„Das Genie“ von Klaus Cäsar Zehrer – Frühkindliches Erziehungstrauma

Buch: „Das Genie“

Autor: Klaus Cäsar Zehrer

Verlag: Diogenes

Ausgabe: Gebunden, 645 Seiten

Der Autor: Klaus Cäsar Zehrer, geboren 1969 in Schwabach, ist promovierter Kulturwissenschaftler und lebt als freier Autor, Herausgeber und Übersetzer in Berlin. Er veröffentlichte u.a. zusammen mit Robert Gernhardt die Anthologie ›Hell und Schnell‹, das Standardwerk der deutschsprachigen komischen Lyrik. ›Das Genie‹ ist sein erster Roman. (Quelle: Diogenes)

Das Buch: Boston, 1910. Der elfjährige William James Sidis wird von der amerikanischen Presse als »Wunderjunge von Harvard« gefeiert. Sein Vater Boris, ein bekannter Psychologe mit dem brennenden Ehrgeiz, die Welt durch Bildung zu verbessern, triumphiert. Er hat William von Geburt an mit einem speziellen Lernprogramm trainiert. Durch Anwendung der Sidis-Methode könnten alle Kinder die gleichen Fähigkeiten entwickeln wie sein Sohn, behauptet er. Doch als William erwachsen wird, bricht er mit seinen Eltern und seiner Vergangenheit. Er weigert sich, seine Intelligenz einer Gesellschaft zur Ver­fügung zu stellen, die von Ausbeutung, Profitsucht und Militärgewalt beherrscht wird. Stattdessen versucht er, sein Leben nach eigenen Vorstel­lungen zu gestalten – mit aller Konsequenz.

Fazit: Ich habe lange überlegt, was ich denn an „Das Genie“ so kritisieren könnte, bis ich zu dem Schluss kam: Herzlich wenig! Denn – das darf ich vorwegnehmen – Klaus Cäsar Zehrer hat einen wunderbaren, beeindruckenden Debütroman geschrieben.

Der Autor beleuchtet die Lebensläufe des Psychologen Boris Sidis sowie seines Sohnes William James Sidis. Boris wandert 1886 aus der Ukraine in die USA aus, nachdem er bereits als 17-Jähriger festgenommen wurde, weil er ukrainischen Bauern und deren Angehörigen unerlaubt Schulunterricht erteilt und sich auch sonst für deren Bildung stark gemacht hat.

Unter diesen Eindrücken hat sich bei ihm ein grundliegendes Misstrauen gegenüber der Macht des Staates sowie eine Abneigung gegen Krieg im Speziellen und das Militär im Allgemeinen verankert. Gleichwohl verliert er diesbezüglich nicht den realistischen Blick auf die Welt. „Lachen besiegt gar nichts. Wäre das Lachen stärker als die Gewalt, dann würden sie keine Soldaten in den Krieg schicken, sondern Spaßmacher.“ (S. 78)

Dennoch fehlt dem jungen Hochbegabten das Verständnis für das Leben der „normalen“ Menschen. Mehr noch, er lehnt diese „normalen Leute“ sogar ab. „Wie angepasst sie sind (…) Sie machen immer nur das, was andere von ihnen verlangen. (…).“ (S 157) Nein, einer von diesen normalen Leuten soll sein Sohn nicht werden. Er soll es einmal besser haben als sein Vater. „Wir müssen darauf achten, dass er eine starke und selbständige Persönlichkeit wird, die sich niemals von anderen herumkommandieren lässt.“ (S. 157)

Sei vorsichtig mit Deinen Wünschen, sie könnten in Erfüllung gehen, kann man da nur sagen.

Aus dieser Motivation heraus beginnt Boris, seinen Sohn, bereits wenige Wochen nach dessen Geburt, ganz strukturiert zu fördern. Mit Erfolg, wie es scheint. Der Junge kann mittels Buchstabenbauklötzchen bereits im Alter von zwei Jahren schreiben, wenig später flüssig Texte aus der Zeitung lesen. Auch Fremdsprachen und Naturwissenschaften sind später kein Problem für ihn. Die „Sidis-Methode“, wie Boris seine Art der frühkindlichen Förderung nennt, scheint erfolgreich zu sein. Das Wunderkind wird berühmt – und mit ihm der stolze Vater.

Aber irgendwann wird es dem jungen William James Sidis zu bunt und er bricht mit seiner Familie und versucht, sein eigenes Leben zu leben. Nur eines hat William eben nie gelernt: Den Umgang mit den „normalen“ Menschen.

Und so stößt William mit seiner nüchternen Weltsicht auf vielerorts auf Ablehnung, wenn er beispielsweise sagt: „Ich habe nie verstanden, wozu Kunst gut sein soll. Ich weiß nicht, warum Leute die Mühe auf sich nehmen, ein Lied zu singen, anstatt den Text aufzusagen. Man könnte eine Menge Zeit sparen und außerdem die Worte leichter verstehen.“ (S. 352) Ich gebe zu, an der Stelle hat es mich ein bisschen geschüttelt…

Eine solche Geschichte, wie die, die Zehrer in „Das Genie“ erzählt, hängt stark von den Charakteren ab. Und zum Glück sind ihm – nicht nur – Sidis senior und Sidis junior glänzend gelungen. Immer wieder steht man als Leser teilweise kopfschüttelnd vor Vater oder Sohn, manchmal möchte man sie schütteln, ihnen helfen oder auch – ganz selten – mal gepflegt eine scheuern. Und manchmal, ganz unerwartet, nickt man mit dem Kopf, weil sie in ihrer nüchternen Weltsicht etwas sehr treffend formulieren.

Apropos „treffend formulieren“: Ich kann gar nicht genau beschreiben, woran es lag, aber Zehrers Stil entwickelte bei mir das, was ich mal ausnahmsweise als Sogwirkung beschreiben möchte – fast hätte ich sogar gesagt, dass ich das Buch „kaum aus der Hand legen konnte“, aber man sollte es mit Allgemeinplätzen nicht übertreiben. Jedenfalls habe ich bei „Das Genie“ ein selbst für mich schnelles Lesetempo an den Tag gelegt. An Zehrers Stil kann man mithin nichts kritisieren, er liest sich leicht und dennoch nicht anspruchslos und besticht durch hervorragend geschriebene Dialoge.

Darüber hinaus ist die Handlung „von überraschender Aktualität“, wie Benedict Wells sagt. Und das stimmt durchaus, denn diese Geschichte von Förderung und Überforderung lässt sich durchaus in moderne Zeiten übertragen, in denen Schüler und Innen immer häufiger Stresssymptome aufweisen, der Anteil an Abiturienten und Innen innerhalb eines Jahrgangs im Laufe der letzten 10 Jahre von 40 auf über 50 % gestiegen ist und 900 Millionen Euro jährlich in Nachhilfe investiert wird. Der Leistungsgedanke kann den Nachfolgegenerationen anscheinend nicht früh genug vermittelt werden…

Apropos genug: Genug der Lobhudelei! Denn schon in einem kitschigen Buch aus den 90ern stand – wenn ich mich recht entsinne – „Manche Dinge verlieren ihren Reiz, wenn man zu viel darüber redet“

Deshalb schließe ich jetzt mit der gutgemeinten Aufforderung, das Buch dringend zu lesen und mit meinem Lieblingszitat aus „Das Genie“: „Wenn gezielt versucht wird, den Charakter und Willen eines Menschen zu brechen, nur damit er die Erwartungen der Außenwelt erfüllt, wenn er systematisch verbogen werden soll zu einem Wesen, dass seinem innersten Selbst entfremdet ist, dann ist das Folter auf psychischer Ebene.“ (S. 455)

Wertung:

Handlung: 9,5 von 10 Punkten

Charaktere: 10 von 10 Punkten

Stil: 9,5 von 10 Punkten

Atmosphäre: 9,5 von 10 Punkten

Gesamtwertung: 9,625 von 10 Punkten

Demnächst in diesem Blog: Ausnahmsweise kann ich das nicht sagen, weil ich es selbst noch nicht weiß…

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„Niemandsland“ von Philip Dröge – Wenn zwei sich streiten,…

Buch: „Niemandsland“

Autor: Philip Dröge

Verlag: Piper

Ausgabe: Hardcover, 285 Seiten

Der Autor: Philip Dröge ist ein niederländischer Autor von historischen Büchern. Er schreibt für verschiedene Zeitungen und tritt regelmäßig im Radio und im Fernsehen auf in Diskussionsrunden zu geschichtlichen und geographischen Themen. Seine Bücher über den Vulkan Tambora und das Miniaturland Moresnet waren Bestseller in den Niederlanden. (Quelle: Piper)

Das Buch: Europa nach den Napoleonischen Kriegen. Vertreter aus allen möglichen europäischen Ländern treffen sich ihn Wien, um die Grenzen der europäischen Staaten nach der Niederlage Napoleons neu zu verhandeln. Dabei soll auch die Grenze zwischen den Niederlanden und Preußen eindeutig geklärt werden.

Nach Unterzeichnung der Schlussakte machen sich Landvermesser beider Staaten zusammen auf den Weg, um die verhandelte Grenze metergenau zu ziehen. Dabei stoßen sie auf Ungereimtheiten. So entspricht die in den Unterlagen festgehaltene Westgrenze Preußens in der Nähe von Aachen nicht der Ostgrenze der Niederlande, was dort eigentlich der Fall sein müsste. Auf diese Weise entsteht ein 3,4 Km² großes Stück Land, das nun offiziell weder zu Preußen noch zu den Niederlanden gehört.

Eigentlich wäre dieses Versehen wohl reicht leicht zu beseitigen. Allerdings befindet sich auf diesem kleinen Gebiet eine ertragreiche Zinkmine. Und auf diese wollen die Niederländer nicht verzichten, die Preußen hätten sie aber ebenfalls gerne.

Bis auf Weiteres wird eine Entscheidung über den Landstrich auf Eis gelegt, er bekommt eine gemeinsame Verwaltung und die Bezeichnung „Neutral-Moresnet“. Dieses Gebiet mit seinem ungeklärten Status sollte über 100 Jahre Bestand haben.

Fazit: Ich lese eigentlich relativ selten Sachbücher, musste in diesem Fall aber einfach eine Ausnahme machen, weil mich das skurrile Thema ansprach. Ich behaupte, durchaus geschichtlich interessiert zu sein, aber von Neutral-Moresnet hatte ich trotzdem noch nie etwas gehört. „Ein staatenloses Gebiet in der Nähe von Aachen, das über 100 Jahre Bestand gehabt haben soll?“, dachte ich. „Davon hätte ich doch gehört!“, dachte ich weiter. „Kann es so etwas geben?“

Ja, kann es, denn Philip Dröge beschränkt sich in seinem Buch ausschließlich auf historische Tatsachen, die nur in selten Fällen behutsam dramatisiert wurden, wenn es notwendig erschien. Dabei sind – soweit ich das beurteilen kann – die Hintergründe für „Niemandsland“ sehr gut recherchiert worden.

In einzelnen Anekdoten führt der Autor den Leser durch die etwa 100-jährige Geschichte des kleinen Landstrichs. Anhand dieser Anekdoten wird die Geschichte Neu-Moresnets erläutert aber auch auf die einzelnen Probleme eingegangen, die durch eine solche Staatenlosigkeit auftreten: Welches Zahlungsmittel hat man? Welche Steuern werden erhoben? Und nicht zuletzt, wie sieht es mit der Gesetzgebung aus? In letzter Frage hat man sich beispielsweise für die Einführung des „Code Napoleon“ aus dem Jahre 1815 entschieden. Dass diese Gesetzgebung unverändert über fast 100 Jahre angewendet wurde, führte im Laufe der Zeit zu weiteren Problemen.

Sachbüchern wird ja häufig nachgesagt, dass sie eher trocken seien. Hiervon bildet „Niemandsland“ eine wohltuende Ausnahme. Die Erzählweise anhand einzelner Begebenheiten in der Geschichte Neutral-Moresnets verleiht dem Buch etwas romanhaftes und trägt sehr zur Lesbarkeit bei. Auch das erzählerische Augenzwinkern, dass der Autor angesichts der Unfähigkeit oder des Unwillens zweier Staaten, einen unhaltbaren Zustand zu beenden, immer wieder einfließen lässt, gefällt sehr.

Wer an skurrilen Episoden der Weltgeschichte seine Freude hat oder allgemein historisch interessiert ist, der wird sich von „Niemandsland“ gut unterhalten fühlen.

Und nun bitte ich, mich zu entschuldigen, ich muss mal eben in die obere Etage, um dort vom Fenster aus die erneute Unabhängigkeit meines schönen Landkreises zu proklamieren, der immerhin in der Zeit von 1918 bis 1946 ein Freistaat war, jawohl! ;-)

Wertung

8,75 von 10 Punkten

Demnächst in diesem Blog: „Das Genie“ von Klaus Cäsar Zehrer.

„Ulldart – Die komplette Saga 1“ von Markus Heitz – Wie man Fantasy-Romane schreibt

Buch: „Ulldart – Die komplette Saga 1“

Autor: Markus Heitz

Verlag: Piper

Ausgabe: Taschenbuch, 1419 Seiten

Der Autor: Markus Heitz ist ein 1971 in Homburg/Saar geborener deutscher Schriftsteller. Nach seinem Abitur an einer katholischen Privatschule und dem anschließenden Wehrdienst, studierte Heitz Germanistik und Geschichte auf Magisterabschluss.

Nach seinem Studium war er als freier Journalist bei der Saarbrücker Zeitung tätig, bevor im Jahr 2002 sein erstes Buch „Die dunkle Zeit – Schatten über Ulldart 1“ erschien. Dafür erhielt Heitz den Deutschen Phantastik-Preis für das beste Romandebüt. Besagten Preis gewann er in verschiedensten Kategorien auch in den Jahren 2005 – 2007 sowie 2009 – 2012.

Seit seinem großen Erfolg mit seinem Buch „Die Zwerge“ ist Heitz ausschließlich als freier Autor tätig.

Das Buch: Auf dem Kontinent Ulldart liegt das Königreich Tarpol, das vom „Kabcar“ Grengor regiert wird. Dessen Sohn Lodrik soll einmal die Königswürde übernehmen. Schade nur, dass der Junge so gar nicht den Vorstellungen seines Vaters entspricht. Weder an den Staatsgeschäften, noch an körperlicher Ertüchtigung oder einer Ausbildung im Schwertkampf ist Lodrik sonderlich interessiert. Sein vorrangiger Fokus liegt fast ausschließlich auf der möglichst umfangreichen Nahrungsaufnahme.

Grengor braucht dringend eine Idee, wie er seinen Sohn doch noch zu einem würdigen Thronfolger machen kann. In dieser Situation kommt ihm sehr gelegen, dass der Mönch Caradz eine seiner wiederkehrenden Visionen hat, die seine Ordensbrüder so interpretieren, dass beim Tode Lodriks die längst vergessene „Dunkle Zeit“ wiederkehren soll.

Die Mönche informieren den Kabcar Grengor, der in der Vision wiederum die Lösung für seine Probleme liegt. Er entscheidet, dass Lodrik in der weit entfernten Provinz Granburg den Posten des Gouverneurs übernehmen soll. So ist der Junge einerseits fern vom intriganten Hofe und möglichen Attentätern, die die „Dunkle Zeit“ wieder anbrechen lassen wollen, andererseits muss sich Lodrik notgedrungen erstmals wirklich mit den Staatsgeschäften auseinandersetzen. An der Seite seines Leibwächters Waljakov und seines Beraters Stoiko macht sich Lodrik auf den Weg, nicht ahnend, welche Gefahren ihm in seinem neuen Amt drohen.

Fazit: Wer meine Rezensionen aufmerksam verfolgt, weiß es vielleicht bereits, anderen sei es an dieser Stelle nochmal gesagt: Ich habe ein eher gespaltenes Verhältnis zu Markus Heitz. So sehr ich auch seine Bücher aus dem Bereich der „klassischen“ Fantasy mag – „Ulldart“, „Die Zwerge“ und „Wédora“ beispielsweise – so sehr habe ich allerdings auch Schwierigkeiten mit vielen seiner anderen Bücher, die ich allgemein eher despektierlich als „Untoten-Gedöns“ zusammenfasse.

Umso begeisterter war ich, als ich nun sah, dass die ersten drei Bände von „Ulldart – Die dunkle Zeit“ in einem Einzelband erschienen sind. Dass ich da sofort zugriff, wird nicht verwundern. Und das, obwohl ich den Großteil der Reihe vor über 10 Jahren bereits schon mal gelesen habe. Menschen, die mit unserer schönen Sprache ähnlich pfleglich umgehen, wie Pete Doherty mit seiner Gesundheit, würden diesen Vorgang der erneuten Lektüre wohl einen „reread“ nennen, ich sehe allerdings davon ab.

Es soll ja Menschen geben, die behaupten, das Fantasy-Genre habe nie Klassiker hervorgebracht. Zumindest im Bereich der deutschsprachigen Fantasy ist „Ulldart“ allerdings ein solcher, wenigstens für die Heitzsche Fangemeinde. Heitz schrieb die Reihe noch vor seinem riesigen Erfolg mit „Die Zwerge“, sie ist sein Erstlingswerk. Ein wenig merkt man das den Büchern auch an. Stilistisch hat Heitz im Laufe der Zeit einen Schritt nach vorne gemacht. Das bedeutet aber nicht, dass „Ulldart“ schlecht geschrieben wäre. Es lässt sich erfreulich leicht lesen und ist damit auch für eine jüngere Leserschaft geeignet. Auch der, im Gegensatz zu seinen anderen Büchern, überschaubare Gewaltgrad trägt dazu bei. Die im Text manchmal auftauchenden Druckfehler verzeihe ich da ebenso gerne wie den im Buch immer wieder eingestreuten Humor, den ich allerdings nur selten als zündend und in manchen Fällen auch eher als albern bezeichnen würde. Eine Ausnahme bildet da die Szene, in der ein Hofnarr sich bei seinem König beschwert, dass man ihm während seiner Balljonglage eine Katze zugeworfen habe, um zu sehen, ob er in der Lage sei, diese zusätzlich zu den Bällen in der Luft zu halten. Ich habe eine blühende Fantasie, daher fand ich das durchaus komisch! Nicht? Na gut, man muss dabei gewesen sein…

Abseits des Stils habe ich an „Ulldart“ allerdings kaum etwas zu kritisieren. Heitz füllt seine Bücher, wie sich das für eine anständige Fantasy-Reihe gehört, mit einem großen Sammelsurium der unterschiedlichsten Figuren. Und trotzdem habe ich hinsichtlich der Personen immer den Überblick behalten und war nur ganz selten auf einen Blick in das Personenverzeichnis angewiesen. Heitz´ Charaktere weisen genug Eigenheiten auf, um sie jederzeit zuordnen zu können. Im Fantasy-Genre zeichnen sich die Charaktere ja häufig dadurch aus, dass sie erschreckend nichtssagend sind. Davon bietet „Ulldart“ glücklicherweise eine wohltuende Abwechslung. Lediglich der Antagonist könnte etwas detaillierter gezeichnet sein.

Inhaltlich bietet „Ulldart“ alles, was man sich von einer guten Fantasy-Reihe erwartet: Neid, Missgunst, Intrigen, Liebe, Verrat, Krieg und vieles mehr. Für Leser klassischer Fantasy-Romane ist der Kontinent Ulldart jederzeit eine literarische Reise wert. Schade, dass ich jetzt bis zum 01.03.2018 warten muss, bis Band 2 der Sammlerausgabe erscheint…

Wertung:

Handlung: 8,5 von 10 Punkten

Charaktere: 8,5 von 10 Punkten

Stil: 7,5 von 10 Punkten

Atmosphäre: 10 von 10 Punkten

Gesamtwertung: 8,625 von 10 Punkte

Demnächst in diesem Blog: Entweder „Das Genie“ von Klaus Cäsar Zehrer oder „Niemandsland“ von Philip Dröge.

„Das böse Buch“ von Kai Erik – Alles, nur nicht böse!

Buch: „Das böse Buch“

Autor: Kai Erik

Verlag: Lübbe

Ausgabe: Taschenbuch, 383 Seiten

Der Autor: Kai Erik ist ein 1982 im finnischen Esse geborener Schriftsteller, Comedian und Kolumnist. „Das böse Buch“ ist Eriks dritter Roman, mit dem er erstmals auch außerhalb seines Heimatlandes für Aufsehen sorgte.

Das Buch: Kann ein Buch böse sein? Oh ja! Leander Granlunds Gedichte haben bisher jedem Unglück gebracht, der mit ihnen in Berührung kam. Mickel Backman ist daher zu Tode erschrocken, als ihn ein Student in einer Vorlesung auf das ominöse Manuskript anspricht. Es ist offenbar aufgetaucht – und hat den Studenten in eine tiefe Depression gestürzt. Auch Mickel Backmans Leben gerät aus den Fugen, weil die Erinnerung an ein schlimmes Unglück zurückkehrt. Damals, als das Buch von ahnungslosen Menschen gelesen wurde…

(Quelle: Lübbe)

Fazit: Ich habe aus unerfindlichen Gründen eine Vorliebe für Bahnhofsbuchhandlungen. Wann immer sich die Möglichkeit ergibt und ich noch etwas Zeit bis zum Anschlusszug habe, stöbere ich ein wenig in einer solchen. Bei meinem letzten Besuch las ich mich ein bisschen durch die Titel der „Mord-und-Totschlag-Abteilung“, wo sich Bücher fanden wie „Der Tag an dem Du stirbst“, „Und morgen bist Du tot“, „Wenn er mich findet, bin ich tot“, „Die Stille vor dem Tod“ oder auch „Ich töte Dich“. Ich befand mich also offensichtlich im El Dorado des morbiden Literatur-Schwachsinns.

Und da fasste ich einen Entschluss, der da ungefähr lautete: „Ich kaufe jetzt unter diesen ganzen bescheuerten Titeln genau das Buch mit dem für mich bescheuertsten Titel von allen!“ Gesagt – getan, die Wahl fiel auf „Das böse Buch“. Ich war mir ziemlich sicher, hier einen erneuten Übersetzungslapsus seitens des Lübbe-Verlags vor mir zu haben, der dem Versuch geschuldet ist, das Buch für den deutschen Markt kompatibler zu machen, damit es sich besser in o.g. Titel einreiht. Allerdings heißt der Roman im Original „Onda boken“, was, wenn ich richtig liege, ziemlich genau das selbe bedeutet. Sei´s drum.

Zumindest der Klappentext las sich schon einmal gar nicht so schlecht und vermittelte mir den Eindruck, es mit einer Handlung zu tun zu haben, die an den Roman und die dazugehörige Verfilmung „The Ring“ erinnert. Leider täuschte dieser Eindruck auf ganzer Linie.

Dabei gelingt der Einstieg in das Buch sogar recht gut: Während einer Vorlesung an der Uni kommt das Gespräch auf das unveröffentlichte Werk des Schriftstellers Leander Granlund. Der Student Pasi Maars möchte über ihn seine Seminararbeit schreiben. Und nicht nur durch die übernervöse Reaktion des Dozenten Mickel Backman ist sofort die Neugier des Lesers geweckt: Was hat es mit Granlunds Werk und dem ominösen Manuskript auf sich?

Leider verlässt der Autor an dieser Stelle längerfristig diesen Handlungsstrang und beschäftigt sich mit allerlei anderen Dingen. Tatsächlich wird Granlunds Manuskript auf den ersten ungefähr 200 Seiten nur etwa dreimal erwähnt! Stattdessen berichtet Kai Erik in der Zwischenzeit detailliert über die privaten Probleme von Backman. Darüber hinaus begleitet der Leser in dieser Zeit den Studenten Pasi und seinen Kumpel Calle bei diversen Sauftouren und Drogenexzessen. Diese Vorgehensweise ist in erster Linie eines: hochgradig langweilig!

Erst nach etwa zwei Dritteln der Handlung konzentriert sich Kai Erik wieder auf das ursprüngliche Thema, die Handlung zieht deutlich an Tempo an, in Rückblenden werden dem Leser endlich Antworten auf Fragen gegeben, die dieser schon auf Seite 22 hatte. Letztlich führt er das Ganze auch zu einem zufriedenstellenden Ende. Aber bis zu diesem hat „Das böse Buch“ leider eine große Menge Potenzial verschenkt, denn bis zum Schluss wird nicht klar, was es denn nun sein will. Ein Horror-Thriller? Dafür fehlt zu viel. In erster Linie Spannung! Ein Roman über Depressionen und/oder Suizid? Dafür geht er nicht tief genug in die Thematik. Ja, selbst eine Art coming-of-age-Geschichte aus der Sicht des Studenten Calle könnte „Das böse Buch“ sein. Letztlich ist es von allem ein bisschen und nichts davon richtig.

Wenn die Geschichte wenigstens erinnerungswürdige Charaktere hätte. Aber auch da sieht es eher düster aus. Mickel Backman hat im Laufe seines Lebens so einiges durchgemacht und nie geschafft, ein paar Begebenheiten wirklich zu verarbeiten. Das klingt nach tragischem Schicksal, letztlich wirkt Backman aber wie ein rückgratloser Jammerlappen.

Pasi Maars könnte der spannendste Charakter des Buches sein, bleibt aber leider der blasseste. Klar wird, dass seine Beschäftigung mit Granlunds Werk sich nicht positiv auf seine Psyche auswirkt, aber welcher Mensch Pasi vorher war, ob er früher schon Erfahrungen mit Depressionen hatte – oder ob sie weniger im Gegenstand seiner Seminararbeit und mehr in seinem regelmäßigen Drogen- und Alkoholkonsum begründet liegen – all das bleibt im Dunkeln.

Der Student Calle ist unter den wenigen wichtigen Charakteren des Buches noch das größte Ärgernis. Er ist etwa 27 Jahre alt und studiert seit Jahren sinnlos durch die Gegend. Er hat kein Ziel und kann sich einfach nicht für eine Fachrichtung entscheiden. Als ihm aber aufgrund seiner fehlenden Leistungsnachweise – die wiederum ein Resultat seines mangelnden Engagements sind – die finanziellen Leistungen gestrichen werden, da setzt er sich nicht etwa hin und überlegt, in welche Richtung er sein Studium denn nun lenken könnte und wie er schnellstmöglich die geforderten Nachweise nachholen kann. Nein, Calle weist die Schuld an dieser Entwicklung von sich und schiebt sie den bösen Menschen zu, die ihm die Bezüge gestrichen haben: „Aber die Macht hatte ja schon immer gerne die Dinge bestimmt und reguliert, an denen sie selbst keinen Anteil hatte.“ (S. 91). Ach ja, und er beginnt, Bücher aus der Universitätsbibliothek zu stehlen und zu verkaufen! Weil das ja auch viel einfacher ist, als ein ernsthaftes Studium…

Dafür habe ich wenigstens recht wenig am Stil Eriks auszusetzen. Zuweilen rutscht die Sprache in einzelnen Sätzen aber ins Derbe bis Vulgäre ab. Damit hätte ich eigentlich keine Probleme, wenn es sich nahtlos in den restlichen Text einfügen würde. So aber wirkt es ein bisschen arg bemüht. Letztlich ist das aber noch das geringste Problem, das „Das böse Buch“ hat.

Wertung:

Handlung: 6 von 10 Punkten

Charaktere: 5 von 10 Punkten

Stil: 7,5 von 10 Punkten

Spannung: 6 von 10 Punkten

Gesamtwertung: 6,125 von 10 Punkten

Demnächst in diesem Blog: „Ulldart – Die komplette Saga 1“ von Markus Heitz.

 

Freitagsfragen #9

Hallo, liebe Leserinnen und Leser,

es ist schon wieder Freitag, was einerseits bedeutet, dass das Wochenende vor der Tür steht – welches ich angesichts der Wettervorhersage für die heimischen Breiten im Idealfall größtenteils lesend verbringen werde -, andererseits bedeutet der Freitag auch eine neue Runde Freitagsfragen im Brüllmausblog. Auf geht’s, die heutigen Fragen lauten:

1. Ein Fremder bittet Dich auf der Straße um einen Rat. Was tust Du?

2. Ein Dir lieber Freund bittet Dich um eine größere Summe Geld. Gibst Du sie ihm?

3. Du bist zu einem Talentwettbewerb eingeladen. Was führst Du vor?

4. Die Wahl der Qual: eine dicke Erkältung pünktlich zum Urlaub oder einen fetten Pickel auf der Stirn vor einem wichtigen Termin?

Antwort zu 1: Das kommt darauf an. Und zwar einerseits auf meine Tagesform, Wenn ich mir vorstelle, dass mich nach einer durchwachten Nacht an einem regnerischen Montagmorgen ein Wildfremder auf der Straße und der Suche nach Erleuchtung anspricht, dann könnte es sein, dass ich ihn bestenfalls ignoriere, im schlechtesten Fall aber eine Antwort entgegenzische, gegen die „Schleich Di“ noch freundlich ist, was sich ja ohnehin, wie ich kürzlich gelernt habe, ins Hochdeutsche etwa mit „Bitte entfernen Sie sich“ übersetzen lässt. ;-)

Nehmen wir aber mal an, ich hätte einen guten Tag. Auch dann lautete die Antwort: Das kommt darauf an. Und zwar darauf, um welche Art Rat es sich handelt. Ich bilde mir ein, dass ich die Menschen meines Umfeldes zwar durchaus an  meiner Meinung zu verschiedensten Themen teilhaben lasse, sofern ich diesbezüglich überhaupt eine habe, Ratschläge wiederum verteile ich dagegen relativ selten und nur auf Anfrage. Für mich gilt: Auch Ratschläge sind Schläge. Und selbst wenn man mich in einer Sache um Rat bittet, kommt es darauf an, ob ich mich mit der Materie auskenne.

Wenn der Fremde also einen Rat bezüglich seines Physikstudiums benötigen würde, müsste ich achselzuckend meine Kompetenzlosigkeit eingestehen. Sollte ich ihn aber in der Frage beraten, oder er sich „Episode VII“ oder „Rogue One“ ansehen sollte, würde ich längerfristig vor mich hin monologisieren.

Kurz: Situationsabhängig ist jede Reaktion meinerseits denkbar, von einem längeren Vortrag, der das Leben des Fremden nachhaltig und positiv verändern würde, bis hin zu: „Ich gebe Ihnen den guten Rat, ganz, ganz schnell zu verschwinden!“

Antwort zu 2: Das kommt darauf an. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich mal in den Besitz einer größeren Summe Geldes gelange, tendiert ohnehin gegen null, aber gehen wir einfach mal davon aus, ich hätte diese Summe und ein mir lieber Freund würde mich darum bitten.

Dann würde ich mein – irgendwie ja auch berechtigtes – Interesse daran äußern, wozu diese Summe denn verwendet werden soll. Sollte das Geld dafür gedacht sein, es in Las Vegas auf den Kopf zu hauen, hätte sich das Gespräch an dieser Stelle erledigt. Auch für den Einbau eines dieser dynamischen Blinker, die ich kürzlich vor allem an höherpreisigen Audis gesehen habe und die so ein bisschen an K.I.T.T. erinnern – die Älteren werden sich erinnern -, würde ich nur ungern aufkommen, so unfassbar cool ich die Dinger auch finde. :-)

Sollte die Summe aber schlicht für die Überbrückung einer momentanen Notsituation gedacht sein, dann würde ich sie dem besagten Freund natürlich geben.

Kurz: Die Einstellung „Bei Geld hört die Freundschaft auf“ ist mir ziemlich fremd.

Antwort zu 3: Das kommt darauf an. Nehmen wir mal an, ich hätte mir vor der Veranstaltung aufgrund eines gewissen Lampenfiebers ein wenig Mut angetrunken und wäre so etwa semi-hacke, dann würde ich vermutlich singen! Solange, bis der Laden leer ist. Also etwa 23 Sekunden. Ich würde es auch schneller schaffen, aber erfahrungsgemäß bilden sich immer Staus an den Ausgängen…

Nehmen wir aber mal an, ich hätte kein Lampenfieber und wäre daher nüchtern. Dann müsste ich tief in mich gehen und nachdenken. Denn ich bin vielleicht nicht talentfrei, beherrsche aber nur wenig, was des Vorführens wert wäre. Eine musikalische Darbietung vielleicht, da vokale Darbietungen ja schon nicht zu meinen Kernkompetenzen gehören!? Hmmm, ich habe zwar jahrelang Klavier gespielt, das allerdings bemerkenswert schlecht, wie die Besucher verschiedener „Vorspielabende“, die in den 80ern und 90ern an der Musikschule stattfanden, wahrscheinlich heute noch bestätigen würden. Weitere Instrumente beherrsche ich schon gar nicht, die musikalische Darbietung fällt also auch aus.

Ich hab´s! Ich würde wahrscheinlich eine Lesung durchführen. Je, genau, lesen kann ich! Das beweist alleine schon der dritte Platz damals im Vorlesewettbewerb der sechsten Klasse, der den Grundstein für allen später noch folgenden Ruhm und Reichtum gelegt hat! Den Wettbewerb gewonnen hat damals übrigens eine Schülerin, deren Mutter in der Jury saß… Ich hätte doch die Wahlbeobachter der OSZE einschalten sollen! Ja, der Stachel sitzt tief… ;-)

Kurz: Ich würde also eine Lesung des Werkes des weltberühmten noch lebenden Gegenwartslyrikers Lothar Frohwein durchführen. Meine Wahl fiele da in erster Linie auf den Vortag seines Gedichts „Melusine“, gefolgt von einigen Kapiteln aus seinem Trauerspiel „Goethe in Halberstadt“.

Antwort zu 4: Auch hier gilt: Das kommt darauf an. Beispielsweise auf die Art des Termins. Handelt es sich um ein Date mit der Frau meiner Träume? Dann nehme ich die Erkältung! Ist es ein beruflicher Termin, mit Menschen, die mir wurscht sind. Dann lieber den Pickel.

So, verehrte Leserschaft, das soll es gewesen sein. Ich wünsche allseits noch einen schönen Freitag und später dann einen guten Start in ein hoffentlich schönes, erholsames Wochenende.

Gehabt euch wohl!

„Der Sündenfall von Wilmslow“ von David Lagercrantz – Ungreifbarer Alan

Buch: „Der Sündenfall von Wilmslow“

Autor: David Lagercrantz

Verlag: Piper

Ausgabe: Taschenbuch, 464 Seiten

Der Autor: David Lagercrantz, geboren 1962, ist ein anerkannter schwedischer Autor und Journalist, der dokumentargeschichtliche Romane und Biografien über schwedische Erfinder und andere gesellschaftliche Größen verfasst hat, bevor er sich der Belletristik zugewandt hat. »Der Sündenfall von Wilmslow« wurde von der schwedischen Kritik überschwänglich aufgenommen. Deutschen Lesern ist Lagercrantz durch die Biografie „Ich bin Zlatan“ ein Begriff. Lagercrantz macht zurzeit als Autor des vierten Teils von Stieg Larssons „Millenium“-Serie Furore. (Quelle: Piper)

Das Buch: England, 1954, der kalte Krieg hält die Welt in seinem eisernen Griff – und im kleinen Städtchen Wilmslow wird ein Mann tot aufgefunden. Es ist der Mathematiker Alan Turing, neben seinem Bett liegt ein mit Zyankali versetzter Apfel, alles deutet auf Selbstmord hin. Hat Turing die Repressionen nicht mehr ertragen, unter denen er als Homosexueller zu leiden hatte? Oder hat sein Tod doch etwas mit seiner Arbeit für den Geheimdienst während des Zweiten Weltkriegs zu tun? Der junge Detective Sergeant Leonard Corell, selbst einst ein vielversprechender Mathematiker, hegt den Verdacht, dass höhere Mächte ihre Finger im Spiel haben. Gegen Widerstände beginnt er, die Teile eines Puzzles zusammenzusetzen, das vielleicht eines der am besten gehüteten Geheimnisse des Kriegs offenbart. (Quelle: Piper)

Fazit: Vor einigen Wochen ergab sich für mich die Gelegenheit, den Film „The Imitation Game“ im öffentlich-rechtlichen Fernsehen zu sehen. Ich bin nicht der Welt größter Kinogänger, weswegen ich in schöner Regelmäßigkeit Filme im Kino verpasse, die mich eigentlich interessiert hätten. Aus diesem und anderen Gründen: Ein Hoch auf das öffentlich-rechtliche Fernsehen! :-)

Da mir der Film und dessen Thema außerordentlich gut gefiel, war ich umso erfreuter, als mir in der Buchhandlung meines Vertrauens „Der Sündenfall von Wilmslow“ in die Hände fiel. So ganz wollte der Funke aber leider nicht überspringen.

Das Positive zuerst: Mit Detective Sergeant Leonard Corell ist Lagercrantz ein in jeder Hinsicht überzeugender Protagonist gelungen. Zwar wirkt auch er ähnlich frustriert und desillusioniert, wie so mancher Ermittler in skandinavischen Krimis, die ich häufig genau dafür kritisiere. Aber in Corells Fall hat seine Frustration Gründe. Und diese legt der Autor dem Leser auch detailiert dar. So hasst der Detective Sergeant seinen Job eigentlich abgrundtief, hatte er doch ursprünglich ganz andere Ambitionen. Ähnlich wie Turing selbst hatte Corell in seiner Jugendzeit ein großes Talent zur Mathematik. In diesem Bereich sah er auch seine Zukunft. Dann jedoch kam alles anders. Warum es anders kam, und welche Auswirkungen das auf die Zukunft des jungen Mannes hatte, das erklärt der Autor in Rückblicken auf Corells Kindheit und Jugend. Diese detaillierte Art der Darstellung wünschte ich mir öfter.

Daraus, dass sich Lagercrantz so viel mit seinem Protagonisten beschäftigt sowie aus der Ausgangssituation des Romans entsteht aber ein ganz anderes Problem. Der eigentliche Hauptdarsteller des Buches ist ja Alan Turing, nur ist dieser zu Beginn des Romans bereits tot. Der Versuch einer Charakterisierung des Wissenschaftlers erfolgt daher in Gesprächen zwischen Corell und einigen von Turings Weggefährten. Dabei gelingt aber eben nicht das, was beispielsweise Regisseur Morten Tyldum bzw. insbesondere Benedict Cumberbatch in „The Imitation Game“ gelingt, nämlich, mir das Gefühl zu vermitteln, was für eine Person Turing war – auch wenn Vergleiche zwischen Büchern und Filmen grundsätzlich hinken. In „Der Sündenfall von Wilmslow“ dagegen bleibt die eigentliche Hauptperson Alan Turing seltsam konturlos, irgendwie diffus. Besser wäre es meiner Meinung nach gewesen, den berühmten Mathematiker selbst auftreten zu lassen. Aber der ist ja nun, wir erinnern uns, bereits auf Seite eins tot. Lagercrantz hat sich zu diesem anderen Ansatz ganz bewusst entschieden, denn, wie er im Nachwort schreibt: „Ich fand bedauerlich wenig über sein Seelenleben. Im Unterschied zu so vielen Autoren hatte er seine Gefühle nicht in langen Briefen verströmt. Er blieb eine schwer zu greifende Gestalt (…) „ich benötigte einen Doktor Watson, der ihn von außen sah(…)“ (Seite 453).So verständlich dieser Ansatz auch ist: Auch durch den Einsatz seines Doktor Watson in Person von Detective Sergeant Corell, bleibt Turing für mich auch nach diesem Roman das, was er für Lagercrantz vorher schon war: „eine schwer zu greifende Gestalt“.

Auch inhaltlich überzeugt der Roman nicht vollständig. Der Autor hat hier das Problem, das man immer hat, wenn man Romane schreibt, die auf tatsächlichen Ereignissen beruhen: Wie erzeuge ich Spannung für die Leser, die sich mit der Materie bereits auskennen? Robert Harris zum Beispiel gelingt das in Büchern wie „Enigma“ oder ganz besonders „Intrige“ wirklich hervorragend. Selbst wenn einem die historischen Begebenheiten im Detail geläufig sind, ist Harris in der Lage, für ausreichend Spannung zu sorgen, um den Leser nicht zu langweilen. Lagercrantz gelingt das leider nicht. Auf Dauer ist es sogar irgendwann störend, wenn Corell versucht, Turings Rolle im Bletchley Park während des Zweiten Weltkriegs zu recherchieren. Seine Fortschritte macht er dabei mit der Geschwindigkeit einer Kontinentalplatte, was für den Leser ermüdender ist, als für den Protagonisten selbst.

Dass dieser Haupthandlungsstrang nicht zündet, ist umso ärgerlicher, als dass „Der Sündenfall von Wilmslow“ über ein, zwei wirklich überzeugende Nebenhandlungen verfügt. Zum Einen sei da nochmal die oben erwähnte Lebensgeschichte des Ermittlers genannt, zum Anderen das Thema des Umgangs mit Homosexualität in den 50ern, die zu dieser Zeit noch strafbar war und „therapiert“ werden musste. So hat man im Fall Turing „gnädigerweise“ von einer Gefängnisstrafe abgesehen, wenn er sich einer Hormontherapie unterzieht. Die Folgen daraus: Turing wächst der Ansatz einer weiblichen Brust, mögliche weitere Folgen sind seine schweren Depressionen, die möglicherweise zum Selbstmord geführt haben. Zur Homosexualität hat Corell eine Einstellung, die kaum von der seiner Zeitgenossen abweicht. Dass sich seine diesbezügliche Haltung im Verlauf der Handlung ein wenig ändert, wird zwar erklärt, allerdings ein wenig zu plakativ, da hätte ich mir seitens des Autors weniger klischeehafte Ideen gewünscht. Insgesamt weiß aber auch dieser Handlungsstrang leider mehr zu überzeugen als die eigentliche Haupthandlung.

Auch in stilistischer Hinsicht wurde ich mit dem Roman nicht warm. „Sperrig“ und „spröde“ sind zwei Begriffe, die den Stil des Buches über weite Strecken gut beschreiben würden.

Abschließend kann ich also für mich festhalten, dass ich auf weitere Bücher des Schriftstellers verzichten werde. Wer sich aber mit dem Gedanken trägt, einmal etwas von ihm zu lesen und wer vielleicht noch dazu die Millenium-Trilogie von Stieg Larsson kennt, dem sei gesagt, dass die Taschenbuchausgabe seines Romans „Verschwörung“ am 14.08.2017 erscheint.

Wertung:

Handlung: 6,5 von 10 Punkten

Charaktere: 8 von 10 Punkten

Stil: 7 von 10 Punkten

Spannung: 6 von 10 Punkten

Gesamtwertung: 6,875 von 10 Punkten

Demnächst in diesem Blog: „Das böse Buch“ von Kai Erik. Ich habe mich beim Buchkauf für das Buch mit dem dümmsten verfügbaren Titel entschieden.

Bis es soweit ist, werde ich mich erstmal damit beschäftigen, meinen Schreibtisch zu desinfizieren, abzuschleifen und mit Leinöl zu imprägnieren. Ich war nämlich eben gezwungen, ein Waldeidechsenweibchen einzufangen, dass es sich zwischen Monitor, Schreibtischlampe und externer Festplatte gemütlich gemacht hatte! Als ich seiner ansichtig wurde, reagierte ich mit der mir innewohnenden Souveränität: Ich rief laut „Wuäääh“ und rollte mit dem Schreibtischstuhl reflexartig etwa 478 Meter nach hinten. Kurz hatte ich die Hoffnung, dass sich jemand einen Spaß mit mir erlaubt hätte, und mir so ein Scherzartikel-Gummi-Gecko-Ding dorthin gelegt hat. Bei näherer Betrachtung des possierlichen Tierchens schlug dieses jedoch die Augen auf. Scherzartikel tun so etwas nicht. Nun, wie auch immer, jetzt ist das Tierchen wieder in Freiheit und ich habe das dringende Bedürfnis, mich abzukärchern! Die geneigte Leserschaft erkennt: Eidechsen, eigentlich Reptilien im Allgemeinen, sind nicht so meins! :-)