Buch: „Vor dem Fall“
Autor: Noah Hawley
Verlag: Goldmann
Ausgabe: Taschenbuch, 447 Seiten
Der Autor: Noah Hawley ist Autor, Drehbuchschreiber und Produzent. Er wurde mit dem Emmy und dem Golden Globe ausgezeichnet. Unter anderem schrieb und produzierte er die erfolgreiche Serie »Bones – Die Knochenjägerin« und die TV-Adaption des Spielfilms »Fargo«. Hawley lebt in Los Angeles und Austin. (Quelle: Goldmann)
Das Buch: An einem nebligen Abend startet ein Privatjet zu einem Flug nach New York. Wenige Minuten später stürzt er in den Atlantik. Nur der Maler Scott Burroughs und der vierjährige JJ überleben inmitten der brennenden Trümmer. Und Scott gelingt das Unmögliche: Er schafft es, den Jungen an das weit entfernte Ufer zu retten. Während die Suchtrupps fieberhaft nach den Leichen und der Blackbox fahnden, greifen immer abstrusere Verschwörungstheorien um sich. Scott versucht verzweifelt, sich den Medien zu entziehen – und gerät dabei in eine Welt der Intrigen und Manipulationen, in der niemand vor dem brutalen Fall ins Nichts geschützt ist. (Quelle: Goldmann)
Fazit: Hätte ich einen weniger monothematischen und eher politisch ausgerichteten Blog, würde ich jetzt wahrscheinlich über Chemnitz schreiben. Im vollen Bewusstsein, dass die, an die meine Zeilen gerichtet wären, sie nie lesen würde. Oder überhaupt mal irgendwas. Da das aber nicht der Fall ist, schreibe ich lieber über Noah Hawleys „Vor dem Fall“. Immerhin ist dieses Buch auch politisch.
Zu Beginn lässt der Autor seine Figuren in das Flugzeug und den Leser in die Geschehnisse unmittelbar vor dem Absturz einsteigen, bereits auf Seite 28 liegt der Flieger brennend im Meer. Der mehr oder minder erfolglose Maler Scott Borroughs war eigentlich nur zufällig an Bord. Auf Martha´s Vinyard lernt er nämlich Maggie auf einem Markt kennen, wo sie sich in der Folge noch öfter über den Weg laufen und bei einer dieser Gelegenheiten stellt sich heraus, dass beide am nächsten Tag das selbe Reiseziel haben. Um Scott eine langwierige Reise per Fähre und Taxi zu ersparen, bietet sie ihm an, im Privatjet ihres Mannes mitzufliegen.
Und dort ist er also, inmitten der brennenden Trümmer, und setzt Himmel und Erde in Bewegung um den vierjährigen JJ zu retten – Maggies Sohn – der den Absturz ebenfalls weitgehend unbeschadet überstanden hat. Scott ahnt nicht, dass damit erst die Probleme anfangen.
Denn es ist nicht irgendein vierjähriges Kind, welches der Maler da rettet, es ist der Sohn des Medienmoguls David Bateman. Und als Erbe des Batemanschen Medienimperiums ist dieser Kleine ganz plötzlich milliardenschwer. Und während Scott anfangs als Held gefeiert wird, tauchen im Laufe der Zeit, weil die Absturzursache nach wie vor unklar bleibt, immer mehr Fragen auf, insbesondere aus dem Fernsehsender, den Bateman betrieb. Warum stürzte die Maschine ab? Warum überhaupt war Borroughs an Bord? Was verbindet einen mittellosen Maler mit einer der reichsten Familien der Medienlandschaft? Hatte Scott vielleicht gar ein Verhältnis mit Batemans Frau? Oder hat er es auf Geld abgesehen und den Vierjährigen nur deshalb gerettet, weil er sich dessen plötzlichen Reichtums bewusst und nur auf seinen finanziellen Vorteil bedacht war? Und nicht zuletzt: Hat vor diesem Hintergrund vielleicht sogar Scott selbst das Flugzeug zum Absturz gebracht?
Dadurch, dass Batemans Imperium diese Fragen immer und immer wieder, insbesondere über seinen Fernsehsender – und dort über einen mit Bateman befreundeten Moderator, der keinerlei Probleme mit Fake News zu haben scheint und – meine Mutmaßung – Sarah Palin für eine kluge Frau hält – unter den Menschen verbreitet, sieht sich Scott bald einer Hetz- und Hasskampagne mit anschließender Hexenjagd ausgesetzt, die sein Leben größmöglich durcheinanderbringt und ihn an die Grenzen seiner Belastbarkeit treibt.
Noah Hawley unterbricht seine Darstellung der Geschehnisse immer wieder durch Rückblenden, in denen die Vorgeschichte der Passagiere an Bord des Flugzeugs näher beleuchtet wird. Auf diese Weise entwickelt sich für jede der beteiligten Personen ein einzelnes und im Laufe der Zeit für den Roman ein großes Gesamtbild. Die Absturzursache bleibt dabei bis kurz vor Schluss im Unklaren, was, zumindest für mich, eine Motivation war, immer und immer weiterlesen zu wollen. Über die letztendliche Auslösung kann man geteilter Meinung sein, mir entlockte sie ein „Och nöö!“, das tat dem Lesevergnügen aber keinen Abbruch.
Denn Hawley bietet noch weitere Motivation, sein Buch zügig zu lesen. So merkt man seinem Schreibstil an, dass er gewisse Erfahrung als Drehbuchschreiber besitzt. „Vor dem Fall“ hat tatsächlich das Potenzial, filmisch gut in Szene gesetzt zu werden. Vielleicht von Michael Moore, das würde passen. Was macht der eigentlich mittlerweile den ganzen Tag?
Auch Hawleys Figuren bieten wenig Anlass zur Kritik. Insbesondere der Protagonist Scott ist ihm gut gelungen, bietet eine gewisse Tiefe und gibt Anlass, mit ihm mitzuleiden und regelmäßig zu denken: „Ach, diese arme Sau!“ Bei den Nebenfiguren ist speziell der schmierige Fernsehmoderator Bill Cunningham zu erwähnen, der durch seine Art der tendenziösen Berichterstattung auffällt und der sich, meiner Meinung nach, unheimlich gut als Pressesprecher dieses US-Amerikaners mit dem toten, blonden Iltis auf dem Kopf machen würde, der sich fälschlicherweise für einen Politiker hält.
Mit „Vor dem Fall“ hat Noah Hawley ein Buch geschrieben, das unheimlich gut als Gesellschaftkritik funkioniert, andererseits wohl aber genau so gut als Drama. Oder Thriller. Oder …
Für mich ist Hawleys Buch eines der bisherigen Lesehighlights des Jahres 2018!
Wertung:
Handlung: 9,5 von 10 Punkten
Charaktere: 9 von 10 Punkten
Stil: 9 vom 10 Punkten
Atmosphäre: 10 von 10 Punkten
Gesamtwertung: 9,375 von 10 Punkten
Demnächst in diesem Blog: „Der Turm der Welt“ von Benjamin Monferat.