Buch: „Sein blutiges Projekt – Der Fall Roderick Macrae“
Autor: Graeme Macrae Burnet
Verlag: btb
Ausgabe: Taschenbuch, 352 Seiten
Der Autor: Graeme Macrae Burnet, geboren 1967 in Kilmarnock, Schottland, studierte Englische Literatur in Glasgow. Er schreibt seit seiner Jugend und wurde 2013 mit dem Scottish Book Trust New Writer’s Award ausgezeichnet. Mit seinem einzigartigen historisch-literarischen Krimi »Sein blutiges Projekt« schaffte er 2016 den Sprung auf die Shortlist des renommierten Man Booker Preis und gehört seitdem zu den außergewöhnlichsten Stimmen der internationalen Krimiszene. Er lebt und schreibt in Glasgow. Seine Bücher wurden bislang in über zwanzig Sprachen übersetzt. (Quelle: Random House)
Das Buch: August 1869: Ein verschlafenes Bauerndorf an der Westküste Schottlands wird von einem brutalen Dreifachmord erschüttert. Der Täter ist rasch gefunden. Doch was trieb den 17-jährigen Roderick Macrae, Sohn eines armen Landwirts, dazu, drei Menschen auf bestialische Weise zu erschlagen? Während Roddy im Gefängnis auf seinen Prozess wartet, stellen die scharfsinnigsten Ärzte und Ermittler des Landes Nachforschungen an, um seine Beweggründe aufzudecken. Ist der eigenbrötlerische Bauernjunge geisteskrank? Roddys Schicksal hängt nun einzig und allein von den Überzeugungskünsten seines Rechtsbeistandes ab, der in einem spektakulären Prozess alles daransetzt, Roderick vor dem Galgen zu bewahren. (Quelle: Random House)
Fazit: Roderick Macrae wächst als Sohn eines Crofters – eines Landwirts, der ein gepachtetes Stück Land bewirtschaftet – auf. Seine Mutter verstarb bei der Geburt der jüngsten Zwillingsgeschwister, seine Schwester hängt dem Aberglauben an und scheint mit der Geisterwelt im Bunde, von seinem Vater wird er regelmäßig wegen kleinster Verfehlungen geprügelt und obwohl er, wie unter anderem seine schulischen Leistungen zeigen, von bemerkenswerter Intelligenz und Auffassungsgabe ist, scheint ihm eine Zukunft in seinem kleinen Geburtsort Culduie vorgezeichnet.
Es ist also alles nicht so ganz einfach für den jungen Roderick. Die wirklichen Probleme beginnen für ihn und seine Familie aber erst, als Lachlan Mackenzie, genannt Lachlan Broad, als Verwalter, als verlängerter Arm des Gutsherren, gewählt wird. Ein eher ungeliebtes Amt, weil man sich als Dorfbewohner in die Zwickmühle zwischen den Interessen der anderen Dorfbewohnern einerseits und den Interessen des Gutsherren andererseits begibt, ein Amt, das Mackenzie allerdings mit aller Inbrunst ausübt. Und ein Amt, das er nutzt, um Roderick und seine Familie zu schikanieren und bis zum Verlust ihrer Existenzgrundlage zu treiben …
Burnets Roman ist in mehr als nur einer Hinsicht bemerkenswert. Da wäre zum einen der Aufbau. Der Autor vermittelt den Anschein, als handele es sich bei „Sein blutiges Projekt“ um einen Tatsachenroman. So besteht ein Großteil des Buches aus einem schriftlich niedergelegten Bericht, den Roderick Macrae auf Anraten seines Anwalts in der Zeit nach seiner Verhaftung und vor seinem Prozess in der Zelle geschrieben hat. Ergänzt wird dieser Text beispielsweise um dokumentierte Zeugenaussagen, den Bericht eines Gefängnismediziners, der den Geisteszustand von Roderick beurteilen soll, Obduktionsberichten und so weiter.
Und fast wäre es Burnet gelungen, mich vollständig aufs Glatteis zu führen. Fast. Wenn man sich nämlich länger mit den Hintergründen beschäftigt, stellt man fest: Nichts davon hat in dieser Form stattgefunden, „Sein blutiges Projekt“ stellt also eher so etwas wie einen fiktiven Dokumentarroman, quasi das „Blair Witch Project“ der Literatur dar. Zwar gab und gibt es den Ort Culduie in Schottland und einige der im Buch genannten Nachnamen sind auch dort, oder zumindest in der Gegend, verortet, und ja, auch zwei bis drei der erwähnten Personen sind historische Persönlichkeiten, in erster Linie der Gutsherr sowie der vor Gericht aussagende Gefängnismediziner, aber sonst ist Burnets Buch vollständig fiktiv.
Vielmehr wurde der Autor vom Fall Pierre Rivière inspiriert. Rivière ermordete im Jahr 1835 mit einer Sichel seine Mutter und zwei seiner Geschwister, weil seine Mutter den getrennt lebenden Vater „schikaniert“ und „gedemütigt“ habe, wie die Süddeutsche Zeitung darüber schreibt. Im Gefängnis setzt er sich hin und schreibt ein sogenanntes „Mémoire“ über die Tat und die Hintergründe. Über diesen Fall hat der Philosoph Michel Foucault ein Buch verfasst, auch ein Film entstand.
Als weitere Inspiration diente der Fall Angus MacPhee, der 1857 seine Eltern und seine Tante tötete, worauf hier jetzt aber der Einfachheit halber nicht eingegangen werden soll.
Neben dem gelungenen Aufbau ist „Sein blutiges Projekt“ auch sprachlich ein reines Vergnügen. Insbesondere der von Roderick verfasste Bericht sticht hier besonders heraus. Zwar mag man anmerken, dass sich der junge Mann in seinen Schilderungen schon außergewöhnlich elaboriert ausdrückt, für mich persönlich ist das aber keinesfalls ein Stilbruch, sondern es wird einerseits schlüssig begründet und verdeutlicht darüber hinaus, dass jemand, der im 19. Jahrhundert zur Landbevölkerung gehörte, deswegen nicht unbedingt gleichzeitig doof sein musste. Auch die anderen enthalteten Texte weisen eine ausreichende sprachliche Eigenständigkeit auf, um als von unterschiedlichen Personen verfasst durchzugehen.
Wer angesichts der Tatsache, dass es sich bei Burnets Roman um einen Kriminalroman handelt, auf Ermittlungen, eine spannende Täterhatz und atemlose actionreiche Spannung hofft, der dürfte enttäuscht werden. Eigentlich ist von Beginn an klar, dass Roderick die Morde begangen hat und er bestreitet das auch nie. Die Spannung bezieht der Roman einerseits aus der Frage, wie es zu der Tat kam und andererseits daraus, wie es denn nun im Prozess weitergeht.
Abseits der eigentlichen Handlung wirft der Autor im Subtext weitere Fragen auf, die für mich persönlich den eigentlichen Reiz des Buches ausmachten. So beispielsweise die Frage, was Schuld eigentlich bedeutet. Ob jemand wirklich schuldig ist, wenn er sich gegen jahrelange Schikane endlich zur Wehr setzt. Dem Umstand, dass Gewalt früher oder später unweigerlich Gegenwalt gegen dieVerursacher der Gewalt zur Folge haben muss – auch wenn Friedrich Merz seine Gegengewalt wahrscheinlich gegen jene richten würde, die unter dieser Gewalt gelitten haben … Und ob das dann eigentlich wirklich verwerflich ist, wenn man letztlich ebenfalls Gewalt anwendet.
Antworten auf diese Fragen liefert der Autor naturgemäß nicht. Die muss jeder natürlich für sich selbst beantworten. Und dafür wiederum müsste man erst mal diesen Roman gelesen haben. Und dazu kann ich letztlich eigentlich nur raten.
Ich danke dem btb Verlag und dem Bloggerportal für die freundliche Übersendung eines Rezensionsexemplars. Die Tatsache, dass es sich um ein Rezensionsexemplar handelt, beeinflusst meine Meinung selbstredend nicht.
Wertung:
Handlung: 9 von 10 Punkten
Charaktere: 7,5 von 10 Punkten
Stil: 9,5 von 10 Punkten
Spannung: 8 von 10 Punkten
Gesamtwertung: 8,5 von 10 Punkten
Demnächst in diesem Blog: Mal schauen … Vielleicht „Ruhet in Friedberg“ von Rudolf Ruschel. Oder „Feindesland“ von C. J. Sansom. Oder etwas ganz anderes. Mal schauen …