„Ein anderer Takt“ von William Melvin Kelley

Buch: „Ein anderer Takt“

Autor: William Melvin Kelley

Verlag: Hoffmann und Campe

Ausgabe: Taschenbuch, 300 Seiten

Der Autor: William Melvin Kelley wurde 1937 in New York geboren. Mit vierundzwanzig Jahren veröffentlichte er seinen bis heute gefeierten Debütroman A Different Drummer. Nach mehrjährigen Aufenthalten in Paris und auf Jamaika kehrte er mit seiner Familie 1977 nach New York zurück und unterrichtete am Sarah Lawrence College Kreatives Schreiben. Für seine Romane, Kurzgeschichten, Essays und Filme wurde Kelley vielfach ausgezeichnet. Er starb 2017 in Harlem. (Quelle: Hoffmann und Campe)

Das Buch: Die kleine Stadt Sutton im Nirgendwo der Südstaaten. An einem Nachmittag im Juni 1957 streut der schwarze Farmer Tucker Caliban Salz auf seine Felder, tötet sein Vieh, brennt sein Haus nieder und zieht nach Norden. Ihm folgt die gesamte schwarze Bevölkerung. Fassungslos verfolgen die zurpckgebliebenen Weißen den Auszug. Es scheint nur eine frage der Zeit zu sein, bis sich ihre Wut und ihre Hilflosigkeit entladen. (Quelle: Klappentext)

Fazit: Ich finde es immer wieder faszinierend, wenn das Werk eines weitgehend in Vergessenheit geratenen Autors wiederentdeckt und der aktuellen Lesergeneration zugänglich gemacht wird. Als aktuell bekanntestes Beispiel kann hier wohl John Williams genannt werden. Und ähnlich verhält es sich auch mit William Melvin Kelley, dessen bereits in den 60ern erstmals erschienener Roman „Ein anderer Takt“ einen vergleichsweise großen Erfolg vorweisen konnte. Aus unterschiedlichen Gründen, zu denen wohl auch gezählt werden kann, dass Kelleys nachfolgende Romane inhaltlich und stilistisch wesentlich weniger zugänglich gewesen sein sollen, blieb aber danach eben dieser Erfolg aus und Kelley geriet in Vergessenheit.

Und ähnlich wie bei John Williams ist das auch im Fall Kelley überaus schade, denn bei „Ein anderer Takt“ handelt es sich um ein Buch, das eine möglichst große Leserschaft verdient hat.

In diesem Roman befinden wir uns in den 50ern in dem fiktiven Städtchen Sutton in einem fiktiven Teil eines fiktiven Bundesstaates ganz im Süden der USA. Ohne jegliche Vorankündigung versalzt der schwarze Farmer Tucker Caliban seine Felder, erschießt seine Tiere, zerstört seinen gesamten Besitz und verlässt die Stadt mit unbekanntem Ziel. Calibans Tat stellt eine Art Initialzündung für die schwarze Bevölkerung Suttons nach, denn in kürzester Zeit folgen alle schwarzen Bewohner Calibans Beispiel und verlassen Sutton ebenfalls. Die ratlose weiße Bevölkerung wird vom Gouverneur beruhigt: „Es gibt keinen Grund zur Sorge. Wir haben sie nie gewollt, wir haben sie nie gebraucht, und wir werden sehr gut ohne sie zurechtkommen, der Süden wird sehr gut ohne sie zurechtkommen. Auch wenn unsere Bevölkerungszahl um ein Drittel verringert ist, werden wir prima zurechtkommen. Es sind noch immer genug gute Männer da.“ (S. 12) Pfeifen im Walde und rassistischer Standpunkt gleichzeitig …

Kelley erzählt seine Geschichte durch unterschiedlichste Figuren. Der Clou dabei ist, dass diesen Figuren allen gemein ist, dass sie ausnahmslos weiß sind. Einerseits gelingt es ihm so, die Sichtweisen der weißen Bevölkerung gegenüber der schwarzen klarzumachen und deren Einstellung, die bestenfalls zwischen offen rassistisch und gönnerhaft liberal liegt, zu verdeutlichen. Andererseits wird bereits durch die Wahl der Erzählweise klar, dass die Schwarzen im übertragenen Sinne keine Stimme, dass sie nichts zu sagen haben. Ein durchaus kluger, erzählerischer Schachzug.

Hinsichtlich des Stils kann man darüber hinaus wohl nicht umhin, darauf hinzuweisen, dass Kelley in seinem Roman einen offenen Umgang, will sagen: eine häufige Verwendung aller möglichen N-Wörter pflegt. Mir erschien das vor dem Hintergrund des Settings und Zeitraums absolut angemessen, aber andere Leserinnen und Leser mögen damit vielleicht ein Problem haben, weswegen es hier angemerkt wird.

Ein weiteres herauszuhebendes stilistisches Merkmal ist, dass es Kelley sehr gut gelingt, die Stimmung, die in der weißen Bevölkerung herrscht, zu transportieren. Denn hier brodelt es unter dem Kessel. Unabhängig davon, was der Gouverneur nun sagt oder nicht, sind die Weißen in Sutton verunsichert, vielleicht auch ein bisschen verängstigt, was ihre eigene Zukunft angeht. Und aus Unsicherheit und Angst entstehen oft Aggression und Gewalt. Bezeichnend ist, dass niemandem in der weißen Bevölkerung der Einfall kommt, sich mal näher mit den Ursachen dieses Exodus zu beschäftigen oder gar einmal die Frage aufzuwerfen, ob man den Schwarzen Zugeständnisse welcher Art auch immer machen könnte, um sie so zum Bleiben zu bewegen.

Eben das sind wohl auch die Dinge, die Kelley mit seinem Roman anprangern wollte. Dass der schwarzen Bevölkerung Amerikas keine Stimme gegeben wird, keine Chance bzw. kein Angebot für eine wirkliche allgemeingesellschaftliche Teilhabe. Dass die Weißen nicht bereit sind, auch nur einen Millimeter von ihren vorgegebenen Denkmustern und ihren Privilegien abzurücken. Aber auch, dass die Weißen mit ihrem verächtlichen Umgang mit den Schwarzen offensichtlich Erfolg haben, denn er kritisiert eben auch, dass die Schwarzen die ihnen zugebilligte Rolle wohl klaglos akzeptieren, sich allerhöchstens in Interessengruppen zusammenfinden, aber nicht für sich selbst höchstpersönlich einstehen und ihr Schicksal, anders als Tucker Caliban, nicht in die eigene Hand nehmen.

Und ja, natürlich erinnert das schon deutlich an heutige Zustände in den USA. Während in Kelleys Szenario die Schwarzen die Stadt verlassen, während irgendwelche rassistischen Rednecks auf der Veranda eines Gemischtwarenladens herumstehen und der Situation mit Unverständnis begegnen, demonstriert heute die BLM-Bewegung in den Straßen, während vereinzelte weiße Menschen diesem Umstand mit Unverständnis begegnen, sich augenscheinlich vernachlässigt fühlen und bar jeder Empathie irgendwas davon blubbern, dass es ja eigentlich „All Lives Matter“ heißen müsste, weil mimimi, da sie augenscheinlich schwer damit zurechtkommen, dass es hier auch nur ein einziges Mal nicht explizit um sie geht.

Offensichtlich hat sich wohl in den letzten gut 60 Jahren doch nicht so fürchterlich viel verändert. Auch und gerade deshalb wünsche ich diesem Buch eben eine möglichst große Leserschaft und empfehle es mit allem mir zur Verfügung stehenden Nachdruck. Unbedingt lesen!

Ich danke den Damen und Herren bei Hoffmann und Campe für die freundliche Übersendung des Rezensionsexemplars. Die Tatsache, dass es sich um ein Rezensionsexemplar handelt, beeinflusst meine Meinung selbstredend nicht.

 

Demnächst in diesem Blog: Das weiß ich noch nicht so genau …

 

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„In zwangloser Gesellschaft“ von Leonhard Hieronymi

Buch: „In zwangloser Gesellschaft“

Autor: Leonhard Hieronymi

Verlag: Hoffmann und Campe

Ausgabe: Hardcover, 237 Seiten

Der Autor: Leonhard Hieronymi wurde 1987 in Bad Homburg geboren, studierte Philosophie, Informatik und Europäische Literatur in Berlin, Mainz und Wien und ist Gründungsmitglied des Literaturkollektivs Rich Kids of Literature sowie der Kairo-Gesellschaft. Er schreibt unter anderem für SZ, Zeit, Das Wetter und Metamorphosen. 2017 erschien sein umstrittenes Manifest Ultraromantik. Die darin abgedruckte Kurzgeschichte „Formalin“ gilt als „die beste deutschsprachige Kurzgeschichte des Jahres“ (SZ). In zwangloser Gesellschaft ist sein Debüt als Romanautor. Hieronymi lebt in Hamburg. (Quelle: Hoffmann und Campe)

Das Buch: Nach einem Lachanfall in den Katakomben von Rom, der doch irgendeinen Grund gehabt haben muss, macht sich ein junger Mann auf den Weg: Durch Ohlsdorf, Constanţa, Wien und Prag, entlang der Grabsteine Europas größter und kleinster Literaten beginnt er eine Spurensuche – nach den unheimlich Verschwundenen und den Unsterblichen. Häufiger als erhofft stößt er dabei auf knutschende Paare, Bonbonpapier, Champagnerflaschen und dann doch keine Mentholzigaretten; trifft Orgelsachverständige, Totengräber und Hermann Hesses Enkel, und es braucht neben Durchhaltevermögen nicht zuletzt Rotwein, eine Arminius-Schreckschusspistole und eine frisierte Vespa, bis er erstaunt zu dem Schluss kommt: Verschwinden ist Luxus. — Ein wildes, phänomenales Debüt, das uns berauscht, beglückt und amüsiert und ganz nebenbei ein völlig neues Licht auf das Europa unserer Tage wirft. (Quelle: Hoffmann und Campe)

Fazit: „In zwangloser Gesellschaft“ war so etwas wie ein Zufallsfund beim Stöbern durch die Neuerscheinungen in der Verlagswelt. Und ich gebe zu: Eigentlich hatte mich der Autor schon nach der Lektüre einiger vereinzelter Textausschnitte, weil so schöne Sätze wie „Wir saßen im Auto meines Bruders und hörten das zweite Album der neuseeländischen Band Die! Die! Die!, was ich während der Fahrt zu einem Friedhof als etwas Unangenehmes empfand, aber man bekam die CD nicht mehr aus dem Schlitz der Anlage heraus.“ („S.17) oder auch nur herrliche Satzanfänge wie „Als Ende April 1945 das letzte Telegramm aus Tokio mit den Worten „Viel Glück für Euch Alle“ Berlin erreichte (…)“ S. 73 genau meinen Humor treffen.

Und auch mit Humor, genau genommen mit einem Lachkrampf, fängt für Leonhard Hieronymis Protagonisten alles an. Jeder hat wohl schon mal zu den unpassendsten Gelegenheiten lachen müssen, den Protagonisten ereilt dieses Schicksal ausgerechnet in den Katakomben Roms, unweit einer Menge verstorbener Päpste. Ausgehend von der Frage, „(…) ob nicht die Angst vorm Sterben und Verschwinden dieses Lachen ausgelöst hatte“, macht sich der Protagonist auf, die Gräber allerlei bekannter und unbekannter Autorinnen und Autoren zu besuchen, die ihrerseits in Vergessenheit geraten, also gleichsam verschwunden, sind oder aber Gefahr laufen, alsbald ein solches Schicksal zu erleiden. Ein entferntes Ziel der Reise soll schließlich der Besuch des Grabes von Ovid bzw. Seneca sein.

In der Folge bringt einem der Autor nicht nur diverse Friedhöfe nahe und überrascht mit der Tatsache, dass es offensichtlich tatsächlich Portale mit Sterne-Bewertungen für Friedhöfe gibt, sondern widmet sich eben auch und ganz besonders den dort untergekommenen Literaten und Literatinnen. So geht es über Robert Gernhardt, der mir persönlich unlängst wieder in Form seiner „Deutung eines allegorischen Gedichts“ begegnete, über Roger Willemsen bis hin zu Karl-Herbert Scheer, liebevoll „Kanonen-Herbert“ oder auch „Handgranaten-Herbert“ genannt, den Schöpfer der Perry-Rhodan-Reihe, die es mittlerweile auf schlanke 3.084 Hefte gebracht hat.

Man erfährt so nebenbei vieles über die genannten und unzählige weitere Personen, während der Weg des Protagonisten von Deutschland über Rumänien bis hin nach Italien führt. Und man merkt charmanterweise auch, wo die literarischen Sympathien der Hauptfigur, wer immer das sein mag, liegen. So scheint der passionierte Friedhofsbesucher einerseits ein glühender Anhänger von Anna Seghers, andererseits Hellmuth Karasek gegenüber jedoch nicht so wohlgesinnt zu sein. Warum auch immer …

Nun mag man sich die Frage stellen, was das Ganze denn nun soll!? Ist „In zwangloser Gesellschaft“ ein Roman über eine Sinnsuche? Einer Suche nach etwas, womit man die ureigenste Angst vor dem Tod ausblenden oder wenigstens langfristig sedieren kann? Oder ist es in erster Linie eine Liebeserklärung an die Literatur und eine Erinnerung daran, dass eben diese Literatur von sehr viel mehr Menschen und Werken ausgemacht wurde und wird, als von ewig gleichen Personen in den Bestsellerlisten? Oder eine Liebeserklärung an das Europa von heute? Oder gar eine Warnung vor der Eintwicklung in Europa, auch und gerade im Hinblick auf die sich immer weiter verschärfende Klimasituation, die der Autor mehrfach anspricht? Vielleicht aber auch eine subtile Kritik am Tourismus, der heutzutage vor wirklich keinem Ort der Welt mehr haltmacht, und in dem Menschen, die man gerade für viel Geld aus Gründen des Seuchenschutzes wieder in die Heimat geflogen hat, schon wieder darüber nachdenken, wann und wohin sie im Sommer, im Herbst, über Weihnachten und Neujahr hinfliegen können? Oder ist das Ganze am Ende nichts weiter als ein unendlicher Spaß, um es mal mit den Worten von David Foster Wallace zu sagen?

Nun habe ich die oben genannten Fragen für mich zu meiner Zufriedenheit beantworten können, aber jeder Jeck ist ja anders, deswegen kann ich wärmstens empfehlen, sich mit Hieronymis Buch selbst auseinanderzusetzen und sich seine eigenen Antworten zu geben.

Für mich ist „In zwangloser Gesellschaft“ ein ausgesprochen gelungener und kurzweiliger Debütroman, wer sich nach meinen Einlassungen aber immer noch nicht sicher ist, ob das Buch etwas für sie oder ihn ist – das soll ja manchmal vorkommen – kann sich Hieronymis Lesung eines Teils des Textes beim diesjährigen Ingeborg-Bachmann-Preis hier ansehen.

Ich danke dem Verlag Hoffmann und Campe für die freundliche Übersendung des Rezensionsexemplars. Die Tatsache, dass es sich um ein Rezensionsexemplar handelt, beeinflusst meine Meinung selbstredend nicht.

 

Demnächst in diesem Blog: „Ein anderer Takt“ von William Melvin Kelley.

„Wer auf dich wartet“ von Gytha Lodge

Buch: „Wer auf dich wartet“

Autorin: Gytha Lodge

Verlag: Hoffmann und Campe

Ausgabe: Taschenbuch

Die Autorin: Gytha Lodge ist eine britische Schriftstellerin und mehrfach ausgezeichnete Theaterautorin. Sie studierte Englische Literatur in Cambridge und Kreatives Schreiben an der University of East Anglia. Ihr Krimidebüt Bis ihr sie findet war international ein großer Erfolg und stand in Deutschland viele Wochen auf der Spiegel-Bestsellerliste. (Quelle: Hoffmann und Campe)

Das Buch:  Abends, kurz vor elf. Aidan loggt sich ein, um mit seiner Freundin Zoe zu skypen. Doch als die Verbindung steht, sieht er nur ihr leeres Zimmer. Dann einen Schatten. Ist Zoe etwa nicht allein? Hilflos muss Aidan mitanhören, wie im Hintergrund gekämpft wird. Bis schließlich Stille herrscht… Als DCI Jonah Sheens und sein Team von der Kriminalpolizei Southampton Stunden später Zoes Wohnung betreten, finden sie die Leiche der jungen Frau. Was hat Aidan dazu gebracht, so lange zu zögern, bis er die Polizei gerufen hat? Und warum kannte er die Adresse seiner Freundin nicht? Niemand aus Zoes großem Freundeskreis weiß etwas Schlechtes zu sagen über die hilfsbereite junge Künstlerin. Tatsächlich scheinen sehr viele Menschen auf Zoes Unterstützung angewiesen gewesen zu sein. Schon bald stoßen die Ermittler auf ein Geflecht aus Abhängigkeiten, dunklen Geheimnissen und Missgunst. Verdächtige gibt es genug – doch wessen Motiv ist mörderisch genug? (Quelle: Hoffmann und Campe)

Fazit: Durch eine Rezension der zauberhaftesten aller Bloggerkolleginnen wurde ich seinerzeit auf Gytha Lodges Debütroman „Bis ihr sie findet“ aufmerksam, welcher mich nachhaltig beeindruckt hat. Nur umso verständlicher ist es wohl, dass ich den zweiten Fall rund um Ermittler DCI Jonah Sheens nicht ungelesen an mir vorbeigehen lassen konnte. Und das war eine wirklich kluge Entscheidung.

Denn eben jene Zoe, ja, eigentlich das gesamte Charakterensemble sowie dessen Konstellation zueinander, und ihre Entwicklung machen einen Großteil dessen aus, was diesen Krimi so lesenswert macht. Sinngemäß heißt es auf dem Buchrücken, Gytha Lodge würde ihre Figuren im Buch platzieren wie die Spielfiguren auf einem Schachbrett. Und ich finde diesen Vergleich sehr treffend. Stück für Stück lässt sie – um im Bild zu bleiben – ihre Figuren ihre Züge machen, wodurch immer wieder eine neue Spielsituation entsteht. Bezogen auf den Roman hat man also – zumindest mir ging das so – immer wieder neue Verdächtige und neue Vermutungen. Ich war beispielsweise irgendwann so ab Mitte des Buches absolut felsenfest davon überzeugt, dass ich bereits im Prolog auf einen unwiderlegbaren Hinweis zur Täterschaft gestoßen bin und ich rückte, egal wie viele Gegenbeweise es gab, bis zum Ende des Buches auch nicht mehr von meiner Vermutung zur Täterschaft ab, nur um dann mit dieser Vermutung eine krachende Bauchlandung hinzulegen. Täter raten kann ich halt einfach nicht … Die Auflösung selbst empfand ich als, sagen wir mal erzählerisch hinterhältig, aber nachvollziehbar.
Aber nicht nur die Interaktion der Charaktere – die übrigens, das sei hier nur kurz erwähnt, wie schon im Reihenauftakt netterweise im Buchumschlag nochmal kaurz aufgeführt sind – überzeugt vollständig, auch die Charaktere selbst sind nachvollziehbar dargestellt, wenn sie auch alle ein bisschen „obendrüber“, ein bisschen überzeichnet sind. Allen voran sei hier Zoe genannt, die innerhalb ihres Freundeskreises eine Mischung zwischen der Schweiz und Mutter Teresa zu sein scheint, die also niemandem zu nahe treten will, immer möchte, dass alle zu ihrem Recht kommen und die bis zur persönlichen Selbstaufgabe hilfsbereit erscheint. Erfahrungsgemäß ist es mittelfristig um das Nervenkostüm solcher Menschen nicht gut bestellt … Und auch wenn sowohl das Mordopfer als auch die Verdächtigen für mich zu den besseren Charakteren des Buches gehören, vernachlässigt die Autorin auch ihr Ermittlerteam nicht, das die Leserschaft ja nun mutmaßlich über mehrere Teile begleiten soll.
Im stilistischen Bereich lässt sich abseits des eigentlichen Aufbaus des Buches ebenfalls nicht viel kritisieren, deswegen kann ich mich in dieser Hinsicht recht kurz fassen. Lodge ist nach wie vor in der Lage, auf beeindruckende Weise Stimmungen zu erzeugen und erzählt insbesondere hinsichtlich der Dialoge vergleichsweise lebensnah.
Zusammenfassend kann man sagen, dass Lodges zweites Buch allen passionierten Krimileserinnen und -lesern gefallen dürfte, die gerne vergleichsweise unblutige Krimis mit spannender Figurenkonstellation lesen. Und ausnahmsweise lehne ich mich mal weit aus dem Fenster, indem ich behaupte: Allen Leserinnen und Lesern, denen bereits „Bis ihr sie findet“ gefallen hat, werden mit hundertpozentiger Sicherheit auch an „Wer auf dich wartet“ ihre Freude haben.
Demnächst in diesem Blog: „In zwangloser Gesellschaft“ von Leonhard Hieronymi.

„Das Verschwinden des Dr. Mühe“ von Oliver Hilmes

Buch: „Das Verschwinden des Dr. Mühe“

Autor: Oliver Hilmes

Verlag: Penguin

Ausgabe: Hardcover

Der Autor: Oliver Hilmes, 1971 geboren, wurde in Zeitgeschichte promoviert und arbeitet als Kurator für die Stiftung Berliner Philharmoniker. Seine Bücher über widersprüchliche und faszinierende Frauen „Witwe im Wahn. Das Leben der Alma Mahler-Werfel“ (2004) und „Herrin des Hügels. Das Leben der Cosima Wagner“ (2007) wurden zu großen Verkaufserfolgen. Zuletzt erschienen „Liszt. Biographie eines Superstars” (2011), „Ludwig II. Der unzeitgemäße König” (2013) und „Berlin 1936. Sechzehn Tage im August“ (2016), das in viele Sprachen übersetzt und zum gefeierten Bestseller wurde. (Quelle: Random House)

Das Buch: Ein angesehener Arzt verschwindet über Nacht. Sein Sportwagen wird verlassen am Ufer eines Sees bei Berlin gefunden. Die Mordkommission ermittelt und stößt hinter der sorgsam gepflegten Fassade des ehrenwerten Doktors auf die Spuren eines kriminellen Doppellebens, das von Berlin nach Barcelona führt. Oliver Hilmes hat die Akten dieses aufsehenerregenden Kriminalfalls aus der Spätzeit der Weimarer Republik im Berliner Landesarchiv entdeckt. Auf der Basis dieser Dokumente und angereichert mit fiktionalen Elementen, setzt er das mysteriöse Puzzle zusammen. Auf packende Weise und höchst raffiniert erzählt er von der Suche nach Wahrheit und von den Abgründen der bürgerlichen Existenz am Vorabend der Diktatur. (Quelle: Random House)

Fazit: Ich bin ja – ich erwähnte und wiederholte das gelegentlich – bekennender True-Crime-Fan. Und als solcher ist es mir naturgemäß nicht möglich, Bücher wie „Das Verschwinden des Dr. Mühe“ ungelesen an mir vorbeiziehen lassen. Und das hat sich durchaus gelohnt, nicht nur als True-Crime-Fan. Dabei ist Hilmes‘ Buch im Grunde nichts anderes als das Resultat eines Zufallsfundes im Berliner Landesarchiv, in dem sich der Autor zwecks Recherche zu einem ganz anderen Buch befand.

In seinem Krimi geht es um den namensgebenden Dr. Mühe aus Berlin, der sich spätabends aufmacht, angeblich um einen Hausbesuch bei einem Patienten zu machen. Nur kehrt der Dr. von diesem Besuch nie zurück. Lediglich sein Auto wird am Ufer eines Sees gefunden, verschwindet später aber ebenso vollständig wie sein Besitzer. Um die Verwirrung um das Auto komplett zu machen, wird eine Plakette, die unzweifelhaft von Dr. Mühes Wagen stammt, später recht weit von Berlin entfernt halb verscharrt in einem Acker gefunden. Und damit nicht genug: Nicht nur Dr. Mühe und dessen Auto sind verschwunden, am nächsten Tag ist auch das Konto des Mediziners leer geräumt.

Grund genug, nunmehr den Polizisten Ernst Keller mit den Ermittlungen zu betrauen, der an der Seite seines Assistenten eine Reihe von Vernehmungen durchführt. In jedem Kapitel wendet sich Keller dabei einer anderen wichtigen Person zu und passenderweise sind die Kapitel dann auch mit dem Namen der im entsprechenden Kapitel die Hauptrolle spielenden Person, sowie mit dem Datum und der Uhrzeit überschrieben.

Sehr bald fallen Keller dabei zwei Dinge auf. Erstens widersprechen sich die Aussagen einiger Zeugen, insbesondere die von Dr. Mühes Frau, ihres Dienstmädchens sowie der Untermieterin des Ehepaar Mühe teils deutlich. Und zweitens scheint sich hinter der Fassade der augenscheinlich glücklichen Ehe des Mühes ein ganz anderes Bild darzustellen. Das eines Arztes, der aus zweifelhaften bis illegalen Tätigkeiten Geld beziehen könnte, in erster Linie um das anscheinend rein auf größtmöglichen Luxus ausgerichtete Leben der Ehefrau zu finanzieren.

Die Ermittlungen Kellers lesen sich spannend, immer wieder tauchen Wendungen auf, mit denen man – sonst wären es auch keine Wendungen – so nicht gerechnet hat oder die die Geschehnisse in einem anderen Licht erscheinen und einen anderen Zusammenhang der Ereignisse vermuten lassen. Ich fühlte mich hier ein wenig an „Das Buch der Spiegel“ von E. O. Chirovici erinnert, in dem man sich ebenfalls mit vielen inhaltlich teils deutlich unterschiedlichen Zeugenaussagen konfrontiert sieht und ebenso wie im Hilmes‘ Roman gezwungen ist, sich seine eigenen Gedanken zu machen und seine eigenen Schlüsse zu ziehen.

Abseits der eigentlichen Ermittlungen bzw. der Krimihandlung bemüht sich der Autor, ein möglichst lebendiges Bild vom Berlin der 30er-Jahre des letzten Jahrhunderts zu entwerfen. So werden natürlich die politischen Ereignisse dieser Zeit erwähnt, aber auch damalige Zeitungsmeldungen oder Zahlen aus dem Statistischen Reichsamt. Das zeugt von umfassenden Recherchearbeiten des Autors und ich weiß den Aufwand auch zu schätzen, nur fügen diese Stellen, die mutmaßlich doch dazu dienen sollen, den Handlungsrahmen möglichst lebendig zu gestalten, sich – insbesondere im ersten Drittel des Romans – nur wenig organisch in den restlichen Text ein. Für mich wirkten die entsprechenden Stellen leider eher so, als habe der Autor von Zeit zu Zeit zur Liste mit seinen Rechercheergebnissen gegriffen, um dann Punkt für Punkt in den Text einzufügen und abzuhaken. Aus meiner Sicht lesen sich diese Passagen daher eher wie ein Geschichtsbuch und weniger wie ein Roman.

Im Grunde ist das aber auch schon der einzige Kritikpunkt, und dieser verliert aufgrund der Tatsache, dass derartige Einschübe mit zunehmender Dauer des Romans weniger werden, im späteren Verlauf immer mehr an Bedeutung.

Dessen ungeachtet ist „Das Verschwinden des Dr. Mühe“ eine überzeugend erzählte Cold-Case-Geschichte, an der Liebhaber des „Roman Noir“-Genres ebenso ihre Freude haben dürften, wie passionierte Krimileser, die endlich mal wieder eine unblutige Geschichte aus ihrem Lieblingsgenre lesen wollen.

Ich danke dem Penguin Verlag für die freundliche Übersendung des Rezensionsexemplars. Die Tatsache, dass es sich hier um ein Rezensionsexemplar handelt, beeinflusst meine Meinung selbstredend nicht.

Demnächst in diesem Blog: „Wer auf dich wartet“ von Gytha Lodge.

„Agathe“ von Anne Cathrine Bomann

Buch: „Agathe“

Autorin: Anne Cathrine Bomann

Verlag: btb

Ausgabe: Taschenbuch, 156 Seiten

Die Autorin: Anne Cathrine Bomann, geboren 1983, arbeitet als Psychologin. Sie lebt in Kopenhagen mit ihrem Freund, einem Philosophen, und dem Hund Camus. Eine Saison lang spielte sie Tischtennis in Fontenay-sous-Bois, einem Vorort von Paris. Dort lebte sie in der 9, Rue des Rosettes, genau wie die Hauptfigur aus »Agathe«. (Quelle: Random House)

Das Buch: Ein alternder Psychiater zählt die Tage bis zu seinem Ruhestand. Bald wird er die Türen seiner Praxis für immer hinter sich schließen. Doch eine letzte Patientin lässt sich nicht abwimmeln. Und die Gespräche mit Agathe verändern alles für ihn. Ist es jemals zu spät, um Nähe zuzulassen? (Quelle: Random House)

Fazit: Zugegeben, bei „Agathe“ handelt es sich jetzt nicht um die im Rahmen meiner letzten Rezension in Aussicht gestellte „abgedrehte Science-Fiction“. Vermutlich könnte sogar kaum ein Buch weiter davon entfernt liegen als „Agathe“. Aber ich habe kurzerhand beschlossen, erst über die mir zur Verfügung gestellten schon gelesenen (und noch ungelesenen) Rezensionsexemplare zu schreiben. Die Science-Fiction läuft dann schon nicht weg. Das nur zur Vorrede, wenden wir uns nun Anne Cathrine Bormanns Roman zu.

In dessen Handlung befinden wir uns im Frankreich der 30er-Jahre des letzten Jahrhunderts. Protagonist des Buches ist ein auf die Pensionierung zusteuernder Psychiater. Dieser hat anscheinend aber schon vor geraumer Zeit die Lust an seiner Tätigkeit verloren, nimmt seine Patienten – in manchen Fällen auch vollkommen zu recht – nicht im Geringsten mehr ernst, sehnt sich daher seinen Ruhestand herbei und zählt die Tage, Patienten, Sitzungen, die ihm bis dahin noch bevorstehen. „Die Zeit lief durch mich hindurch wie Wasser durch einen rostigen Filter, den niemand Lust hat zu wechseln“, sagt er denn auch auf Seite 18.

Andererseits bringt ihn der anstehende Ruhestand in ein nicht unbedeutendes Dilemma, denn so richtig weiß der Protagonist gar nicht, was er zukünftig mit seiner Zeit anfangen soll. Im Wesentlichen verbringt er seine spärliche Freizeit bislang allein zu Hause, da er keine Familie hat und auch so etwas wie ein Freundeskreis scheint nicht zu existieren. Und dort hört er dann gerne klassische Musik, denn „abgesehen von einem unkultivierten Interesse an klassischer Musik, lag mir wenig mehr am Herzen als guter Tee und der Anspruch, meine Arbeit ordentlich zu erledigen.“ (S. 68)

In dieser Situation tritt die titelgebende Agathe auf den Plan. Sie möchte eine Therapie bei ihm beginnen, er lehnt aber mit Hinweis auf seinen baldigen Ruhestand und die überschaubare Anzahl bis dahin möglicher Termine ab. Aber Agathe ist anders als seine anderen Patienten. Sie ist, laienhaft und uneuphemistisch ausgedrückt, ein schwerwiegender Fall, hat Aufenthalte in geschlossenen, pychiatrischen Einrichtungen hinter sich und neigt dazu, sich physisch selbst zu verletzen. Und vor allem lässt sie sich nicht abwimmeln. Schließlich gibt der Psychiater nach.

In der Folge entspannt sich ein feines Zusammenspiel zwischen den beiden Charakteren, das dazu führt, dass der Protagonist seinen bisherigen Lebenswandel zu überdenken beginnt und das daher schon sehr bald die Frage aufwirft, wer hier eigentlich wen therapiert.

Und sehr viel mehr lässt sich über den schmalen Band auch nicht sagen, ohne zu viel zu verraten oder selbst die Wortzahl des Buches zu überschreiten.

„Agathe“ ist eines jener Bücher, die sich gut an einem regnerischen Nachmittag lesen lassen – was ich weiß, weil ich genau das getan habe – und die einen mit einem durchaus wohligen, angenehmen Gefühl zurücklassen. Bomanns Roman ist Wohlfühlliteratur im besseren Sinne, streift den Kitsch hier und da nur hauchzart und wer beispielsweise Bücher von Paulo Coehlo mag, der wird auch hier vermutlich auf seine Kosten kommen.

Und das ist alles, was ich darüber sagen kann. :-)

Demnächst in diesem Blog: „Das Verschwinden des Dr. Mühe“ von Oliver Hilmes.

„Insel“ von Ragnar Jónasson

Buch: „Insel“

Autor: Ragnar Jónasson

Verlag: btb

Ausgabe: Taschenbuch, 371 Seiten

Der Autor: Ragnar Jónasson, 1976 in Reykjavík geboren, ist Mitglied der britischen Crime Writers‘ Association und Mitbegründer des »Iceland Noir«, dem Reykjavík International Crime Writing Festival.
Seine Bücher werden in 21 Sprachen in über 30 Ländern veröffentlicht und von Zeitungen wie der New York Times und Washington Post gefeiert.
Ragnar Jónasson lebt und arbeitet als Schriftsteller und Investmentbanker in der isländischen Hauptstadt. An der Universität Reykjavík lehrt er außerdem Rechtswissenschaften. Die preisgekrönte Hulda-Trilogie erscheint bei btb erstmals auf Deutsch. (Quelle: Random House)

Das Buch: Hulda Hermannsdóttir, Kommissarin bei der Polizei Reykjavík, ist auf dem Höhepunkt ihrer Karriere und wird zu einer abgelegenen Insel geschickt. Was ist dort in dem Haus geschehen, das von der Bevölkerung als das isolierteste Haus Islands bezeichnet wird? Huldas Ermittlungen kreuzen Vergangenheit und Gegenwart – und plötzlich ist sie einem Mörder auf der Spur, der möglicherweise nicht nur ein Leben auf dem Gewissen hat … (Quelle: Random House)

Fazit: Ich finde es irgendwie immer ein bisschen undankbar, über „Mittelteile“ von Trilogien zu schreiben. Meistens können sie das Niveau des ersten Teils nichts ganz halten, dienen als Infodump oder als Lückenfüller und notwendiger Übergang, bevor im abschließenden Teil alles auf einen dramatischen Showdown hinausläuft. Ich finde es insbesondere dann undankbar, wenn man, wie im vorliegenden Fall, den ersten Teil der Reihe eher im Bereich von „Okay“ einordnet und die trotzige Lektüre von Teil 2 primär auf dem Prinzip Hoffnung beruht. Weil man vielleicht ein Potenzial sieht, das zum Beginn der Reihe noch nicht ausgeschöpft scheint. Weil man vielleicht vieles zu kritisieren hatte, aber grundsätzlich auch viel Positives gefunden hat. Oder weil man vielleicht auch grundsätzlich ein hoffnugsvoller Mensch ist.

Umso positiver überrascht wurde ich daher, dass mir „Insel“, trotz aller meiner Vorbehalte, deutlich besser gefiel, als der Reihenauftakt „Dunkel“. Auch wenn trotzdem aus meiner Sicht in allen Bereichen immer noch Luft für Verbesserungen ist.

Beginnen wir einmal mit Jónassons Charakteren. Im ersten Teil habe ich noch bemängelt, dass der Fokus, den der Autor so deutlich auf seine Hauptfigur richtet, mir persönlich ein bisschen zu viel des Guten ist, weil andere tragende Elemente des Buches meines Erachtens darunter litten. Auch wenn eine intensive Auseinandersetzung mit der eigenen Hauptfigur natürlich erst mal nicht Schlechtes ist und außerdem mittlerweile innerhalb des Genres schon eher eine Ausnahme bildet. Hierzu muss konstatiert werden, dass Jónasson einen eindeutigen Schritt nach vorne macht. Einerseits steht seine Figur auch in „Insel“ noch deutlich im Fokus, andererseits war das erwartbar, stört weit weniger, hat auf die eigentliche Krimihandlung meiner Meinung nach quasi keinen nachteiligen Einfluss und es gelingt ihm sogar, noch hilfreiche Zusatz- und Hintergrundinformationen zu seiner Protagonistin auszugraben. Dass ich besagte Protagonistin bereits seit Beginn des ersten Teils, aus seinerzeit genannten Gründen, die nicht erneut hier durchgekaut werden müssen, leider nicht mag, tut hier überhaupt nichts zur Sache. Im Bezug auf die Ermittlerfigur ist also eine positive Entwicklung zu verzeichnen, auch wenn ich finde, dass sich gerade hier die zeitlich rückwärts gerichtete Erzählweise rächt und es sinniger gewesen wäre, Huldas Lebensgeschichte chronologisch zu erzählen, denn dann hätte ich unter Umständen vielleicht mehr Verständnis und Empathie für sie entwickelt. Wobei – nein, hätte ich nicht, sinniger wäre es aber trotzdem gewesen.

Eine positive Entwicklung ist auch im Bereich der weiteren Charaktere zu verzeichnen. Waren die mir im ersten Teil noch recht gleichgültig, so wurde ich mit den vier Leuten auf der einsamen namensgebenden „Insel“ schon besser warm. Die Dynamik zwischen den Figuren funktioniert, die Stimmung wird angemessen rüber gebracht. Auch wenn ich zugeben muss, dass mir Autorinnen und Autoren einfallen würden, die beides noch besser umsetzen können, aber sei es drum. Die Richtung stimmt also auch hier.

Gleiches gilt für den Kriminalfall an sich. Das mag sicherlich daran liegen, dass ich jegliche Art von „Whodunit“-Szenarien liebe und deswegen voreingenommen bin, aber im Gegensatz zum ersten Teil wird hier ein tatsächlich spannender Fall präsentiert, einer der auch zum Mitraten einlädt und einer, bei dem man sogar mit ein bisschen Glück auf die richtige Lösung kommen könnte, eben weil sich Jónasson offensichtlich nicht genötigt sah, die Täterschaft als vermeintlich spannende Wendung dem Milchmann, der auf Seite 179 rechts oben eine kurze Sprechrolle hat, in die Schuhe zu schieben. Ein rein fiktives Szenario, hier gibt es keinen Milchmann, mir geht es ums Prinzip.

Lediglich hinsichtlich der Erzählweise bzw. des Stils werden der Autor und ich wohl weiterhin keine Freunde mehr. Schon hinsichtlich des ersten Teils beschrieb ich das als „eine seltsam nüchterne, reduzierte und schnörkellose Erzählweise“, an der sich auch in der Fortsetzung nicht Wesentliches geändert hat, ohne das jetzt an Beispielen verdeutlichen oder mit dem Finger auf etwas zeigen zu können, was mich stört.

Insgesamt werte ich „Insel“ aber als deutlichen Schritt nach vorne. Wer sich mit den Krimis des isländischen Autors auseinandersetzen möchte, dem rate ich trotzdem, erst mal mit „Dunkel“ anzufangen, denn ohne die Kenntnisse zur Hauptfigur, die man aus dem Trilogie-Start entnehmen kann, würde die Fortsetzung wohl nicht so wirklich funktionieren.

Ich danke dem Bloggerportal und dem btb Verlag für die freundliche Übersendung des Rezensionsexemplars. Dass es sich um ein Rezensionsexemplar handelt, beeinflusst meine Meinung selbstredend nicht.

Demnächst in diesem Blog: „Mutation“ von Ivan Ertlov. Abgedrehte Science-Fiction. Warum auch nicht!?

„Die Pest“ von Albert Camus

Buch: „Die Pest“

Autor: Albert Camus

Verlag: Rowohlt

Ausgabe: Taschenbuch, 350 Seiten

Der Autor: Albert Camus wurde am 7. November 1913 in ärmlichen Verhältnissen als Sohn einer Spanierin und eines Elsässers in Mondovi, Algerien, geboren. Von 1933 bis 1936 studierte er an der Universität Algier Philosophie. 1934 trat er der Kommunistischen Partei Algeriens bei und gründete im Jahr darauf das «Theater der Arbeit». 1937 brach er mit der KP. 1938 entstand sein erstes Drama «Caligula», das 1945 uraufgeführt wurde. Camus zog 1940 nach Paris. Neben seinen Dramen begründeten der Roman «Der Fremde» und der Essay «Der Mythos von Sisyphos» sein literarisches Ansehen.

1957 erhielt Albert Camus den Nobelpreis für Literatur. Am 4. Januar 1960 starb er bei einem Autounfall. Das Gesamtwerk von Albert Camus liegt im Rowohlt Verlag vor. (Quelle: Rowohlt)

Das Buch: Die Stadt Oran wird von rätselhaften Ereignissen heimgesucht. Die Ratten kommen aus den Kanälen und verenden auf den Straßen. Kurze Zeit später sterben die ersten Menschen an einem heimtückischen Fieber: Die Pest wütet in der Stadt. Oran wird hermetisch abgeriegelt. Ein Entkommen ist nicht möglich. Albert Camus’ erfolgreichster Roman gehört zu den Klassikern der Weltliteratur. In ihm seziert er hellsichtig das menschliche Handeln im Angesicht einer Katastrophe. (Quelle: Rowohlt)

Fazit: Um Albert Camus‘ „Die Pest“ mitten während eines Pandemiegeschehens zu lesen, muss man vermutlich entweder Zyniker sein oder aber einen eher schrägen Humor besitzen. Auf den Verfasser dieser Zeilen trifft zwar beides mehr oder weniger zu, relevant ist aber weder das eine noch das andere. Denn dass ich dieses Buch gelesen habe, lag in erster Linie daran, dass ich unlängst von einer ganz zauberhaften Person anlassbedingt und auf eigenen Wunsch hin mit einer erhöhten Anzahl an Büchern aus der Rubrik „Klassiker“ beschenkt worden bin. Und so zierte nun ganz plötzlich neben beispielsweise Shakespeare, Dickens und Dostojewski auch Camus mein Bücherregal. An dieser Stelle nochmals herzlichen Dank dafür.

Der Einstieg in das Buch gelingt vergleichsweise einfach, der Autor nimmt sich ein paar kurze Seiten, um dem Leser seinen Handlungsrahmen, die Stadt Oran, näher zu bringen. Dort hinein platziert er dann seinen Protagonisten, den Arzt Rieux und stellt ihm in der Folge eine Handvoll Mitstreiter an die Seite, bei der ich mich der Einfachheit halber auf die für mich wichtigeren beschränke. Schon sehr bald wird Rieux mit der Tatsache konfrontiert, dass auf offener Straße die ersten Ratten verenden. Dieser Umstand lässt sich früher oder später auch nicht mehr wirklich ignorieren, denn die Ursache für den Tod der Ratten greift nun auch auf den Menschen über und es gibt schnell die ersten Todesopfer. In der Folge wird die gesamte Stadt Oran abgeriegelt, niemand kommt mehr hinein oder heraus. Und mittendrin befinden sich Doktor Rieux und seine Freunde, um so gut als irgend möglich zu helfen oder aber wenigstens zu überleben.

Faszinierend dabei ist, wie sich die Ereignisse in Camus´ Buch mit denen decken, die man im aktuellen Pandemiegeschehen so betrachten muss. Menschen lehnen sich gegen die Abriegelung der Stadt auf, es gibt Demonstrationen, Tumulte und Krawalle, die Bewohner suchen verzweifelt Schuldige, während die Klügeren eher lösungsorientiert denken und auch die sonstigen Auswirkungen auf die Menschen kommen mir bekannt vor, etwa wenn der Autor schreibt „Nichts ist nämlich weniger aufsehenerregend als eine Seuche und schon durch ihre Dauer sind große Unglücke eintönig. In der Erinnerung jener, die sie miterlebt haben, scheinen die schrecklichen Tage der Pest nicht als grandiose und grausame hohe Flamme, sondern eher als ein endloser Leerlauf, der alles zermalmte.“ (S.204).  Lediglich den verstärkten Zustrom hin zur Religion, den nehme ich in der Realität nicht wahr, was wohl heimischen Zeiten und Sitten geschuldet ist, anderswo aber vielleicht auch tatsächlich so stattfindet oder stattfinden würde.

Der Autor schrieb seinen Roman aber natürlich nicht nur dazu, seine Handlung zu präsentieren, sondern nutzt verschiedene Stellen auch, insbesondere über seine Charaktere, um der Leserschaft ein besseres Bild über ihn und wie er die Welt sah zu vermitteln. Beispielsweise wenn er, noch recht früh im Roman, über die modernen hektischen Zeit und die anscheinend immer beliebter werdende sinnentleerte Jagd nach dem schnöden Mammon schreibt: „Unsere Mitbürger arbeiten viel, aber immer nur, um reich zu werden. (…) „heute ist ja nichts normaler als Leute von morgens bis abends arbeiten gehen zu sehen. (…) Aber es gibt Städte und Länder, wo die Leute hin und wieder eine Ahnung von etwas anderem haben. Im Allgemeinen ändert das ihr Leben nicht. Doch die Ahnung war da, und das ist immerhin etwas.“ (S. 8/9) Ich mag diese Stelle sehr. :-)

Auch über seine Figuren gelingt ihm die Verbreitung seiner Weltsicht recht gut. So lässt sein Protagonist keine Gelegenheit aus, um seine Abscheu gegenüber der Religion und dem Glauben kundzutun, sodass ich mich wiederum – natürlich ohne es zu wissen – zu dem Glauben veranlasst sehe, dass Camus kein allzu religiöser Mensch gewesen sein dürfte …

Auch sein sonstiges, zahlenmäßig überschaubares Figurenensemble weiß zu überzeugen. Das gilt für den Journalisten Rambert, der zum Zeitpunkt der Abriegelung eigentlich mehr oder weniger zufällig in der Stadt weilt und nun nicht mehr davonkommt. Das gilt aber insbesondere für Grand, einen ehemaligen Patienten von Rieux, der seit Ewigkeiten in einer Arbeit als kleines Licht in der Stadtverwaltung verharrt und der mindestens ebenso beharrlich auf seinem Vorhaben beharrt, ein Buch zu schreiben. Das Kuriose daran: Grand kommt nie über den ersten Satz hinaus. Eben diesen ersten Satz möchte er in absoluter Perfektion herausarbeiten, weswegen schon unzählige Papierseiten mit noch viel unzähligeren Varianten seines Einstiegssatzes gefüllt sind. Ich verstehe ihn so gut, den Monsieur Grand.

Hintergründig lässt sich, da ist sich die Literaturwissenschaft einig, und auch Camus äußerte sich entsprechend, sein Roman als Abrechnung mit dem Krieg lesen und als Schilderung dessen, was Krieg mit den Menschen, ihrer Ethik und Moral macht. Nun bin ich kein Literaturwissenschaftler, jedenfalls kein zu Ende studierter, deswegen wäre mir das so jetzt nicht aufgefallen, aber rückblickend wirkt diese Deutung absolut schlüssig. Ich persönlich habe den Roman tatsächlich ohne Gedanken an Kriege gelesen, sondern als ein Buch, das sich thematisch mit der Frage beschäftigt, wie Menschen denn in Ausnahmesituationen so ticken und wie weit her es dann noch mit ihrer Rationalität ist. Und ausgehend von diesem Ansatz muss ich sagen, dass „Die Pest“ ein ziemlich beeindruckendes Leseerlebnis darstellte, das ich allen, an denen dieser Roman bislang vorbeimarschiert ist, wärmstens empfehlen kann.

Demnächst in diesem Blog: „Insel“ von Ragnar Jónasson