Buch: „Ein anderer Takt“
Autor: William Melvin Kelley
Verlag: Hoffmann und Campe
Ausgabe: Taschenbuch, 300 Seiten
Der Autor: William Melvin Kelley wurde 1937 in New York geboren. Mit vierundzwanzig Jahren veröffentlichte er seinen bis heute gefeierten Debütroman A Different Drummer. Nach mehrjährigen Aufenthalten in Paris und auf Jamaika kehrte er mit seiner Familie 1977 nach New York zurück und unterrichtete am Sarah Lawrence College Kreatives Schreiben. Für seine Romane, Kurzgeschichten, Essays und Filme wurde Kelley vielfach ausgezeichnet. Er starb 2017 in Harlem. (Quelle: Hoffmann und Campe)
Das Buch: Die kleine Stadt Sutton im Nirgendwo der Südstaaten. An einem Nachmittag im Juni 1957 streut der schwarze Farmer Tucker Caliban Salz auf seine Felder, tötet sein Vieh, brennt sein Haus nieder und zieht nach Norden. Ihm folgt die gesamte schwarze Bevölkerung. Fassungslos verfolgen die zurpckgebliebenen Weißen den Auszug. Es scheint nur eine frage der Zeit zu sein, bis sich ihre Wut und ihre Hilflosigkeit entladen. (Quelle: Klappentext)
Fazit: Ich finde es immer wieder faszinierend, wenn das Werk eines weitgehend in Vergessenheit geratenen Autors wiederentdeckt und der aktuellen Lesergeneration zugänglich gemacht wird. Als aktuell bekanntestes Beispiel kann hier wohl John Williams genannt werden. Und ähnlich verhält es sich auch mit William Melvin Kelley, dessen bereits in den 60ern erstmals erschienener Roman „Ein anderer Takt“ einen vergleichsweise großen Erfolg vorweisen konnte. Aus unterschiedlichen Gründen, zu denen wohl auch gezählt werden kann, dass Kelleys nachfolgende Romane inhaltlich und stilistisch wesentlich weniger zugänglich gewesen sein sollen, blieb aber danach eben dieser Erfolg aus und Kelley geriet in Vergessenheit.
Und ähnlich wie bei John Williams ist das auch im Fall Kelley überaus schade, denn bei „Ein anderer Takt“ handelt es sich um ein Buch, das eine möglichst große Leserschaft verdient hat.
In diesem Roman befinden wir uns in den 50ern in dem fiktiven Städtchen Sutton in einem fiktiven Teil eines fiktiven Bundesstaates ganz im Süden der USA. Ohne jegliche Vorankündigung versalzt der schwarze Farmer Tucker Caliban seine Felder, erschießt seine Tiere, zerstört seinen gesamten Besitz und verlässt die Stadt mit unbekanntem Ziel. Calibans Tat stellt eine Art Initialzündung für die schwarze Bevölkerung Suttons nach, denn in kürzester Zeit folgen alle schwarzen Bewohner Calibans Beispiel und verlassen Sutton ebenfalls. Die ratlose weiße Bevölkerung wird vom Gouverneur beruhigt: „Es gibt keinen Grund zur Sorge. Wir haben sie nie gewollt, wir haben sie nie gebraucht, und wir werden sehr gut ohne sie zurechtkommen, der Süden wird sehr gut ohne sie zurechtkommen. Auch wenn unsere Bevölkerungszahl um ein Drittel verringert ist, werden wir prima zurechtkommen. Es sind noch immer genug gute Männer da.“ (S. 12) Pfeifen im Walde und rassistischer Standpunkt gleichzeitig …
Kelley erzählt seine Geschichte durch unterschiedlichste Figuren. Der Clou dabei ist, dass diesen Figuren allen gemein ist, dass sie ausnahmslos weiß sind. Einerseits gelingt es ihm so, die Sichtweisen der weißen Bevölkerung gegenüber der schwarzen klarzumachen und deren Einstellung, die bestenfalls zwischen offen rassistisch und gönnerhaft liberal liegt, zu verdeutlichen. Andererseits wird bereits durch die Wahl der Erzählweise klar, dass die Schwarzen im übertragenen Sinne keine Stimme, dass sie nichts zu sagen haben. Ein durchaus kluger, erzählerischer Schachzug.
Hinsichtlich des Stils kann man darüber hinaus wohl nicht umhin, darauf hinzuweisen, dass Kelley in seinem Roman einen offenen Umgang, will sagen: eine häufige Verwendung aller möglichen N-Wörter pflegt. Mir erschien das vor dem Hintergrund des Settings und Zeitraums absolut angemessen, aber andere Leserinnen und Leser mögen damit vielleicht ein Problem haben, weswegen es hier angemerkt wird.
Ein weiteres herauszuhebendes stilistisches Merkmal ist, dass es Kelley sehr gut gelingt, die Stimmung, die in der weißen Bevölkerung herrscht, zu transportieren. Denn hier brodelt es unter dem Kessel. Unabhängig davon, was der Gouverneur nun sagt oder nicht, sind die Weißen in Sutton verunsichert, vielleicht auch ein bisschen verängstigt, was ihre eigene Zukunft angeht. Und aus Unsicherheit und Angst entstehen oft Aggression und Gewalt. Bezeichnend ist, dass niemandem in der weißen Bevölkerung der Einfall kommt, sich mal näher mit den Ursachen dieses Exodus zu beschäftigen oder gar einmal die Frage aufzuwerfen, ob man den Schwarzen Zugeständnisse welcher Art auch immer machen könnte, um sie so zum Bleiben zu bewegen.
Eben das sind wohl auch die Dinge, die Kelley mit seinem Roman anprangern wollte. Dass der schwarzen Bevölkerung Amerikas keine Stimme gegeben wird, keine Chance bzw. kein Angebot für eine wirkliche allgemeingesellschaftliche Teilhabe. Dass die Weißen nicht bereit sind, auch nur einen Millimeter von ihren vorgegebenen Denkmustern und ihren Privilegien abzurücken. Aber auch, dass die Weißen mit ihrem verächtlichen Umgang mit den Schwarzen offensichtlich Erfolg haben, denn er kritisiert eben auch, dass die Schwarzen die ihnen zugebilligte Rolle wohl klaglos akzeptieren, sich allerhöchstens in Interessengruppen zusammenfinden, aber nicht für sich selbst höchstpersönlich einstehen und ihr Schicksal, anders als Tucker Caliban, nicht in die eigene Hand nehmen.
Und ja, natürlich erinnert das schon deutlich an heutige Zustände in den USA. Während in Kelleys Szenario die Schwarzen die Stadt verlassen, während irgendwelche rassistischen Rednecks auf der Veranda eines Gemischtwarenladens herumstehen und der Situation mit Unverständnis begegnen, demonstriert heute die BLM-Bewegung in den Straßen, während vereinzelte weiße Menschen diesem Umstand mit Unverständnis begegnen, sich augenscheinlich vernachlässigt fühlen und bar jeder Empathie irgendwas davon blubbern, dass es ja eigentlich „All Lives Matter“ heißen müsste, weil mimimi, da sie augenscheinlich schwer damit zurechtkommen, dass es hier auch nur ein einziges Mal nicht explizit um sie geht.
Offensichtlich hat sich wohl in den letzten gut 60 Jahren doch nicht so fürchterlich viel verändert. Auch und gerade deshalb wünsche ich diesem Buch eben eine möglichst große Leserschaft und empfehle es mit allem mir zur Verfügung stehenden Nachdruck. Unbedingt lesen!
Ich danke den Damen und Herren bei Hoffmann und Campe für die freundliche Übersendung des Rezensionsexemplars. Die Tatsache, dass es sich um ein Rezensionsexemplar handelt, beeinflusst meine Meinung selbstredend nicht.
Demnächst in diesem Blog: Das weiß ich noch nicht so genau …