Buch: „Die Bücher, der Junge und die Nacht“
Autor: Kai Meyer
Verlag: Droemer Knaur
Ausgabe: Hardcover, 496 Seiten
Der Autor: Kai Meyer hat rund siebzig Romane veröffentlicht, von denen viele auf die SPIEGEL-Bestsellerliste gelangten. Übersetzungen erscheinen in dreißig Sprachen. Seine Geschichten wurden als Film, Hörspiel und Graphic Novel adaptiert und mit Preisen im In- und Ausland ausgezeichnet. (Quelle: Droemer Knaur)
Das Buch: Dichter Nebel wogt durch die Gassen der Bücherstadt Leipzig, 1933, als das Böse die Macht ergreift. Hier entspinnt sich die tragische Liebe des Buchbinders Jakob Steinfeld zu einer rätselhaften jungen Frau. Juli hat ein Buch geschrieben, das sie einzig ihm anvertrauen will. Doch bald darauf verschwindet sie spurlos.
Fast vierzig Jahre später ist auch Jakobs Sohn Robert den Büchern verfallen und reist auf der Suche nach seltenen Ausgaben durch ganz Europa. Er liebt seine Arbeit und die Bücher – von Menschen hält er sich meist eher fern. Doch als die Bibliothekarin Marie ihn bittet, ihr bei einem Auftrag der geheimnisumwitterten Verlegerfamilie Pallandt zu helfen, stoßen sie auf das Mysterium eines Buches, dessen Geschichte eng mit Roberts eigener verknüpft ist – es ist der Schlüssel zum Schicksal seiner Eltern. (Quelle: Droemer Knaur)
Fazit: Aura Institoris – mit dieser kreativ benannten Hauptfigur aus Kai Meyers „Die Alchimistin“ fing vor nun bald 25 Jahren meine Begeisterung für seine Bücher an.Wobei – so ganz richtig ist das nicht, denn sogar noch vor der „Alchimistin“ hatte ich beispielsweise seine Nibelungenromane sowie „Der Rattenzauber“ gelesen und das diffuse Gefühl entwickelt, dass man diesen jungen, talentierten Autor mal besser im Auge halten sollte. Nun, so etwa 25 Jahre ± irgendwas später haben Kai Meyer und ich eine abwechslungsreiche und zuweilen schwierige Autor-Leser-Beziehung hinter uns. Mit Fortschreiten der Zeit beschäftigte sich der Autor immer häufiger damit, diverse Dreiteiler zu schreiben, bei denen ich ganz eindeutig nicht zur Zielgruppe gehörte und kehrte nur gelegentlich und viel zu selten auf den literarischen Pfad der Tugend zurück, den ich persönlich für ihn als den einzig richtigen empfand.
In den letzten Jahren war das glücklicherweise wieder häufiger der Fall. Mag ich auch „Die Seiten der Welt“ ebenso wenig zu Ende gelesen haben wie „Die Krone der Sterne“ – diese verdammten Dreiteiler! -, aber die Richtung stimmte wenigstens wieder. Dieser Eindruck wurde auch durch das im letzten Jahr erschienene „Imperator“ bestätigt – dessen zweiter Teil im März 23 erscheint: Knoten ins Taschentuch machen! – und mit „Die Bücher, der Junge und die Nacht“ hat der Autor es geschafft, den veränderungsphobischen Oldschool-Leser, der ich bin, wieder mal vollkommen zufrieden zu stellen.
In Meyers neuestem Roman präsentiert uns der Autor die Geschichte seines Protagonisten Robert Steinfeld über insgesamt drei Zeitebenen. Im Jahr 1933 begleiten wir Steinfelds Vater Jakob, der ein kleines Antiquariat betreibt, und dessen Situation nicht nur durch das Abgleiten Deutschlands in die NS-Diktatur verschlimmert wird, sondern zusätzlich dadurch, dass er sich zwischendurch gerne mit den falschen Leuten anlegt.
In der zweiten Zeitebene in den Jahren 1943/44 wird geschildert, wie der etwa zehn Jahre alte Robert an der Seite des mysteriösen Mercurio durch das zunehmend in Schutt und Asche liegende Deutschland streift, immer im Dienste gut situierter Auftraggeber unterwegs, um für selbige in den Besitz seltener Bücher zu gelangen.
Den dritten Handlungsstrang siedelt Meyer im Jahr 1971 an. Mittlerweile ist der junge Robert mehr oder weniger in die Fußsstapfen seines einstigen Mentors Mercurio getreten und beschäftigt sich in beruflicher Hinsicht damit, beispielsweise im Auftrag von Erben, die Bestände von Privatbibliotheken zu sichten und ggf. zu verkaufen oder für seinen bibliophilen Kundenkreis ganz bestimmte Buchausgaben zu ergattern. In diesem Zusammenhang bittet ihn seine gute Freundin Marie, die im selben Metier tätig ist, darum, ihr bei der Sichtung der Privatbibliothek des kürzlichen vertorbenen Verlegers Pallandt zu helfen. Zufällig stoßen die beiden dabei auf ein ganz bestimmtes Buch, das viel mit Roberts Familiengeschichte zu tun hat, und ihm Fragen beantworten könnte, die er fast schon aufgehört hat zu fragen.
Mehr soll über die Handlung, die vergleichsweise komplex und abwechslungsreich daherkommt, gar nicht verraten werden, weil ich nicht in die Verlegenheit geraten möchte, ggf. etwas zu viel zu verraten. Insgesamt gilt: Wenn man im Bereich der Handlung etwas kritisieren möchte, dann, dass die Auflösung des eines oder anderen Handlungselements als zu einfach, als zu wenig ausgearbeitet oder als ein wenig irritierend erscheint, und man daher zum Ende hin den Eindruck hat, noch so ein, zwei lose Handlungsfäden in der Hand zu haben. Andererseits: Möglicherweise bietet das die Option, die Handlung irgendwann mal mit einem zweiten Roman fortzusetzen. Es wäre ja, wie erwähnt, nicht das erste Mal, dass Meyer Mehrteiler schreibt.
Abseits der Handlung bekommt das Buch durch den regelmäßigen Wechsel des Handlungsstrangs eine angenehme Dynamik. Glücklicherweise übertreibt es der Autor damit jedoch nicht. Anstelle atemloser Perspektivwechsel alle paar Seiten nimmt sich Meyer Zeit für seine Erzählung. „Die Bücher, der Junge und die Nacht“ ist demnach kein gehetztes Actionfeuerwerk, sondern ein angenehm komponiertes Leseerlebnis, bei dem sich erst im Laufe der Zeit aus den drei Einzelteilen ein großes Ganzes ergibt.
Besonders lobend muss erwähnt werden, wie außerordentlich atmosphärisch Meyer erzählt, wie gut es ihm gelingt, Stimmung zu transportieren. Schon der Einstieg ins Buch, bei dem der junge Robert nach einem Luftangriff auf Leipzig einem brennenden Haus entkommen muss, ist in dieser Hinsicht außerordentlich gut gelungen. Der Handlungsstrang im Jahr 1933, in dem der Autor anschaulich beschreibt, wie die Stimmung immer weiter kippt, sich die Sicherheitslage für viele Menschen dramatisch ändert und sich eine allgemeine Bedrohlichkeit verbreitet, steht dem in nichts nach. Insgesamt ist „Die Bücher, der Junge und die Nacht“ in stilistischer Hinsicht für Meyers Verhältnisse bemerkenswert gut gelungen, was jetzt irgendwie deutlich despektierlicher klang, als es wirklich gemeint war.
Wenn man wollte, könnte man sich allenfalls anhand des Figurenensembles zu einiger Kritik veranlasst sehen, zumal Meyers handelnde Personen eigentlich noch nie wirklich tiefgründige Charakterstudien waren, wobei Robert Steinfeld hierbei sogar noch eine rühmliche Ausnahme bildet. Im vorliegenden Fall ist das besagte Figurenensemble aber eigentlich vollkommen in Ordnung, tut, was es soll und bleibt nachvollziehbar. Dies gilt jedoch mit Ausnahme der Interaktion zwischen Jakob Steinfeld und seinem russischen Mitarbeiter-Sidekick, deren Dialoge oft gewollt schlagfertig klingen, manchmal der Situation nicht angemessen erscheinen und zuweilen wirken, als würden sich Danny Glover und Mel Gibson unterhalten, während sie beschossen werden.
Derlei Kleinigkeiten aber mal außer acht gelassen, hat Kai Meyer mit „Die Bücher, der Junge und die Nacht“ seinen wohl besten Roman seit „Herrin der Lüge“ geschrieben – und das war immerhin schon 2006. Bücher, über die man sagt, dass sie eine Liebeserklärung an die Welt der Bücher seien, sind zuweilen fürchterlich kitschig. Meyers Roman stellt hier die Ausnahme von der Regel dar. Zudem ist das Buch ein atmosphärischer Streifzug durch die Buchstadt Leipzig und diverse Jahrzehnte deutscher und deutsch-deutscher Geschichte.
Für Fans des Autors ein absolutes Muss, für alle anderen immer noch eine deutliche Leseempfehlung!
Ich danke dem Droemer Knaur Verlag für die freundliche Übersendung des Rezensionsexemplars. Die Tatsache, dass es sich um ein Rezensionsexemplar handelt, beeinflust meine Meinung selbstredend nicht.
Demnächst in diesem Blog: „Die Arena“ von Djavadi Négar oder „Noosphäre“ von Peter Georgas-Frey.