„Deutsche Lebenslügen: Der Antisemitismus, wieder und immer noch“ von Philipp Peyman Engel

Buch: „Deutsche Lebenslügen“

Autor: Philipp Peyman Engel

Verlag: dtv

Ausgabe: Hardcover, 192 Seiten

Der Autor: Philipp Peyman Engel, geboren 1983 in Herdecke, ist als Sohn einer persischen Jüdin und eines deutschen Vaters im Ruhrgebiet aufgewachsen. Er studierte Philosophie, Pädagogik und Literatur und Medienpraxis in Bochum sowie Essen. Der Journalist ist Chefredakteur der Wochenzeitung »Jüdische Allgemeine«. Das »Medium Magazin« zeichnete ihn 2023 mit dem renommierten Medienpreis »Chefredakteur des Jahres« aus. Texte von Engel zum jüdischen Leben, Antisemitismus und Israel erscheinen regelmäßig im »Spiegel«, »FAZ« und »Deutschlandfunk«. (Quelle: dtv)

Das Buch: Der brutale Terroranschlag der Hamas vom 7. Oktober ist zu einer Nagelprobe politischer und moralischer Haltung in Deutschland geworden. Das Schweigen der Linken und der Jubel muslimischer Einwanderer, die Unterstützung der Palästinenser durch die Klima-Aktivistin Greta Thunberg, die abgerissenen Plakate der Entführten in London, das Entsetzen der Politiker, die die Aufnahmen der Täter gesehen haben – viele Gewissheiten hat der 7. Oktober erledigt. In Deutschland – selbst in Deutschland – zeigt sich der Antisemitismus wieder so offen, dass man vermuten könnte, er wäre nie weg gewesen.

Der deutsche Jude Philipp Peyman Engel ist schockiert, dass die Empörung in Deutschland so zögerlich zum Ausdruck kommt – aber nicht überrascht. Seit Jahren verfolgt der Chefredakteur der »Jüdischen Allgemeinen« die Anbiederung der deutschen Politik an die Feinde Israels und den alltäglichen Antisemitismus aus allen Ecken der Gesellschaft – von Rechten, von Linken, von muslimischen Migranten. Der 7. Oktober hat endgültig gezeigt, sagt Engel, dass es in Deutschland so nicht weitergehen kann.

Philipp Peyman Engel begibt sich auf die Straßen von Neukölln und er begleitet Bundespräsident Steinmeier nach Israel, er schreibt über die Verlogenheit der deutschen Debatte und erzählt von seiner Jugend als Sohn einer persischen Jüdin in Nordrhein-Westfalen. Sein Buch ist auf der einen Seite eine Abrechnung mit denen, die zum Terror schweigen und eine Aufforderung, Haltung zu zeigen. Auf der anderen Seite ist es die schonungslose Beschreibung der moralischen Krise dieses Landes. (Quelle: dtv)

Fazit: Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich meine, es war Ivar Buterfas-Frankenthal, 91 Jahre alt, Sohn einer Christin und eines Juden, sowie Holocaustüberlebender, der einige Zeit nach dem Terroranschlag der Hamas vom 7. Oktober und der daraufhin einsetzenden Entwicklung in Deutschland sinngemäß sagte, wenn seine Kinder oder Enkel ihm eröffnen würden, sich in Deutschland nicht mehr sicher zu fühlen und darüber nachdenken würden, das Land zu verlassen, dann könne er das verstehen und würde notfalls seinen letzten Groschen zusammenkratzen, um ihnen das zu ermöglichen.

Ich finde, wenn jemand, wie Herr Buterfas-Frankenthal so etwas sagt, dann wäre es eigentlich an der Zeit, mal aufmerksam zuzuhören.

Aufmerksames Zuhören oder gar die Annahme von Kritik scheint aber nun nicht jedem gegeben zu sein, denn nur so ist es meines Erachtens zu erklären, dass vor gut zwei Wochen zu lesen war, dass in der Düsseldorfer Buchhandlung Dussmann mehrere Exemplare von Philipp Peyman Engels neuem Buch „Deutsche Lebenslügen: Der Antisemitismus, wieder und immer noch“ auf den ersten Seiten mutwillig zerrissen wurden. Zwar reagierte der Autor darauf bemerkenswert schlagfertig, in dem er auf der Social-Media-Plattform formerly known as Twitter „Mein erster Verriss“ schrieb, bei mir erzeugte dieser Vandalismus jedoch eine Trotzreaktion in der Form, dass ich beschlossen habe, meinen verschwindend geringen Anteil dazu beizutragen, das Buch einer möglichst breiten Öffentlichkeit zu präsentieren.

Flugs war also die Anfrage nach einem Rezensionsexemplar gestellt, ebenso flugs wurde selbiges dann auch zugesandt, wofür dtv an dieser Stelle mein verbindlichster Dank gilt. Dass das keinen Einfluss auf meine Meinung zu „Deutsche Lebenslügen“ hat, versteht sich von selbst.

Zu Beginn des Buches blickt der Autor auf die Geschichte seiner Familie zurück. Die Großeltern verließen als Reaktion auf den Sechstagekrieg den Iran und zogen nach Deutschland, Philipp Peyman Engel wächst in NRW auf und vermittelt den Eindruck, sich in Deutschland nie unwohl oder gar unsicher gefühlt zu haben. Im Gegenteil, man liest eine deutliche Verbundenheit zu seiner Heimat heraus.

In den letzten Jahren, insbesondere seit dem Terroranschlag vom 7. Oktober 2023 geraten diese Überzeugungen bei Peyman Engel jedoch zusehends ins Wanken, weil sich alte und neue Formen des Antisemitismus in bis dato lange nicht gehörter Intensität bemerkbar machen.

Dabei muss man den postfaschistischen Antisemitismus im Stile der AfD, die sich in Deportationsfantasien ergeht, und von irgendwelchen angeblichen „globalistischen Eliten“ sowie handfestem Umvolkungsirrsinn salbadert und deren Salonfaschist das Holocaust-Mahnmal für ein „Denkmal der Schande“ hält, vielleicht gar nicht groß thematisieren, denn dass der da ist und nie weg war, das wissen wir vermutlich alle.

Sein Hauptaugenmerk richtet der Autor daher in erster Linie einmal auf die postkoloniale Linke. Nach deren Verständnis handelt es sich beim Holocaust um ein Ereignis, das sich – zusammen mit vielen anderen Ereignissen in der Menschheitsgeschichte – unter dem Oberbegriff des Kolonialismus zusammenfassen lässt, mithin hat der Holocaust für die postkoloniale Linke den Status einer Singularität verloren. Eine Sichtweise, der vermutlich selbst die wirren „Schuldkult“-Blubberer vom rechten Rand etwas abgewinnen werden könnten, enthebt sie Deutschland doch auf nahezu magische Weise von jeglicher, diesbezüglicher Verantwortung für die Zukunft.

Er thematisiert aber noch deutlicher auch den Antisemitismus von in Deutschland lebenden Muslimen. Diesbezüglich sagte gerade heute Morgen der Journalist Eren Güvercin, Mitglied der Islamkonferenz, dass es hierzu eigentlich auch mal eine Reaktion der demokratischen Muslime geben müsse – womit er meines Wissens recht hat. Peyman Engel kritisiert, dass die deutsche Mehrheitsgesellschaft darüber im Wesentlichen schweigt. Was ich im Übrigen verstehen kann. Also, die Kritik, nicht das Schweigen. Denn als Anfang des Jahres die „Correctiv“-Recherche zum Geheimtreffen der AfD und ihren wirren Deportationsplänen erschien, gingen in der Folge zahllose Menschen auf die Straße, unter anderem, um ihre Solidarität mit den Menschen zu bekunden, die da nach Ansicht der AfD deportiert werden sollten. Und zu diesen Menschen würde naturgemäß auch der Autor des Buches gehören.

Nach dem Terroranschlag vom 7. Oktober blieben diese Solidaritätsbekundungen – zumindest in vergleichbarem Umfang – jedoch aus. Stattdessen gab es zahlreiche propalästinensische „from-the-river-to-the-sea“-Demos, zahllose Ja-aber-Argumentationen und politisches Rumgeeier. Mittlerweile wird dieses Bild ergänzt von amerikanischen Unis, die zu besuchen für jüdische Studierende derweil mindestens schwierig geworden ist, von muslimischen Jungspunden, die ihre Meinungs- und Versammlungsfreiheit dazu nutzen, kundzutun, dass sie ein Kalifat auf deutschem Boden total toll fänden, in dem sie dann weder die eine noch die andere Freiheit weiterhin besitzen würden, aber hey, sowie Solidaritätsdemos für ehemalige Terroristinnen der RAF. Was – und das ist meine ganz persönliche Sichtweise – insgesamt die Frage aufwirft, ob die Menschheit vielleicht auch einfach nur sukzessive irre wird.

Natürlich wird nicht nur die deutsche Mehrheitsgesellschaft in die Kritik genommen, sondern auch die Politik, die sich in zahllosen „Nie wieder!“-Reden ergeht, diese aber nicht mit Taten und Leben füllt, sondern die, überspitzt gesagt, anschließend in den Iran reist, um über die wirtschaftliche Zusammenarbeit zu sprechen.

Das alles untermauert Philipp Peyman Engel mit einem Ausblick auf andere Länder mit ähnlich gelagerter Entwicklung, auf die eine oder andere Statistik und mit einem ganz detaillierten Blick auf das, was da am 7. Oktober 2023 eigentlich genau passiert ist, was zuweilen nichts für schwache Nerven ist.

Mag die grundlegende Intention des Buches auch in der Kritik am Umgang mit den verschiedensten Formen des Antisemitismus liegen, so billigt der Autor beispielsweise in Person von Claudia Roth sowie Frank-Walter Steinmeier, die beide nicht besonders gut wegkommen, diesen beiden doch zu, dass sie sich zuletzt zum Positiven geändert und Worten nun endlich auch Taten haben folgen lassen.

Und vielleicht ist das letztlich auch das, worum es geht: Dass wir alle als Gesellschaft uns nicht nur gelegentlich mal kritisieren lassen müssen, dass wir dieser Kritik dann aber eben auch den entsprechenden Lerneffekt und die entsprechende Reaktion folgen lassen müssen, und dass selbst die, die da am schärfsten kritisieren, der Ansicht sind, dass wir das können.

Auch und gerade für jemanden wie mich, der eigentlich gerne hat, wenn immer alles gut ist, und es zu schätzen weiß, wenn die Menschen, falls es mal nicht so ist, trotzdem behaupten, dass es so wäre, der schon Anfang der 90er die Krawalle in Rostock-Lichtenhagen nicht verstanden hat, weil er ausschloss, dass es so etwas hierzulande noch gibt, und der erst erschreckend spät erfahren hat, dass Synagogen in diesem Land auch dann unter Polizeischutz stehen, wenn gerade mal kein Krieg zwischen Israel und der Hamas tobt, für jemanden also, dem man guten Gewissens vorwerfen kann, immer mit einer guten Portion Naivität unterwegs zu sein, oder gar sein zu wollen, war das Buch eine erhellende, augenöffnende Lektüre, die ich wärmstens empfehlen kann, selbst wenn sie manchmal ein wenig schmerzt.

Demnächst in diesem Blog: Eigentlich sollte es heute schon um Caspar David Friedrich gehen, aber ich ziehe die Rezensionsexemplare mal vor, als Nächstes kommt dann demnach „Hundswut“ von Daniel Alvarenga.

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