und würde ich niemandem unterstellen, dass das wirklich so abgelaufen ist, ich sage nur wie es auf mich als Leser wirkt. Und auf mich wirkt diese Vorgehensweise eben eher unglücklich. Ein bisschen so also würde man die Identität des Mörders in einem Krimi beiläufig in der Danksagung kundtun.

Insgesamt hatten Maxim Voland und ich also wenig Glück miteinander. Das muss aber natürlich nicht heißen, dass es anderen Leserinnen und Lesern nicht vollkommen anders gehen könnte. Wer also auf eine wilde Mischung von Robert Harris, John le Carré und Fredrick Forsyth steht, dürfte mit „Die Republik“ sein Glück finden. Ich persönlich war leider eher enttäuscht.

Ich bedanke mich beim Piper Verlag für die freundliche Übersendung des Rezensionsexemplars. Die Tatsache, dass es sich um ein Rezensionsexemplar handelt, beeinflusst meine Meinung selbstredend nicht.

Demnächst in diesem Blog: „Alphavirus“ von Peter Georgas-Frey.

Happy birthday to me #6

Errungenschaft: 6. Jahrestag

Hallo, liebe Leserinnen und Leser,

heimlich still und leise ist mein Blog heute beachtliche sechs Jahre alt geworden. Rein rechnerisch kommt er also bald in die Grundschule und nervt mich mit Fragen nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest, deren Antworten ich selbst gerne erst mal wüsste.

Nun mache ich für gewöhnlich keine große Sache daraus, behandle meine Bloggeburtstage eher unter dem Motto „Gehen Sie weiter, hier gibt es nichts zu sehen“, aber ein paar Worte müssen zu diesem Anlass natürlich doch verloren werden. Zum einen gibt sich so die Gelegenheit, einmal mehr Danke zu sagen. In erster Linie natürlich an eine ganz zauberhafte Person, ohne die das hier alles nicht möglich wäre. Also an, ähm, na ja, an mich. Muss auch mal sein …

Ein sehr viel größerer Dank gebührt aber wie immer den anderen Bewohnern der Blogosphäre, die hier so fleißig lesen, was mir immer noch, wie auch schon vor sechs Jahren, ein echtes Ministerium ist, oder wie das heißt. Herzlichen Dank! Besonders erwähnenswert ist hier erneut ein ganz zauberhafter Personenkreis, bestehend aus einer gefühlten Handvoll Menschen aus meinem persönlichen Umfeld, die hier gelegentlich, zwischendurch, regelmäßig oder immer lesen. Danke sehr!

Zum anderen nutze ich die Gelegenheit aber eigentlich auch immer zu einer kurzen Rückschau und einem kleinen Ausblick. Und gerade in diesem Jahr möchte ich nun wirklich nicht davon abweichen. Denn so ereignis- und veränderungsreich das Jahr auch im „echten“ Leben war und ist, so war und ist es eben auch – zumindest bei mir – innerhalb der Blogosphäre.

Da gab es beispielsweise den neuen WordPress-Editor. Hätte ich gewusst, dass der kommt, hätte ich die DSGVO zu schätzen gewusst. Aber sei es drum, es ist nun mal so wie es ist, und nachdem die entsprechenden Fachleute – die einstmals für Microsoft tätig gewesen sein und beruflich früher perfekt laufende Versionen von „Word“ und „Excel“ verschlimmbessert haben müssen – beschlossen haben, dass der neue Editor eine ganz tolle Idee ist, mit dem früher oder später alle Menschen der Blogosphäre besser zurechtkommen werden, als mit überhaupt irgendwas vorher – bis eben auf diesen veränderungsphobischen, technikfernen, anchronistischen, angehenden alten Sack, der diesen dubiosen „reisswolfblog“ betreibt, von dem er sich bis heute fragt, warum er ihn seinerzeit eigentlich klein geschrieben hat, bis auf diesen Typen also, den man eben als natürlichen Schwund einbezieht -, müssen wir nun wohl damit zufrieden sein.

Aber auch hinsichtlich meines Blogs haben sich ein paar Kleinigkeiten verändert. So ist heimlich still und leise, und augenscheinlich von allen unbemerkt, jegliche Punkte-Vergabe verschwunden, denn einerseits war die mir immer so ein bisschen ein Dorn im Auge, weil andererseits eben doch gilt, dass ich, wenn es mir am Ende eines über 1.000 Worte umfassenden Textes nicht gelungen ist, eine greifbare Meinung zu transportieren, ohne der Leserschaft zusätzlich noch plakative Punktezahlen vor die Füße werfen zu müssen, ohnehin irgendwas falsch mache und das Ganze dann vielleicht lieber lassen sollte. Deshalb: Weg mit den Punkten!

Die vielleicht größte Änderung war die Entscheidung, in meinem Blog zukünftig und für alle Zeit ausschließlich und nur noch Buchrezensionen zu veröffentlichen. Denn auch der wilde Mix von Rezensionen und anderen Texten in meinem Blog war mir schon seit Ewigkeiten ein Dorn im Auge. Im Grunde meines Herzens habe ich es nämlich gerne aufgeräumt. Idealerweise wenn ich nicht selbst Ordnung machen muss, aber manchmal bleibt das ja nicht aus. Flugs wurde also alles, was keine Buchrezension ist, ausgelagert und in meinen Zweitblog verschoben, der einem Stern am Firmament der Blogosphäre gleich aufging, eine wahre Follower-Flut zu verzeich… – nein, warte, das muss ich verwechseln. Ich fang nochmal an: Flugs wurde also alles, was keine Buchrezension ist, ausgelagert und in meinen Zweitblog verschoben, auch wenn ich den eigentlich, gemessen daran, was das so los oder viel mehr auch nicht los ist, akkustisch mit Grillenzirpen und legendären Mundharmonika-Klängen von Ennio Morricone sowie grafisch mit virtuellen Tumbleweeds versehen müsste. Ungeachtet dessen war auch das eine gute Entscheidung.

Anders als beispielsweise der neue WP-Editor, der … ja, ich weiß, das hatten wir schon …

Jedenfalls: Nachdem ich meinen Blog der genannten Verschlankung unterzogen habe, fühle ich mich ausreichend gerüstet, um ins nächste Jahr des Blogbestehens durchzustarten.

Ich bleib‘ noch ’ne Weile. Und ihr hoffentlich auch.

Gehabt euch wohl!

 

„Zeitenwende“ von Michel Friedman und Harald Welzer

Buch: „Zeitenwende“

Autoren: Michel Friedman und Harald Welzer

Verlag: Kiepenheuer & Witsch

Ausgabe: Hardcover, 288 Seiten

Die Autoren: Michel Friedman, Prof. Dr. Dr., Philosoph und Jurist, ist Direktor des Center for Applied European Studies (CAES) an der Frankfurt University of Applied Sciences, Moderator verschiedener Talkshows für die Deutsche Welle, SWR und Welt. Autor der Tageszeitung Die Welt und Gastgeber einer politischer Gesprächsreihe im Berliner Ensemble. (Quelle: Kiepenheuer & Witsch)

Harald Welzer, Prof. Dr., Mitbegründer und Direktor von FUTURZWEI / Stiftung Zukunftsfähigkeit. Er lehrt an der Europa-Universität Flensburg sowie an den Universitäten Sankt Gallen so wie Zürich und ist Herausgeber von taz FUTURZWEI. Magazin für Zukunft und Politik. Seine Bücher (zuletzt »Alles könnte anders sein. Eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen«) sind in 22 Sprachen übersetzt worden. (Quelle: Kiepenheuer & Witsch)

Das Buch: Erleben wir einen Epochenbruch? Die Coronakrise hat nicht nur virologische Fragen aufgeworfen, sondern auch soziale, politische und kulturelle, die zuvor allzu leicht übersehen wurden. Insofern kann man die Krise auch als eine Lerngeschichte lesen, die für die Zukunft der Demokratie und die Lösung ihrer Zukunftsprobleme von Rassismus bis Ungleichheit äußerst wichtig ist. Michel Friedman und Harald Welzer untersuchen die Frage, ob wir einen Epochenbruch erleben, und skizzieren, wie unsere Gesellschaft modernisiert werden kann. (Quelle: Klappentext)

Fazit: Während ich zugeben muss, dass mir Harald Welzer bislang völlig unbekannt war, was vielleicht damit zu entschuldigen ist, dass ich mich vergleichsweise selten in einschlägigen Sozialpsychologenkreisen bewege, war mir Michel Friedman natürlich ein Begriff. Und ich gestehe, dass mein Interesse an „Zeitenwende – Der Angriff auf Demokratie und Menschenwürde“ primär auf seinem Mitwirken beruhte.

Denn so sehr ich Herrn Friedman einerseits als scharfsinnigen und phrasenbefreiten Denker und Redner zu schätzen weiß, so sehr geht mir leider häufig auch seine unter anderem oftmals vom Unterbrechen des Gegenübers geprägte Gesprächsleitung in diversen Talkformaten auf den Geist, auch wenn mir bewusst ist, dass diese Gesprächsführung offensichtlich zum Ziel hat, auch das Gegenüber nicht mit inhaltsleeren Phrasen davonkommen zu lassen.

Dementsprechend war ich also gespannt, welche Version des Michel Friedman hier die Oberhand gewinnen würde und ob er mich diesmal mit seiner Art, zu diskutieren, überzeugen konnte. Nun, er konnte. Und Herr Welzer konnte auch. Und zusammen konnten sie ganz wunderbar!

Die beiden Autoren teilen ihr Buch in verschiedene Kapitel bzw. Themenkomplexe ein – beispielweise Bildung, Digitalisierung etc. -, die den Vorteil haben, nicht unbedingt chronologisch gelesen werden zu müssen, auch wenn es natürlich Sinn ergäbe, das trotzdem zu tun. Zu den verschiedenen Themenkomplexen arbeiten die beiden Autoren dann den jeweiligen status quo heraus, werfen interessante und bedenkenswerte Fragen auf und zeigen idealerweise Verbesserungsvorschläge auf. Am Beispiel des Kapitels über die Bildung würde das also in etwa bedeuten, dass die Autoren herausstellen, dass es mit der Chancengleichheit im Bildungssystem nach wie vor jetzt nicht sooo weit her ist und stellen die Frage, was das denn wohl so mit Schülerinnen und Schülern sowie Studierenden macht, und welcher Eindruck ihnen vermittelt wird, wenn sie marode Schul- oder Universitätsbauten betreten müssen. Und wer beispielsweise mal Anfang der 90er das Historische Seminar der Leibniz-Uni in Hannover betreten hat, weiß, wie berechtigt diese Frage ist …

Der Austausch der beiden Autoren findet dabei in Form eines knapp 300 Seiten umfassenden Dialogs statt. Und das ist über die gesamte Dauer des Buches, trotz der ernsten Themen und Anlässe, höchst vergnüglich zu lesen.

Natürlich ist man nicht immer mit den Autoren einer Meinung oder folgt ihrer Argumentation. So irritierten mich Herrn Welzers anfängliche oft vorgebrachte Hinweise darauf, dass es dieses und jenes ja bereits in einem seiner Bücher geschrieben habe, ebenso wie gelegentlichen Seitenhiebe auf die SPD, da ich beides als überflüssig empfand. Auch inhaltlich gehe ich persönlich nicht an allen Stellen mit. Nehmen wir beispielsweise mal das Thema Fleischkonsum. Sinngemäß und verkürzt wiedergegeben plädiert Welzer dafür, die Produktionsbedingungen für Mitarbeiter und Tiere besser zu gestalten – was eine absolut unstrittige Forderung ist – und wer sich dann den damit verbundenen Preis nicht mehr leisten kann, tja, für den ist es dann eben so.

Von Michel Friedman mehrfach darauf angesprochen, dass das quasi eine Ungleichbehandlung der sozial Schwächeren darstelle, die somit eine Art Privileg verlieren, antwortet Welzer, dass es in der Geschichte immer schon so gewesen sei, dass Gruppen früher oder später auf Privilegien verzichten mussten und sagt: „Die Manchesterkapitalisten fanden die Kinderarbeit super, trotzdem mussten sie irgendwann darauf verzichten. Die britische Oberschicht hatte wunderbare Anwesen mit jeder Menge Dienstboten in Indien, irgendwann mussten sie das aufgeben.“ (S. 54) Dabei verkennt er aber meines Erachtens, dass er hier mit Beispielen argumentiert, in denen ohnehin schon Privilegierte auf einen Teil dieser Privilegien verzichten mussten, während bei gestiegenen Fleisch- oder allgemein Lebensmittelpreisen zumeist die „leiden“, die eh finanziell schwächer gestellt sind, während die oberen Zehntausend weiter sorglos schmausen dürfen.

Aber auch die Argumentation von Herrn Friedman ruft bei mir manchmal Prostest hervor. So bekommt man irgendwann während der Lektüre den Eindruck, dass es ihm egal ist, wann wie viele Menschen auf die Straße gegangen sind, um gegen Pegida, Rassismus, Antisemitismus zu demonstrieren, weil es ihm einfach nicht reicht. Das habe ich durchaus kritisch gesehen, denn wenn man dem Engagement von Menschen mit einem dauernden „Das reicht mir nicht!“ entgegentritt, wertet man dieses Engagement, wie klein es auch sein mag, ab, und erzeugt im schlechten Fall eher Widerspruch und erzieht sich im schlechtesten Fall eine Bevölkerung voller Streber, die dann nur noch auf die Straße gehen, um gegen was auch immer zu demonstrieren, aber nicht, weil sie die Inhalte der Demos stützten, sondern weil sie meinen, dass es von ihnen erwartet wird. Außerdem wurden Streber auf dem Schulhof früher immer verhauen. Ja, das war auch damals schon falsch, aber verhauen wurden sie trotzdem. Insgesamt sah ich diese Einstellung also kritisch – und dann las ich in den letzten Tagen Zeitung:

Der antisemitische Angriff auf einen Studenten in Hamburg geht als die Tat eines Irren durch, der mutmaßlich sogar als schuldunfähig eingestuft werden könnte. Der Bundespräsident – den ich persönlich ja eigentlich mag – sagt sinngemäß, wenn es zu solchen Taten käme, sei es Zeit für die Bevölkerung aufzustehen und dagegen anzugehen. Er sagt „wenn“, er sagt nicht „bevor“ … – Und in Hannover versammeln sich zum Gedenken an die Opfer des Anschlags von Halle 200(!) Leute, bestehend aus den Organisatoren, dem Bündnis „Omas gegen rechts“, Vertretern von Stadt, Parteien und Gewerkschaften, so war es in der Zeitung zu lesen. Und man fragt sich, ob da überhaupt jemand war, der nicht zur eigentlichen Organisation gehörte oder aber dort aufschlug, weil angenommen wurde, dass das von Volkes Seite so erwartet wurde, sondern ob da auch irgendjemand eigentlich Unbeteiligtes war, der teilgenommen hat, weil er den Anlass unterstützt!? Und dann liest man, dass der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz einen steil ansteigenden Antisemitismus in diesem Land beklagt – ein Anstieg, der seinem Vorgänger mutmaßlich nicht aufgefallen wäre … Und dann fällt einem ein, dass es ja seinerzeit einen regelrechten Skandal gab, als Beatrix von Storch „mausrutschte“, während es vier Jahre später keinen solchen Skandal gab, als ein ehemaliger Presseprecher der AfD in einer Pro7-Doku verkündete, die AfD müsse durch weiteren Flüchtlingszuzug dafür sorgen, dass es Deutschland schlechter gehe, um Stimmenanteile zu behalten, während man die Flüchtlinge später ja immer noch „erschießen“ oder „vergasen“ könne.

Und dann denkt man sich, dass er vielleicht doch recht hat, der Herr Friedman. Es reicht nicht! Es reicht hinten und vorne noch nicht. Deshalb ist einer der Schlüsse der beiden Autoren auch, dass man in Zukunft wieder mehr streiten müsse. Zugegeben, da habe ich ein Problem mit der Begrifflichkeit. Streit ist für micht etwas, das beginnt, wenn Menschen keine Argumente mehr haben und anfangen zu brüllen. Und ich will mich nicht streiten. Ich bin ein harmoniebedürftiger Mensch und wenn sich zwei streiten, tendiert die Wahrscheinlichkeit, dass ich deswegen den Raum verlasse, gegen 100 Prozent.

Ersetzt man „streiten“ aber durch „diskutieren, ist die Schlussfolgerung der Autoren meines Erachtens absolut richtig. Denn wem ging es nicht schon mal so, dass man lieber wieder resigniert den Mund gehalten hat, wenn jemand über (hier beliebige Personengruppe einfügen) oder über „die da oben“ geschimpft hat, weil man einfach keine Lust mehr auf eine vermutlich fruchtlose Diskussion mit offenkundigen Idioten hat!? Aber vielleicht ist das ganz genau verkehrt …!?

Letztlich ist „Zeitenwende“ ein Buch, das ich mit wahrer Begeisterung gelesen habe, eines das spannende Fragen aufwirft, aber eben auch Lösungsansätze bietet. Vor allem aber ist es ein Buch, dass man nach erfolgter Lektüre in den Schrank stellen und nach 5 und/oder 10 Jahren mal wieder hervornehmen kann und einen Abgleich mit der Frage, ob wir wirklich vor einer Zeitenwende stehen, durchführen kann.

Ich danke dem Verlag Kiepenheuer & Witsch für die freundliche Übersendung des Rezensionsexemplars. Die Tatsache, dass es sich um ein Rezensionsexemplar handelt, beeinflusst meine Meinung selbstredend nicht.

„Effingers“ von Gabriele Tergit

Buch: „Effingers“

Autorin: Gabriele Tergit

Verlag: btb

Ausgabe: Taschenbuch, 899 Seiten

Die Autorin: Gabriele Tergit (1894-1982), Journalistin und Schriftstellerin, wurde durch ihre Gerichtsreportagen bekannt. Sie schrieb drei Romane, zahlreiche Feuilletons und Reportagen sowie posthum veröffentlichte Erinnerungen. Im November 1933 emigrierte sie nach Palästina, 1938 zog sie mit ihrem Mann nach London. (Quelle: Random House)

Das Buch: „Effingers“ ist ein Familienroman – eine Chronik der Familie Effinger über vier Generationen hinweg. Außer dass sie Juden sind, unterscheidet sich ihr Schicksal in nichts von dem anderer gutsituierter gebildeter Bürger im Berlin der Jahrhundertwende. Alle fahren sie im sich immer wiederholenden Lebenskarussell, das sich durch Glück, Schmerz, Leichtsinn, Erfolg und Scheitern dreht. Erst als der Nationalsozialismus sich breitmacht, wird aus dem deutschen Schicksal der Effingers ein jüdisches. (Quelle: Random House)

Fazit: Ich erwähne ja gelegentlich sinngemäß, dass ich Thea Dorn auch dann noch begeistert zuhören würde, wenn sie gerade ein vierstündiges Spontanreferat in einer mir unbekannten Sprache über die Außenhandelsbilanz von Surinam halten würde. Und nachdem Frau Dorn über „Effingers“ in den allerhöchsten Tönen schwärmte, war es daher nur zu folgerichtig, dass ich die Herausforderung dieser etwa 900 Seiten auf mich nehmen würde. Und das hat sich mehr als gelohnt.

Die erzählte Geschichte beginnt im Jahr 1878 mit Paul Effinger, dem, geboren und aufgewachsen als Sohn eines Uhrmachers im ebenso beschaulichen wie fiktiven Kragsheim am Neckar, seine provinzielle Umgebung zu klein wird, der hochtrabende Pläne hat, und daher nach Berlin geht, um dort eine Fabrik hochzuziehen. Später tritt sein Bruder Karl in den Betrieb ein und heiratet zudem in die alteingesessene Bankiers-Familie Goldschmidt-Oppner ein.

In der Folge begleitet die Autorin diese Familien durch das ausgehende Kaiserreich, den Ersten Weltkrieg, die Weimarer Republik sowie die Zeit des Nationalsozialismus. Und allein aufrund des Zeitraums über den sich die Handlung erstreckt und des damit einhergehenden umfassenden Figuren-Ensembles kommt die Handlung sehr vielschichtig und abwechslungsreich daher.

Zugegeben, das alles über die Dauer von 900 Seiten aufrecht zu erhalten, ist durchaus schwierig, und zwischenzeitlich kann die Schilderung des, überspitzt gesagt, viertausendsten Sonntagsessens mit anschließendem Mittagsschlaf in den unterschiedlichsten Räumen der heimischen Villa schon ermüdend wirken. Aber gerade diese Schilderungen, auch in ihrer Häufigkeit, sind meines Erachtens wichtig, um später den Kontrast herauszustellen, der sich im Leben der Familien aufgrund der veränderten politischen Gegebenheiten zwangsweise ergibt. Aber es lohnt sich dranzubleiben, und auch mal Schwächephasen in der Lektüre zu durchleiden, denn insgesamt wird man, nicht nur inhaltlich, mit einem wunderbaren Roman belohnt.

Dass aber eben auch und gerade dieser Inhalt wichtig ist, muss angesichts eines erneuten Übergriffs vor einer Synagoge und der Tatsache, dass wir in einem Land leben, das seinen jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern die Ausübung ihrer Religionsfreiheit in der Synagoge nur unter Polizeischutz gewährleisten kann, wohl nicht extra betont werden. Aber wahrscheinlich werden die, die dieses Buch am dringendsten lesen sollten, es sowieso wieder nicht lesen, vermutlich auch, weil sie gerade wieder damit beschäftigt sind, die Einschränkung ihrer Grundrechte durch die Alltagsmasken zu beklagen, während nur wenige Meter weiter tatsächlich Menschen, und zwar seit jeher und dauerhaft, eingeschränkt sind, wenn es um die Ausübung ihrer Grundrechte geht. Sei´s drum …

Wenn man sich vom reinen Inhalt der Geschichte ab- und den Figuren zuwendet, dann fällt auf, dass die Autorin schon sehr nah bei ihren Figuren ist. Naturgemäß, bei einer derartigen Fülle von handelnden Personen, gefallen einem da einige mehr und andere weniger, allein weil man sich aufgrund der Dinge, die sie tun und sagen, unterschiedlich mit ihnen identifizieren kann. Dessen ungeachtet sind aber alle Charaktere nachvollziehbar und lebensnah gestaltet. Besonders erwähnenswert finde ich, wie gut es der Autorin gelingt, das Unverständnis ihrer Charaktere gegenüber ihren jeweiligen Nachfolgegenerationen darzulegen. So steht beispielsweise Waldemar Goldschmidt, geboren 1850, bereits dem Lebenswandel seiner Enkel mit ähnlichem Unverständnis gegenüber wie ich heute als mittelalter Mensch vor TikTok. Zeiten ändern sich oft schneller als Menschen …

Stilistisch kann ich „Effingers“ nicht wirklich viel vorwerfen. Gut, 900 Seiten sind 900 Seiten sind 900 Seiten. Aber Gabriele Tergit versteht es, jede einzelne davon mit Leben zu füllen. Als einziger Kritikpunkt sei angemerkt, dass es oftmals eine irritierende Diskrepanz zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit gibt. Als Beispiel sei hier sinngemäß eine Szene wiedergegeben, in der zwei Frauen miteinander einkaufen gehen. In der ersten und zweiten Zeile des Dialogs beschließt man, sich zu trennen und in unterschiedlichen Geschäften zu suchen, in der dritten gleicht man bereits ab, ob die Suche Erfolg gehabt hat. Als weiteres Beispiel stehen während eines Dialogs plötzlich Menschen mit im Raum, auf deren erwartetes Eintreffen zwar hingewiesen, deren eigentliches Ankommen aber nicht geschildert wird. Anfangs wirkte das auf mich wirklich teils verwirrend, teils befremdlich, aber wenn sich mal dran gewöhnt hat …

Wenn man all das zusammen nimmt, dann kommt, wie erwähnt, ein ganz wunderbarer Roman dabei heraus. Darüber hinaus auch ein in seiner Urfassung sehr mutiger, denn „Effingers“ erschien bereits 1951. Vorausgegangen war eine mehrjährige, kräftezehrende Verlagssuche, denn in der deutschen Verlagslandschaft war man seinerzeit wohl der Meinung, dass die deutsche Leserschaft mit einem solchen Buch (noch) nicht konfrontiert werden wollte. Und der immer stärker um sich greifende Antisemitismus heutzutage scheint darauf hinzudeuten, dass sich daran nicht so wirklich viel geändert hat. Auch und gerade deshalb bleibt mir, wenn Frau Dorn sagt: „Dass dieses Buch nicht längst ein fester Bestandteil des deutschen literarischen Kanons ist, halte ich für einen Skandal.“, nichts anderes übrig, als ihr in vollem Umfang zuzustimmen. Wieder einmal …

Ich danke dem Bloggerportal und dem btb-Verlag für die freundliche Übersendung des Rezensionsexemplars. Die Tatsache, dass es sich um ein Rezensionsexemplar handelt, beeinflusst meine Meinung selbstredend nicht.

Demnächst in diesem Blog: „Zeitenwende“ von Michel Friedman und Harald Welzer.