„Das dritte Königreich“ von Karl Ove Knausgård

Buch: „Das dritte Königreich“

Autor: Karl Ove Knausgård

Verlag: Luchterhand

Ausgabe: Hardcover, 656 Seiten

Der Autor: Karl Ove Knausgård wurde 1968 geboren und gilt als wichtigster norwegischer Autor der Gegenwart. Die Romane seines sechsbändigen, autobiographischen Projektes wurden weltweit zur Sensation. Sie sind in über 30 Sprachen übersetzt und vielfach preisgekrönt. 2015 erhielt Karl Ove Knausgård den WELT-Literaturpreis, 2017 den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur. Er lebt in London. (Quelle: Penguin Random House)

Das Buch: Die Tage sind endlos lang in diesem Sommer in Norwegen, und die Hitze ist schier unerträglich. Die Welt scheint irgendwie still zu stehen, und als Erstem fällt dies Syvert, dem Bestatter, auf. Immer mehr Tage vergehen, ohne dass Todesfälle gemeldet werden. Wie kann das sein? Viele Fragen hat auch die neunzehnjährige Line, die sich in Valdemar, den Frontmann einer sagenumwobenen Band, verliebt. Sie wird in eine geheime, faszinierende Welt hineingezogen, die sie aber auch ängstigt und an die Grenzen des Verstehbaren bringt. Dies wiederum hat sie mit dem Polizisten Geir gemeinsam, der in einem makabren Dreifachmord ermittelt und über die vermeintlich abwegige Theorie, die er am Ende aufstellt, mit niemandem sprechen kann. Ist es letztlich die fragile Künstlerin Tove, die mehr versteht als die anderen? Sie erschafft Bilder, die von den untergründigen Strömungen aus Sexualität und Tod in den Volksmärchen inspiriert sind. Eines Tages hört sie eine Stimme, die zu ihr spricht – und ihr etwas abverlangt. (Quelle: Penguin Random House)

Fazit: An Karl Ove Knausgård scheiden sich, so ist jedenfalls mein Eindruck, die Geister. Für die einen schwafelt er endlos herum, die anderen halten ihn für einen begnadeten Erzähler. Ich gehöre zu den anderen. Und das, obwohl ich eigentlich noch gar nicht so viele seiner Bücher kenne. Seinerzeit unternahm ich den Versuch mit „Aus der Welt“ in sein Werk einzusteigen, allerdings addierte sich die bemerkenswerte Trostlosigkeit dieses Buches zu meiner eigenen, woraufhin die Lektüre aus simplen Selbstschutzgründen abgebrochen werden musste. Und ein Neueinstieg in Knausgårds Welten gelang mir eben erst mit der hier vorliegenden „Morgenstern“-Reihe.

Die allerdings hat mich von Beginn an begeistert, weswegen ich halt zu den eben erwähnten anderen gehöre. Der dritte Teil der Reihe lässt mich jedoch ein wenig ratlos zurück, muss ich zugeben.

Dabei hat der Roman viele positive Aspekte, die es unbedingt hervorzuheben gilt. Dazu gehört ganz zuvorderst, so banal das klingen mag, seine Länge. Oder besser: seine Kürze. Denn während die ersten beiden Teile noch mit knapp 900 und etwas über 1.000 Seiten daherkamen, gelingt es Knausgård ausnahmsweise, seine Gedanken auf „nur“ 656 Seiten zu komprimieren. Das erreicht er dadurch, dass er sich in dieser Fortsetzung auf das beschränkt, was er eigentlich mit der Reihe ausdrücken will – dazu gleich mehr – und dass er zu diesem Zweck eben auf die in den ersten beiden Teilen noch enthaltenen, erzählerischen Spielereien verzichtet, in denen man schon mal auf ein ewig langes, als gänzlich außerhalb des sonstigen Textes liegend empfundenes Essay über das Leben, das Universum und den ganzen Rest – nicht das Buch! – treffen konnte, das in der typischen Knausgårdschen Weise trotzdem faszinierend zu lesen war, oder auf verwirrende Sequenzen, in denen im Koma liegende Figuren des Romans eine bizarre Geisterwelt betreten, die natürlich trotzdem ebenfalls faszinierend zu lesen waren.

Im dritten Teil hält sich der Norweger jedoch nicht mit solch, mit Verlaub, erzählerischem Tand auf und konzentriert sich – so weit jemanden mit einer solch weitschweifigen Erzählweise das eben möglich ist – auf die Intention der Reihe. Und diese ist ein weiterer Pluspunkt. Denn wenn ich mich richtig erinnere, wollte Knausgård mit seinem Mehrteiler verdeutlichen, wie unterschiedlich dieselben Ereignisse von verschiedenen Personen wahrgenommen und interpretiert werden können. Wie beschränkt der einzelne Mensch in seinen Möglichkeiten ist, die Vorgänge in der Welt zu begreifen. Und dass es, so meine persönliche Interpretation, es vollkommen egal ist, wie lange und wie gut man jemanden schon kennt, man damit dann aber allenfalls in der Lage ist, zu erahnen, wie und was diese Person denkt, dass man aber dennoch nicht beurteilen kann, wie es ist, diese Person zu sein.

Und die Umsetzung dieses Vorhabens ist vordergründig, das muss man zugeben, eigentlich gut gelungen, auch wenn der Ansatz dafür recht simpel erscheint. Während die Ereignisse der ersten beiden Teile aus der Sicht einer Fülle von Personen geschildert wurden, rückt Knausgård im dritten Teil Charaktere in den Mittelpunkt, die in den ersten beiden Teilen primär am Rande Beachtung fanden, beispielsweise als Ehefrau oder Ehemann der Protagonisten aus den ersten beiden Teilen. Dazu setzt der Autor inhaltlich vieles auf null und erzählt bereits Geschehenes im Prinzip nochmal, nur eben aus der Sicht der Figuren, die bisher nicht zu Wort kommen.

Als Beispiel sei hier mal Arne genannt. Gleich zu Beginn des ersten Buches der Reihe treffen wir auf Arne, der mit seiner Frau Tove und den drei gemeinsamen Kindern Urlaub an einem Fjord macht. Und zu Beginn von „Das dritte Königreich“ treffen wir eben auf Tove, die mit ihrem Mann Arne und den drei gemeinsamen Kindern Urlaub an einem Fjord macht. Haben wir im ersten Teil diesen Urlaub aus der Sicht von Arne vermittelt bekommen, so erhalten wir eben jetzt die Sichtweise von Tove.

Das mag vielleicht ein bisschen so klingen wie „Fifty Shades of Grey 4.0 – Jetzt aus der Sicht des Milchmanns“, aber es hat was. Und es ist eben exakt das, was Knausgård wollte. So erhalten wir, um beim erwähnten Beispiel zu bleiben, eben aus der Sicht von Arne sowie der von Tove ein schlüssiges Gesamtbild, das sehr viel mehr hergibt, als wenn es diese zusätzliche Perspektive nicht gegeben hätte.

Daraus entwickelt sich nur naturgemäß leider eine gewisse inhaltliche Redundanz, die zulasten des großen Ganzen, des Handlungsrahmens an sich, geht, was mein eigentliches Problem mit dieser Fortsetzung ist. Erzählerisch ist das alles ganz großes Kino und meinetwegen hätte der dritte Teil gerne einen ähnlichen Umfang wie die Vorgänger haben können, durch das Prinzip „Ich erzähle jetzt dasselbe nochmal, nur anders“, tritt aber eben die gesamte Plotentwicklung ein wenig auf der Strecke. Dazu gesellen sich dann noch Handlungsstränge um irgendwelche satanistischen Bands, die ich selbst mit viel Wohlwollen meinerseits noch bestenfalls als hanebüchen empfunden habe. Ja, klingt skurril – man muss dabei gewesen sein.

Knausgård verliert sich in meiner Wahrnehmung ein bisschen in seinem Vorhaben, und vergisst dabei, die Dynamik, vergisst, den eigentlichen Plot des Romans nennenswert voranzutreiben, was er durchaus hätte tun können, wenn er sich im Umfang des Buches an den ersten beiden Teilen orientiert hätte. Wäre diese Buchreihe ein Puzzle, so könnte man sagen, dass er bereits zahlreiche Teile einsetzt, noch bevor er den Rand fertig hat. Und ganz ehrlich, wer legt bei einem Puzzle schon so richtig los, solange er den Rand noch nicht fertig hat …!?

Und so bleibt eben nach 656 Seiten für mich der Eindruck, zwar außerordentlich gut unterhalten worden, aber im Bezug auf die Handlung kein bisschen klüger geworden zu sein, als vor diesen 656 Seiten.

Wer daher Freude am Lesen selbst hat, und kein Problem damit, wenn eine Erzählung einfach mal nur um ihrer selbst willen ein bisschen durch die Gegend mäandert, der kann bedenkenlos zugreifen. Dazu muss allerdings gesagt werden, dass eine Lektüre des Buches wenig Sinn ergibt, wenn man die ersten beiden Teile nicht kennt. Wer diese Voraussetzung mitbringt, wird allerdings gut unterhalten.

Und ich – ich warte jetzt schulterzuckend auf den vierten Teil …

Ich danke den Damen und Herren des Bloggerportals und des Luchterhand Verlags für die freundliche Übersendung des kostenlosen Rezensionsexemplars. Die Tatsache, dass es sich um ein kostenloses Rezensionsexemplar handelt, beeinflusst meine Meinung selbstredend nicht.

Demnächst in diesem Blog: Mal schauen …

„Tod im Chiemgau“ von Mathias Lehmann

Buch: „Tod im Chiemgau“

Autor: Mathias Lehmann

Verlag: Emons Verlag

Ausgabe: Taschenbuch, 256 Seiten

Der Autor: Mathias Lehmann wurde 1968 in Berlin geboren und wuchs in Lübben im Spreewald auf. Nach Ausbildung, Abitur und Studium lebt er heute als selbstständiger Tragwerksplaner mit Familie, Hund und Katze in einem Vorort von Magdeburg. Bücher waren schon als Kind sein liebstes Hobby, das Schreiben spannender Geschichten ist inzwischen seine Leidenschaft. Als Liebhaber der Berge verbringt er jedes Jahr mehrere Urlaubswochen in den Alpen und hat auch die Handlungen seines Kriminalromans in dieser Gegend angesiedelt. (Quelle: Emons Verlag)

Das Buch: Zehn Jahre ist es her, dass Hans, der beste Freund von Bergführer Toni Hauser, beim Sturz in eine Schlucht tödlich verunglückte. Damals hat Toni seinen Heimatort Reit im Winkl verlassen, nun kehrt er zurück. Doch die Vergangenheit ruht nicht, im Gegenteil: Jemand scheint Toni nach dem Leben zu trachten. Er überlebt nur knapp einen Mordanschlag. Mit Hilfe von Kommissarin Roxana Mayrhofer versucht Toni, die Fäden zu entwirren und die Frage zu beantworten, die ihn seit Jahren umtreibt: War Hans‘ Tod wirklich ein Unfall, oder sollte damals womöglich er selbst sterben? (Quelle: Emons Verlag)

Fazit: Wenn man an Mathias Lehmanns Krimi eines kritisieren möchte, dann den – zumindest aus meiner Sicht – wenig einfallsreichen Titel. Nahezu alles andere daran ist, das nehme ich schon mal vorweg, nahezu rundum gelungen.

Das Buch beginnt mit einem Rückblick auf die Ereignisse von vor zehn Jahren. Bei einem Autounfall kam Toni Hausers bester Freund Hans ums Leben. In Anbetracht der Umstände hatte Toni schon damals den Verdacht, dass es erstens kein Unfall im eigentlichen Sinne war, und dass zweitens er selbst hätte Ziel dieses Unglücks werden sollen. Im Zuge der damaligen Ereignisse hält Toni es zu Hause nicht mehr aus, verlässt Reit im Winkl und tingelt seither als Bergführer von Gelegenheitsjob zu Gelegenheitsjob.

Nun liegt jedoch sein Vater im Sterben und Toni ist mehr oder weniger zur Rückkehr in seine Heimat gezwungen. Und eigentlich soll der Aufenthalt kein dauerhafter sein, nachdem Toni aber nach kurzer Zeit bereits zweimal knapp einem Unglück entgeht, keimt der Verdacht auf, dass da jemand etwas zu Ende bringen möchte, was er vor zehn Jahren nicht geschafft hat. An der Seite der Polizistin Roxana Mayrhofer, mit der ihn ebenfalls eine lang zurückliegende Geschichte verbindet, versucht Toni, Licht ins Dunkel zu bringen, und herauszufinden, wer ihm da offensichtlich nach dem Leben trachtet.

Auf Basis der „Schatten“-Krimi-Reihe von Nané Lénard, die unter der hiesigen Leserschaft vermutlich viel zu wenige kennen, was skandalös ist, hier aber nur am Rande Erwähnung finden soll, weiß ich, dass diese Art der Regionalkrimis ihre beste Wirkung dann entfaltet, wenn man sich in der Gegend auskennt, in der sie spielen, wenn man also Örtlichkeiten wiedererkennt und ähnliches. Und bei „Tod im Chiemgau“ wird das nicht anders sein, allerdings gelingt Mathias Lehmann eine auch für Ortsunkundige wie mich überzeugende Darstellung des Handlungsrahmens sowie des kleinstädtischen bis dörflichen Flairs seines Settings, in dem gefühlt jeder jeden kennt. Man fühlt sich als Leser relativ bald ziemlich wohl in dieser süddeutschen Idylle. Nun, jedenfalls solange man ausblendet, dass gerade jemand wiederholt versucht, die Hauptfigur umzubringen …

Besagte Hauptfigur übrigens ist, ebenso wie seine Begleitung, die Polizistin Roxana Mayrhofer, ziemlich gut gelungen. Die beiden funktionieren als Ermittlerpaar – von einigem Stirnrunzeln, zu dem ich später komme, abgesehen – mehr als passabel und schon nach der Hälfte des Buches konnte ich mir durchaus vorstellen, aus diesem einzelnen Krimi eine ganze Reihe mit Toni und Roxana in den Hauptrollen zu machen. Und als hätte ich es gewusst, plant der Autor nach meinen Informationen tatsächlich eine Reihe von vier oder fünf Büchern, in denen neben den beiden genannten noch weitere Figuren aus „Tod im Chiemgau“ auftauchen sollen. Nur die Bestätigung des Verlages steht wohl noch aus. Liebe Leute beim Emons Verlag: Machen! Bitte.

Nun kann ein Krimi aber ja das zauberhafteste Lokalkolorit und die nachvollziehbarsten Figuren haben, und würde trotzdem nicht funktionieren, wenn die Geschichte selbst nicht überzeugt. Auch hierzu kann Entwarnung gegeben werden.

Zwar erzeugten zwei, drei der Einfälle des Autors bei mir das weiter oben erwähnte Stirnrunzeln, weil ich es beispielsweise immer etwas befremdlich finde, wenn Zivilpersonen in polizeiliche Ermittlungen involviert werden, als sei das etwas Alltägliches. Wenn aber besagte Zivilpersonen, wie hier vorgekommen, beauftragt werden, Angehörige eines Unfallopfers über deren Verlust zu informieren, dann ist bei mir das Ende der Fahnenstange erreicht. Aber abgesehen davon gibt es nicht viel zu meckern.

Gut, ich muss gestehen, dass ich, der ich – ich erwähne das gelegentlich – recht schlecht in so etwas bin, schon gefühlt nach der Hälfte des Buches eine klare Ahnung davon hatte, in welche Richtung sich die Handlung wohl entwickeln und wie die Auflösung des Ganzen wohl so aussehen würde, und meine Vermutungen letztendlich bestätigt wurden. Vermutlich habe ich einfach schon zu viele Krimis gesehen, um die eine oder andere ablenkende Nebelkerze, die der Autor seiner Leserschaft zuwirft, nicht als das zu erkennen, was sie ist. Aber das tut der ganzen Sache überhaupt keinen Abbruch, denn die Geschichte selbst bleibt jederzeit spannend, und zudem führt Mathias Lehmann sie zu einem vollständig logischen, nachvollziehbaren Schluss und kommt nicht auf abstruse Ideen, wie in irgendeiner deus-ex-machina-Anwandlung eine Nebenfigur, die auf Seite 48 eine kurze Sprechrolle hat und danach nie wieder auftaucht, in einem vermeintlich überraschenden Move zum Täter zu erklären. Nein, Lehmanns Auflösung hat Hand und Fuß – auch dann, wenn man sie bereits vorher erahnt hat.

In Summe ist „Tod im Chiemgau“ ein kurzweiliges Krimivergnügen, insbesondere, aber nicht ausschließlich, für Leute, die eine Affinität zum bayrischen Setting haben.

Ich danke Mathias Lehmann und den Damen und Herren des Emons Verlages für die freundliche Übersendung des kostenlosen Rezensionsexemplars. Die Tatsache, dass es sich um ein Rezensionsexemplar handelt, beeinflusst meine Meinung selbstredend nicht.

Demnächst in diesem Blog: „Das dritte Königreich“ von Karl Ove Knausgård

„Hundswut“ von Daniel Alvarenga

Buch: „Hundswut“

Autor: Daniel Alvaranga

Verlag: HarperCollins

Ausgabe: Taschenbuch, 368 Seiten

Der Autor: Daniel Alvarenga wurde 1986 in Berlin geboren, wuchs aber in Bayern auf, wo er auch heute noch mit seiner Familie lebt. Seine Leidenschaft fürs Schreiben hat er schon zu Schulzeiten entdeckt, sich bislang aber vor allem auf das Verfassen und Verfilmen von Drehbüchern konzentriert. (Quelle: HarperCollins)

Das Buch: In der bayerischen Provinz will man 1932 noch nichts von dem wissen, was in München vor sich geht. Hier nehmen die Bürger die Dinge noch selbst in die Hand. Als bestialische Morde das Dorf erschüttern, gilt es für den Bürgermeister und seinen Gemeinderat, die Gräueltaten schnellstmöglich aufzuklären.

Während man zunächst vermutet, dass ein Wolf im nahen Wald sein Unwesen treibt, verdichten sich bald die Gerüchte, dass es sich um einen menschlichen Täter handeln muss. Dem Hauptverdächtigen, dem Einsiedler Joseph Köhler, soll kurzerhand der Prozess gemacht werden, doch dieser beteuert vehement seine Unschuld.
Spätestens als Dorfpfarrer Hias den mittelalterlichen Hexenhammer zurate zieht, geraten die Ereignisse außer Kontrolle, und nur die Ehefrauen der Dorfoberhäupter können noch versuchen, dem grausigen Wahnsinn ein Ende zu bereiten. (Quelle: HarperCollins)

Fazit: Der Journalist und Historiker Rutger Bregman beschrieb in seinem Buch „Im Grunde gut“ vor einigen Jahren die sogenannte Firnistheorie, nach der – der Begriff impliziert es – die Zivilisation, das zivilisierte Handeln der Menschen, im Prinzip nur eine dünne Oberfläche, ein Firnis eben, ist, der in Krisensituationen sofort abblättert, und stattdessen ein archaisches und egozentrisches Verhalten ohne Rücksicht auf Verluste an den Tag gelegt wird. Zwar bezeichnet Bregman besagte Theorie in seinem Buch als unzutreffend, nach der Lektüre von „Hundswut“ kann man daran aber leise Zweifel hegen.

In Daniel Alvarengas Roman begegnen wir gleich zu Beginn Joseph Köhler, der nach einigen Schicksalsschlägen ein eher einsiedlerisches Leben führt und im Grunde nur seine Tochter an seiner Seite hat. Das kleine, bayerische Dorf, in dem Joseph lebt, befindet sich jedoch bald in heller Aufregung und gänzlich unfreiwillig ist Joseph ganz plötzlich mittendrin statt nur dabei. Denn im Wald werden die Leichen mehrerer Jugendlicher gefunden, ziemlich übel zugerichtet, und in der Nähe wird eben auch jener Joseph Köhler aufgegriffen, der nicht erklären kann, was er dort tut oder wie er dorthin gekommen ist. Da liegt die Vermutung nahe, dass er auch etwas mit den Morden an den Jugendlichen zu tun haben muss.

Nun könnte seitens des Bürgermeisters bzw. des Gemeinderates die Obrigkeit informiert, der Sachverhalt also nach München gemeldet werden – wenn man sich an die diesbezüglichen Vorschriften hielte. Derlei Autoritätsverlust und schlechte Publicity behagen dem Bürgermeister jedoch so überhaupt nicht, weswegen er beschließt, die Angelegenheit selbst in die Hand zu nehmen: Joseph Köhler wird festgenommen und fortwährend verhört, weist jedoch sämtliche Schuld von sich. Im einzigen Bestreben des Gemeinderates, das Verfahren schnellstmöglich zu einem Ende zu bringen, setzen die Entscheidungsträger des Dorfes eine Spirale von Wahnsinn und Gewalt in Gang, die ihren Höhepunkt erreicht zu haben scheint, als der Dorfpfarrer plötzlich mit Heinrich Kramers spätmittelalterlichem Bestseller, dem „Hexenhammer“, auf den Plan tritt.

Der Einstieg in Alvarengas Roman geriet bei mir ziemlich frühzeitig ins Stocken, als mir bewusst wurde, dass die Dialoge vollständig in bayrischer Mundart gehalten sind. Nun scheinen die Bayern, was sie meinetwegen gerne tun können, auf wirklich so ziemlich jeden Konsonanten zu verzichten, den sie nicht unbedingt brauchen – für jemanden, der eher so etwa vier Breitengrade weiter nördlich lebt, war trotzdem eine gewisse Einarbeitungszeit notwendig, um die Gespräche nicht mehr mühsam zu dechiffrieren. 

Sobald der Dialekt aber irgendwann kein Problem mehr darstellt, bemerkt man, wie sehr die Verwendung desselben eigentlich zur Atmosphäre des Buches beiträgt. Und das ist nicht der einzige Kunstgriff, dessen sich Daniel Alvaranga bedient. Ich könnte nämlich jetzt beispielsweise viele Worte über die Figuren, die allesamt überzeugend gestaltet sind oder den Stil, der gefällig daherkommt, verlieren – was dieses Buch aber eigentlich ausmacht, was es so lesenswert macht, ist die Atmosphäre die es verströmt und die Wirkung, die es hat.

Nun muss ich leider im leicht Diffusen bleiben, wenn ich die Frage klären will, wie der Autor diese Atmosphäre und Wirkung schafft, um nicht ungewollt zu viel zu verraten. Nun wäre da zum Einen die weiter oben erwähnte Spirale aus Wahnsinn und Gewalt, die beliebig weiterzudrehen dem Autor offensichtlich Freude bereitet hat, während die Leserschaft gerade ungläubig auf die Seiten starrt, und sich denkt: „Das kann er doch jetzt nicht machen!“ – so als hätte George R. R. Martin gerade mal wieder beiläufig eine Hauptfigur ins Nirvana geschrieben.

Daraus resultiert eben auch, dass sich Alvarenga traut, seinen Plot nicht dadurch zu banalisieren, dass er ihn im Stile eines beliebigen Ken-Follett-Romans ins Wohlfühlige abdriften lässt, bis hin zu einem Ende an dem sich alle lieb haben, und gemeinsam frohlocken. Nein, stattdessen traut sich der Autor, schlimme Dinge passieren zu lassen. Welche das sind, und in welchem Umfang sie stattfinden, müsst ihr allerdings selber lesen.

Der Autor traut sich zudem, nicht alles in seinem Buch bis ins Detail auszuerzählen, sondern gezielt Handlungselemente zur Interpretation und Spekulation freizugeben. 

Und durch diese insgesamt mutige Plot-Entwicklung entfaltet das Buch dann eben seine zuweilen drastische Wirkung. Während ich mehr oder minder fassungslos beobachtet habe, wie die Granden des Dorfes sich immer weiter in eine Situation hineinmanövrieren, aus der heraus zu gelangen immer schwieriger wird, und und wie der Mensch, frei nach Plautus, dem Menschen ein Wolf ist, verbreiten sich bei der Lektüre spannende „Die Welle“-Schwingungen. So dass man nach 368 Seiten dann überzeugt ist, gerade ein sehr gutes Buch gelesen zu haben, aber auch irgendwie froh, dass man durch ist und wieder in der Realität angekommen, in der solche Dinge wie in „Hundwut“ natürlich nicht passieren. Ganz bestimmt nicht …

 

Ich danke den Damen und Herren bei Harper Collins für die freundliche Übersendung des Rezensionsexemplars. Die Tatsache, dass es sich um ein Rezensionsexemplar handelt, beeinflusst meine Meinung selbstredend nicht.

Demnächst in diesem Blog: Entweder „Das dritte Königreich“ von Karl Ove Knausgård oder „Tod im Chiemgau“ von Mathias Lehmann.

„Deutsche Lebenslügen: Der Antisemitismus, wieder und immer noch“ von Philipp Peyman Engel

Buch: „Deutsche Lebenslügen“

Autor: Philipp Peyman Engel

Verlag: dtv

Ausgabe: Hardcover, 192 Seiten

Der Autor: Philipp Peyman Engel, geboren 1983 in Herdecke, ist als Sohn einer persischen Jüdin und eines deutschen Vaters im Ruhrgebiet aufgewachsen. Er studierte Philosophie, Pädagogik und Literatur und Medienpraxis in Bochum sowie Essen. Der Journalist ist Chefredakteur der Wochenzeitung »Jüdische Allgemeine«. Das »Medium Magazin« zeichnete ihn 2023 mit dem renommierten Medienpreis »Chefredakteur des Jahres« aus. Texte von Engel zum jüdischen Leben, Antisemitismus und Israel erscheinen regelmäßig im »Spiegel«, »FAZ« und »Deutschlandfunk«. (Quelle: dtv)

Das Buch: Der brutale Terroranschlag der Hamas vom 7. Oktober ist zu einer Nagelprobe politischer und moralischer Haltung in Deutschland geworden. Das Schweigen der Linken und der Jubel muslimischer Einwanderer, die Unterstützung der Palästinenser durch die Klima-Aktivistin Greta Thunberg, die abgerissenen Plakate der Entführten in London, das Entsetzen der Politiker, die die Aufnahmen der Täter gesehen haben – viele Gewissheiten hat der 7. Oktober erledigt. In Deutschland – selbst in Deutschland – zeigt sich der Antisemitismus wieder so offen, dass man vermuten könnte, er wäre nie weg gewesen.

Der deutsche Jude Philipp Peyman Engel ist schockiert, dass die Empörung in Deutschland so zögerlich zum Ausdruck kommt – aber nicht überrascht. Seit Jahren verfolgt der Chefredakteur der »Jüdischen Allgemeinen« die Anbiederung der deutschen Politik an die Feinde Israels und den alltäglichen Antisemitismus aus allen Ecken der Gesellschaft – von Rechten, von Linken, von muslimischen Migranten. Der 7. Oktober hat endgültig gezeigt, sagt Engel, dass es in Deutschland so nicht weitergehen kann.

Philipp Peyman Engel begibt sich auf die Straßen von Neukölln und er begleitet Bundespräsident Steinmeier nach Israel, er schreibt über die Verlogenheit der deutschen Debatte und erzählt von seiner Jugend als Sohn einer persischen Jüdin in Nordrhein-Westfalen. Sein Buch ist auf der einen Seite eine Abrechnung mit denen, die zum Terror schweigen und eine Aufforderung, Haltung zu zeigen. Auf der anderen Seite ist es die schonungslose Beschreibung der moralischen Krise dieses Landes. (Quelle: dtv)

Fazit: Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich meine, es war Ivar Buterfas-Frankenthal, 91 Jahre alt, Sohn einer Christin und eines Juden, sowie Holocaustüberlebender, der einige Zeit nach dem Terroranschlag der Hamas vom 7. Oktober und der daraufhin einsetzenden Entwicklung in Deutschland sinngemäß sagte, wenn seine Kinder oder Enkel ihm eröffnen würden, sich in Deutschland nicht mehr sicher zu fühlen und darüber nachdenken würden, das Land zu verlassen, dann könne er das verstehen und würde notfalls seinen letzten Groschen zusammenkratzen, um ihnen das zu ermöglichen.

Ich finde, wenn jemand, wie Herr Buterfas-Frankenthal so etwas sagt, dann wäre es eigentlich an der Zeit, mal aufmerksam zuzuhören.

Aufmerksames Zuhören oder gar die Annahme von Kritik scheint aber nun nicht jedem gegeben zu sein, denn nur so ist es meines Erachtens zu erklären, dass vor gut zwei Wochen zu lesen war, dass in der Düsseldorfer Buchhandlung Dussmann mehrere Exemplare von Philipp Peyman Engels neuem Buch „Deutsche Lebenslügen: Der Antisemitismus, wieder und immer noch“ auf den ersten Seiten mutwillig zerrissen wurden. Zwar reagierte der Autor darauf bemerkenswert schlagfertig, in dem er auf der Social-Media-Plattform formerly known as Twitter „Mein erster Verriss“ schrieb, bei mir erzeugte dieser Vandalismus jedoch eine Trotzreaktion in der Form, dass ich beschlossen habe, meinen verschwindend geringen Anteil dazu beizutragen, das Buch einer möglichst breiten Öffentlichkeit zu präsentieren.

Flugs war also die Anfrage nach einem Rezensionsexemplar gestellt, ebenso flugs wurde selbiges dann auch zugesandt, wofür dtv an dieser Stelle mein verbindlichster Dank gilt. Dass das keinen Einfluss auf meine Meinung zu „Deutsche Lebenslügen“ hat, versteht sich von selbst.

Zu Beginn des Buches blickt der Autor auf die Geschichte seiner Familie zurück. Die Großeltern verließen als Reaktion auf den Sechstagekrieg den Iran und zogen nach Deutschland, Philipp Peyman Engel wächst in NRW auf und vermittelt den Eindruck, sich in Deutschland nie unwohl oder gar unsicher gefühlt zu haben. Im Gegenteil, man liest eine deutliche Verbundenheit zu seiner Heimat heraus.

In den letzten Jahren, insbesondere seit dem Terroranschlag vom 7. Oktober 2023 geraten diese Überzeugungen bei Peyman Engel jedoch zusehends ins Wanken, weil sich alte und neue Formen des Antisemitismus in bis dato lange nicht gehörter Intensität bemerkbar machen.

Dabei muss man den postfaschistischen Antisemitismus im Stile der AfD, die sich in Deportationsfantasien ergeht, und von irgendwelchen angeblichen „globalistischen Eliten“ sowie handfestem Umvolkungsirrsinn salbadert und deren Salonfaschist das Holocaust-Mahnmal für ein „Denkmal der Schande“ hält, vielleicht gar nicht groß thematisieren, denn dass der da ist und nie weg war, das wissen wir vermutlich alle.

Sein Hauptaugenmerk richtet der Autor daher in erster Linie einmal auf die postkoloniale Linke. Nach deren Verständnis handelt es sich beim Holocaust um ein Ereignis, das sich – zusammen mit vielen anderen Ereignissen in der Menschheitsgeschichte – unter dem Oberbegriff des Kolonialismus zusammenfassen lässt, mithin hat der Holocaust für die postkoloniale Linke den Status einer Singularität verloren. Eine Sichtweise, der vermutlich selbst die wirren „Schuldkult“-Blubberer vom rechten Rand etwas abgewinnen werden könnten, enthebt sie Deutschland doch auf nahezu magische Weise von jeglicher, diesbezüglicher Verantwortung für die Zukunft.

Er thematisiert aber noch deutlicher auch den Antisemitismus von in Deutschland lebenden Muslimen. Diesbezüglich sagte gerade heute Morgen der Journalist Eren Güvercin, Mitglied der Islamkonferenz, dass es hierzu eigentlich auch mal eine Reaktion der demokratischen Muslime geben müsse – womit er meines Wissens recht hat. Peyman Engel kritisiert, dass die deutsche Mehrheitsgesellschaft darüber im Wesentlichen schweigt. Was ich im Übrigen verstehen kann. Also, die Kritik, nicht das Schweigen. Denn als Anfang des Jahres die „Correctiv“-Recherche zum Geheimtreffen der AfD und ihren wirren Deportationsplänen erschien, gingen in der Folge zahllose Menschen auf die Straße, unter anderem, um ihre Solidarität mit den Menschen zu bekunden, die da nach Ansicht der AfD deportiert werden sollten. Und zu diesen Menschen würde naturgemäß auch der Autor des Buches gehören.

Nach dem Terroranschlag vom 7. Oktober blieben diese Solidaritätsbekundungen – zumindest in vergleichbarem Umfang – jedoch aus. Stattdessen gab es zahlreiche propalästinensische „from-the-river-to-the-sea“-Demos, zahllose Ja-aber-Argumentationen und politisches Rumgeeier. Mittlerweile wird dieses Bild ergänzt von amerikanischen Unis, die zu besuchen für jüdische Studierende derweil mindestens schwierig geworden ist, von muslimischen Jungspunden, die ihre Meinungs- und Versammlungsfreiheit dazu nutzen, kundzutun, dass sie ein Kalifat auf deutschem Boden total toll fänden, in dem sie dann weder die eine noch die andere Freiheit weiterhin besitzen würden, aber hey, sowie Solidaritätsdemos für ehemalige Terroristinnen der RAF. Was – und das ist meine ganz persönliche Sichtweise – insgesamt die Frage aufwirft, ob die Menschheit vielleicht auch einfach nur sukzessive irre wird.

Natürlich wird nicht nur die deutsche Mehrheitsgesellschaft in die Kritik genommen, sondern auch die Politik, die sich in zahllosen „Nie wieder!“-Reden ergeht, diese aber nicht mit Taten und Leben füllt, sondern die, überspitzt gesagt, anschließend in den Iran reist, um über die wirtschaftliche Zusammenarbeit zu sprechen.

Das alles untermauert Philipp Peyman Engel mit einem Ausblick auf andere Länder mit ähnlich gelagerter Entwicklung, auf die eine oder andere Statistik und mit einem ganz detaillierten Blick auf das, was da am 7. Oktober 2023 eigentlich genau passiert ist, was zuweilen nichts für schwache Nerven ist.

Mag die grundlegende Intention des Buches auch in der Kritik am Umgang mit den verschiedensten Formen des Antisemitismus liegen, so billigt der Autor beispielsweise in Person von Claudia Roth sowie Frank-Walter Steinmeier, die beide nicht besonders gut wegkommen, diesen beiden doch zu, dass sie sich zuletzt zum Positiven geändert und Worten nun endlich auch Taten haben folgen lassen.

Und vielleicht ist das letztlich auch das, worum es geht: Dass wir alle als Gesellschaft uns nicht nur gelegentlich mal kritisieren lassen müssen, dass wir dieser Kritik dann aber eben auch den entsprechenden Lerneffekt und die entsprechende Reaktion folgen lassen müssen, und dass selbst die, die da am schärfsten kritisieren, der Ansicht sind, dass wir das können.

Auch und gerade für jemanden wie mich, der eigentlich gerne hat, wenn immer alles gut ist, und es zu schätzen weiß, wenn die Menschen, falls es mal nicht so ist, trotzdem behaupten, dass es so wäre, der schon Anfang der 90er die Krawalle in Rostock-Lichtenhagen nicht verstanden hat, weil er ausschloss, dass es so etwas hierzulande noch gibt, und der erst erschreckend spät erfahren hat, dass Synagogen in diesem Land auch dann unter Polizeischutz stehen, wenn gerade mal kein Krieg zwischen Israel und der Hamas tobt, für jemanden also, dem man guten Gewissens vorwerfen kann, immer mit einer guten Portion Naivität unterwegs zu sein, oder gar sein zu wollen, war das Buch eine erhellende, augenöffnende Lektüre, die ich wärmstens empfehlen kann, selbst wenn sie manchmal ein wenig schmerzt.

Demnächst in diesem Blog: Eigentlich sollte es heute schon um Caspar David Friedrich gehen, aber ich ziehe die Rezensionsexemplare mal vor, als Nächstes kommt dann demnach „Hundswut“ von Daniel Alvarenga.

„Die Schönheit der Rosalind Bone“ von Alex McCarthy

Buch: „Die Schönheit der Rosalind Bone“

Autorin: Alex McCarthy

Verlag: Jumbo Verlag

Ausgabe: Hardcover, 160 Seiten

Die Autorin: Alex McCarthyist in Cardiff geboren und in South Wales aufgewachsen. Sie schloss ein Studium an der London Contemporary Dance School ab und arbeitete einige Jahre als Tänzerin und Choreografin bei Bühnenstücken, Film und Fernsehen, bevor sie sich vor ganz dem Schreiben widmete. „Die Schönheit der Rosalind Bone“ ist ihr erster Roman und wird in mehrere Sprachen übersetzt. McCarthy lebt in Wales. (Quelle: Jumbo Verlag)

Das Buch: Von Schönheit und vom Wegsehen: Es gibt viele Gerüchte darüber, wohin Mary Bones Schwester damals verschwunden ist. Schon als Kind hat deren Schönheit den ganzen Ort in ihren Bann gezogen, war manchen ein Dorn im Auge, wirklich hinsehen wollte jedoch niemand. Auch Jahre später reden die Leute immer noch über sie, immer noch über ihre Schönheit. Aber im Dorf gibt es noch mehr Geschichten. Während Jugendliche aus Verzweiflung zu Brandstiftern werden, träumt ein dement werdender Mann von einem Mädchen, das er mal gekannt hat, und Marys Tochter, fasziniert von dem einen übriggebliebenen Foto der verschollenen Frau, möchte mehr über die Vergangenheit erfahren. Zwischen Tälern und dichten Wäldern liegt der kleine walisische Ort Cwmcysgod. Ein scheinbar ruhiges Fleckchen Erde, doch unter der Oberfläche lauern Flammen. (Quelle: Jumbo Verlag)

Fazit: Über Bücher zu bloggen, ist tatsächlich ein schönes Hobby. Sonst würde ich das auch nicht schon seit so langer Zeit machen. Wenn man, ob bewusst oder unbewusst, sich vorrangig mit den Verlagsprogrammen der Konzernverlage beschäftigt, dann stellt sich nach einiger Zeit, zumindest bei mir, irgendwie der Eindruck ein, alles schon mal gelesen, und vieles in ähnlicher Form schon mal gesehen zu haben.

Beispielhaft seien hier mal die unzähligen Buchreihen über zahllose Fantasy-Völker in den frühen 2000ern genannt, oder der Wandel des historischen Romans hin zu einem Genre, dass sich heute im Wesentlichen nur noch durch die immer gleichen Cover auszeichnet, auf denen zwingend die Rückansicht einer Frau im Reifrock vor einem klassizistischen Gebäude in Pastelltönen zu bestaunen ist.

Zusätzlich werden, damit die Vielfalt bloß nicht zu viel Einzug hält, Cover so gestaltet wie die von anderen aktuell erfolgreichen Buchreihen, was die literarische Variante von „Kunden, die das kauften, kauften auch Folgendes“ sein muss. Und weil man der Leserschaft nicht mehr zutraut, sich Namen von Autorinnen und Autoren zu merken, pappt man „Vom Autor von“-Aufkleber drauf, am besten gleich den „Spiegel-Bestseller“.

Und irgendwann ist man all dessen irgendwie so ein bisschen überdrüssig und weitet ein daher den Blick. Und das ist auch gut so, um mal einen ehemaligen Regierenden Bürgermeister von Berlin zu zitieren. Denn sonst hätte ich vermutlich nie dieses literarische Kleinod entdeckt, um das es nun aber endlich auch gehen soll.

In „Die Schönheit der Rosalind Bone“ befinden wir uns im kleinen walisischen Dörfchen Cwmcysgod, und ja, eine Erläuterung der Aussprache desselben findet sich schon ganz am Anfang. Zu den prägenden Geschichten, die so ein Örtchen für gewöhnlich ausmachen, gehört in Cwmcysgod – ein Hoch auf kopieren und einfügen … – auch die Geschichte von Rosalind Bone. Die junge Frau war im Dorf primär für ihre außerordentliche Schönheit bekannt. Und plötzlich verschwand Rosalind vor 25 Jahren als Teenager plötzlich von einem Tag auf den anderen. Im Dorf ranken sich seitdem die wildesten Gerüchte. Sie taucht nie wieder auf.

Dann, im Hier und Jetzt, setzen zwei verwahrloste Jugendliche in einem offensichtlichen Schrei um Aufmerksamkeit Ereignisse in Gang, indem sie einen Brand legen, der – anders als die vorherigen, denn die Jungen haben sich aus ihrer Zündelei bereits eine Art Hobby gemacht – außer Kontrolle gerät. Rosalinds Nichte Catrin, Tochter ihrer Schwester Mary, trifft vor dem örtlichen Laden auf eine Landstreicherin, die offensichtlich vor dem Brand aus ihrer Behausung im Wald fliehen musste. Sie sorgt dafür, dass die alte Frau in ein Krankenhaus eingeliefert wird. Und relativ schnell ahnt man dann als Leser, um wen es sich bei dieser Landstreicherin handeln könnte.

Im Rahmen einiger Rückblenden, primär aus Mary Bones Sicht, erfährt man dann von den Ereignissen, die zu Rosalinds Verschwinden geführt haben, man erfährt aber auch von den teils abgründigen Geschichten, die sich hinter einigen Bewohnern des Dorfes verbergen, bzw. die sich zwischen einigen Bewohnern abspielen. Beispielsweise sei hier die Besitzerin des Dorfladens genannt, die auf die 80 zugeht, was sie jedoch nicht davon abhält, einen gutgehenden Nebenerwerb mittels Drogenvertickens laufen zu haben.

Die Fülle an Geschichten, die McCarthy hier erzählt, und die Menge an Themen, die sich daraus ableiten lassen, verblüffen angesichts der Tatsache, dass das Buch nur 160 Seiten umfasst, an keiner Stelle aber irgendwie zu gedrängt wirkt. Dabei ist die eigentliche Handlungsebene für sich schon recht erzählenswert, insbesondere weil alles irgendwie mit allem in Verbindung steht, und sich ein komplexes Geflecht in Cwmcysgod ergibt. Viel wichtiger, zumindest aus meiner Sicht, ist das, was die Autorin nicht explizit schreibt, viel wichtiger sind Themen und Deutungsebene.

Da geht es um Vernachlässigung von Kindern. Da geht es um Kindesmissbrauch. Es geht aber ganz konkret auch um das Patriarchat. Darum, was Männer – zumindest einige – glauben, sich ganz selbstverständlich herausnehmen zu können. Es geht darum, was das dann mit Frauen macht. Es geht um Erfahrungen, über die Männer nie nachdenken, weil sie sie per se nicht machen können. Es geht aber auch ganz entschieden um die Frage, ob man in einem solchen Dörfchen, in dem jeder jeden kennt, wirklich gar nichts von all dem mitbekommen haben kann, oder ob man sich vielleicht sogar aktiv dafür entschieden hat, ein bisschen wegzusehen, weil nicht sein kann, was nicht sein darf.

Die Kombination aus ziemlicher kompakter Erzählung mit der Fülle an Themen und persönlichen Verwicklungen, macht „Die Schönheit der Rosalind Bone“ dann letztendlich zum eingangs erwähnten literarischen Kleinod, auch wenn Stil und Figuren nur bedingt dazu beitragen. So war mir das Buch zu Beginn sprachlich entschieden zu blumig gehalten, recht schnell hat McCarthy ihren Stil dann aber, nun ja, entblumisiert, sodass es letztlich für das Beschriebene sehr viel angemessener wirkt. Und die Figuren wiederum leiden naturgemäß ein bisschen unter der Kürze des Buches. Ob und in welchem Umfang ich mir ein Bild von Charakteren machen kann, mich ggf. sogar mit ihnen verbunden fühlen oder auch mal handfeste Antipathien gegen sie entwickeln kann, hängt natürlich auch davon ab, ob ich einer Figur durch die 800 Seiten eines Knausgård-Romans folgen kann, ober ob ich das nur über 160 Seiten tue, die sich die Haupt- auch noch mit den Nebenfiguren teilen müssen.

Das tut dem positiven Gesamteindruck aber keinen Abbruch, denn was das Buch ausmacht, findet, wie erwähnt, auf anderer Ebene statt.

Klare Leseempfehlung.

Ich bedanke mich beim Jumbo Verlag für die freundliche Übersendung des Rezensionsexemplars. Die Tatsache, dass es sich um eine Rezensionsexemplar handelt, beeinflusst meine Meinung selbstredend nicht.

Demnächst in diesem Blog: „Zauber der Stille“ von Florian Illies.

„Der Donnerstagsmordclub oder Ein Teufel stirbt immer zuletzt“ von Richard Osman

Buch: „Der Donnerstagsmordclub oder Ein Teufel stirbt immer zuletzt“

Autor: Richard Osman

Verlag: Ullstein

Ausgabe: Paperback, 432

Der Autor: Richard Osman ist Autor, Produzent und Fernsehmoderator. Seine Serie über die vier scharfsinnigen und liebenswerten Ermittlerinnen und Ermittler des Donnerstagsmordclubs hat ihn über Nacht zum Aushängeschild des britischen Krimis und Humors gemacht. Für sein Debüt Der Donnerstagsmordclub wurde er bei den British Book Awards 2020 zum »Autor des Jahres« gewählt. Er lebt mit Frau und Katze in London. (Quelle: Ullstein)

Das Buch: Das hätten sie sich ja denken können, die Hobbyermittler des Donnerstagsmordclubs. Ein Jahr ohne Mordfall haben sie sich zu Weihnachten gewünscht, doch nur wenig später – dahin der fromme Wunsch. Der Tote: Kuldesh Shamar, ein Antiquitätenhändler, der am Morgen nach den Festtagen unglücklicherweise in ein Drogengeschäft verwickelt wird, was er am Abend mit seinem Leben bezahlt. Von dem wertvollen Paket, das er aufbewahren sollte, fehlt jedoch jede Spur. Nicht unbedingt zur Freude der Beteiligten. Mittendrin in dieser Löwengrube aus Dealern, Fälschern und Betrügern, die dem Paket hinterherjagen, die vier Senioren aus Coopers Chase. Und sie sind wütend, denn der Tote war nicht irgendwer, sondern ein alter Freund von Elizabeths Ehemann Stephen. Zieht euch warm an, möchte man den Ganoven da zurufen – aber nicht, weil gerade Winter ist. (Quelle: Ullstein)

Fazit: Mit jedem Teil der Donnerstagsmordclub-Reihe, den ich lese, vergrößert sich meine Sorge, Richard Osman könnte irgendwann mal der Ansicht sein, dass selbige an ihrem Ende angekommen ist. Und so musste ich bis zum Nachwort warten, um zu erfahren, dass wir natürlich mindestens noch einen weiteren Teil bekommen, uns aber gedulden müssen, weil Osman erst noch ein anderes Buch schreiben möchte. Na, dann erstens: Ich bin gespannt. Und zweitens: Puh!

„Puh!“ deshalb, weil ich die Reihe um die Senioren Joyce, Elizabeth, Ibrahim und Ron halt einfach gerne habe.

Und so mag es nicht verwundern, dass auch der aktuelle Teil bei mir auf ziemliche Begeisterung gestoßen ist. Die zu äußern, kann man – ausnahmsweise, da mir das erfahrungsweise ja nicht so liegt – relativ kurz machen:

An das Protagonisten-Quartett, ihr Zusammenspiel, ihre Eigenheiten und Marotten hat man sich im Laufe der Zeit ebenso gewöhnt, wie an eine Fülle von Nebenfiguren, die Osmans Reihe bereits seit dem ersten Teil bevölkern. Daraus ziehen die „Donnerstagsmordclub“-Bücher mittlerweile natürlich auch einen Großteil ihres Wohlfühlfaktors. Insgesamt bedeutet das aber auch, dass es im Bereich der Charaktere wenig Neues zu berichten gibt, abseits der Bösewichte des Tages. Die allerdings sind gut gelungen.

Gleiches gilt für den humorvollen Ton, in dem Richard Osman seine Bücher hält. Auch stilistisch ist „Ein Teufel stirbt immer zuletzt“ dementsprechend „more of the same“, allerdings muss das ja nichts Schlechtes sein, und die Tatsache, dass sich phasenweise ein Dauerschmunzeln meiner bemächtigte, ist vermutlich auch ein diesbezüglich gutes Zeichen.

Neu ist im vierten Teil insofern, natürlich, erst mal die Story. Und die hat es durchaus in sich, denn wenn sich die vier Senioren in der Vergangenheit schon mit gestohlenen Diamanten und ähnlichen Dingen befasst haben, warum soll man dann nicht einfach gleich noch ein Level höher gehen und sich im Bereich des Drogenschmuggels tummeln!? Da lernt man auch gleich so viele neue Leute kennen. Gut, die meisten davon sind irgendwie böse drauf, schrecken auch vor Gewalt nicht zurück und haben die seltsame Angewohnheit, Drogen zurück haben zu wollen, die sie aus unerfindlichen Gründen als die ihren bewerten, aber irgendwas ist ja immer.

Der aktuelle Teil der „Donnerstagsmordclub“-Reihe bietet also viel vom Altbewährten in durchaus gelungener Form. Von den vorangegangenen hebt sich der vierte Band unter anderem aber davon ab, dass Osman sich nicht scheut, auch mal ernstere Themen in größerem Umfang als bisher anzusprechen. Beispielsweise geht es in „Ein Teufel stirbt immer zuletzt“ um Dinge wie Demenzerkrankungen oder Sterbehilfe. Zwar findet die Auseinandersetzung damit nicht in ausuferndem Umfang oder in Form einer dialektischen Erörterung statt, weil ansonsten auch der heitere Grundton des Buches wohl irgendwie überschattet würde, für Osmans Verhältnisse aber doch ziemlich eindringlich. Und irgendwie gehören solche Dinge ja auch dazu, denn die Welt ist nicht immer Freitag, wie Horst Evers sagen würde.

Man kann also in aller Kürze feststellen, dass „Ein Teufel stirbt immer zuletzt“ eine mehr als gelungene Fortsetzung für Fans der Reihe darstellt. Allen, die das noch nicht sind, sei angeraten, mitten dem ersten Teil einzusteigen. Es wird euer Schaden nicht sein.

Demnächst in diesem Blog: „Die Schönheit der Rosalind Bone“ von Alex McCarthy.

„Evas Rache“ von Thomas Ziebula

Buch: „Evas Rache“

Autor: Thomas Ziebula

Verlag: Wunderlich

Ausgabe: Hardcover, 384 Seiten

Der Autor: Thomas Ziebula ist freier Autor und schreibt Krimis, biographische und historische Romane. 2001 erhielt er den Deutschen Phantastik-Preis, 2020 den Goldenen Homer. Seine erste Krimireihe um Inspektor Paul Stainer vereint auf beeindruckende Weise Thomas Ziebulas Leidenschaft für deutsche Zeitgeschichte, spannende Kriminalfälle und seine Liebe zu Leipzig, das bis heute seine Lieblingsstadt in Deutschland ist. Der erste Band der Reihe um Inspektor Stainer, «Der rote Judas», stand auf der Shortlist für den Crime Cologne 2020. Der Autor lebt in der Bonner Region. (Quelle: Wunderlich)

Das Buch: Leipzig, 1922. Es will keine Ruhe einkehren in der Wächterburg: Gleich drei Lustmorde in drei Monaten halten Paul Stainer und seine Kollegen in Atem. Stainer tritt auf der Stelle und fällt zunehmend zurück in seine Depression. Dass Junghans und Mona im Liebesglück schwelgen und beschließen, zu heiraten, macht es nicht besser. Erst als auf der Technischen Messe Leipzig Eva-Maria Dorn, die Frau eines erfolgreichen Ingenieurs und Unternehmers, überfallen wird, glaubt er, eine erste Spur zu haben, die ihn zu der «Bestie von Leipzig» führen kann. Stainers Nachforschungen bringen ihn auf die Fährte eines jungen Anarchisten mit dem Tarnnamen «Schlange», der gerade erst aus russischer Kriegsgefangenschaft heimgekehrt ist. Zunächst scheint der Fall eindeutig, doch die möglichen Motive sind vielfältig. Schon bald wird klar: Das Verbrechen geht weit über die Lustmorde hinaus – und auch in Eva-Maria Dorn steckt mehr als das unschuldige Opfer … (Quelle: Wunderlich)

Fazit: Der Autor Rolf Dobelli soll mal gesagt haben: „Nach vierzig ist das Leben zu kurz für schlechte Bücher“. Und ich weiß, was er meint, und dass er recht hat. Meines Erachtens hätte er aber auch noch hinzufügen müssen, dass das Leben nach vierzig zu kurz für jegliche Art von Buchreihen ist. Wenn ich, wie im vorliegenden Fall, also schon mal eine Buchreihe über eine vergleichsweise lange Zeit und bis zum Ende lese, dann muss es sich wohl um alles andere als schlechte Bücher handeln. Und das gilt weitgehend auch für „Evas Rache“.

Dabei profitiert die Reihe rund um den Ermittler Paul Stainer sehr von ihrem historischen Setting, das unter anderem fernab jeglicher forensischer Möglichkeiten und DNA-Vergleiche moderner Zeiten eben noch echte Ermittlerarbeit ermöglicht. Und innerhalb der Reihe ist „Evas Rache“ sogar der Teil, der insgesamt das meiste aus seinem Setting macht. Die Handlung findet in Teilen auf der Technischen Messe Leipzig statt – ein Handlungsrahmen, der vergleichsweise frisch und unverbraucht wirkt und mir in ähnlicher Form nur in „Der Turm der Welt“ von Benjamin Monferat aka Stephan M. Rother begegnet ist. Tatsächlich hätte ich mir aber gewünscht, dass der Autor hier noch ein bisschen mehr ins Detail geht, ein bisschen mehr das Messeflair einfängt, ein bisschen mehr darauf eingeht, was es dort an Innovationen denn alles zu sehen gab. Hier hätte das Buch vielleicht noch ein paar Seiten mehr vertragen.

Und ganz ähnlich verhält es sich auch mit den Charakteren. Man trifft natürlich auf die altbekannten und mittlerweile irgendwie liebgewonnenen Figuren wie Junghans, Mona oder Rosa. Man trifft aber auch in Person von Eva-Maria Dorn auf eine Figur, die nur im abschließenden Teil der Reihe auftaucht, und deren Entwicklung tatsächlich überraschend gut dargestellt ist. Überraschend deswegen, weil Eva-Maria zu Beginn des Buches auf nahezu gruselige Weise als unselbständiges, naives Dummchen daherkommt. Meine Hoffnung, dass das doch bitte nicht das ganze Buch über so bleiben möge, wurde allerdings erhört, und – auch bedingt durch die Umstände, in die sie so gerät – der Autor lässt aus ihr letztlich eine starke, unabhängige Person werden. Find ich gut.

Auch die alten, sich in den vorangegangenen Bänden entwickelnden Sympathien und Animositäten zwischen bestimmten Figuren werden im Abschlussband aufgegriffen, und schlüssig weitergeführt.

Lediglich der Protagonist Paul Steiner selbst sorgte bei mir irgendwie für Stirnrunzeln. Ich hatte den diffusen, nicht genau festzumachenden Eindruck, der Autor könne es dann doch kaum noch erwarten, seinen Protagonisten jetzt aber auch irgendwie loszuwerden. Das beginnt schon zum Einstieg des Buches. Das zu Beginn auftauchende Mordopfer ist nicht das erste einer Mordserie und Stainer – der auch in der Vergangenheit schon mit Alkoholproblemen aufgrund seiner Kriegserfahrungen zu kämpfen hatte – verfällt wieder in alte Handlungsmuster und Bewältigungsstrategien, die keine sind. Relativ zu Beginn wird man mit dem auf dem Balkon Schnaps trinkenden Stainer konfrontiert und als Leser vor die vollendeten Tatsachen einer schleichenden Entwicklung gestellt, die mit Beginn der Mordserie ihren Ursprung hatte. Vor dem Hintergrund der Bedeutung, die all das letztlich für Paul Stainers Zukunft hat, hätte ich davon gerne mehr mitbekommen, als später irgendwann dazukommen und mit einem sinngemäßen, erzählerischen „Das ist jetzt eben so.“ auskommen zu müssen.

Die Handlung selbst lässt eigentlich kaum Wünsche offen. „Evas Rache“ hat Anleihen aus verschiedensten Genres, ist im Ansatz Agententhriller, ist im Ansatz Verwechslungsgeschichte, ist in deutlich größerem Umfang Krimi und überzeugt durch Einfallsreichtum, Tempo und Spannung. Phasenweise wirkt das aber dann auch schon fast zu gehetzt, fast so, als wolle man jetzt dann bitte auch mal zum Ende kommen. Und in ähnlicher Form zeigte sich dieses Problem ja schon beim Setting und der Charakterdarstellung.

In Summe ist „Evas Rache“ also ein überzeugender Abschluss einer insgesamt sehr lesenswerten Krimireihe, der allerdings vielleicht einfach ein paar Seiten mehr gebraucht hätte, um seinem Handlungsrahmen, seinen Haupt- und Nebenfiguren und seiner Geschichte den Raum zu verschaffen, die sie eigentlich verdient und auch gebraucht hätten.

Ich danke dem Wunderlich Verlag für die freundliche Übersendung des kostenlosen Rezensionsexemplars. Die Tatsache, dass es sich um ein Rezensionsexemplar handelt, beeinflusst meine Meinung selbstredend nicht.

Ich danke zudem Thomas Ziebula, dem es gelungen ist, mich mit seiner Reihe über vier Teile und ebenso viele Jahre mehr als gut zu unterhalten. Das gelingt nicht jedem.

Demnächst in diesem Blog: „Der Donnerstagsmordclub oder Ein Teufel stirbt immer zuletzt“ von Richard Osman. Schon wieder eine Reihe …

„Hinter verschlossenen Türen“ von Sasha Naspini

Buch: „Hinter verschlossenen Türen“

Autor: Sasha Naspini

Verlag: Kein & Aber

Ausgabe: Hardcover, 576 Seiten

Der Autor: Sacha Naspini, geboren 1976 in Grosseto, lebt heute in Follonica. Er ist Drehbuchautor, schreibt für La Repubblica und arbeitet als Lektor und Artdirector mit verschiedenen Verlagshäusern zusammen. Er hat bereits mehrere Romane veröffentlicht, die in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden. Nives war sein erstes Buch, das auf Deutsch bei Kein & Aber erschienen ist. (Quelle: Kein & Aber)

Das Buch: Im rauen Herzen der Maremma liegt ein alter, in Felsen gehauener Ort, Le Case genannt. Es ist ein aussterbendes Dorf, ein Provinznest, in dem sich die Bewohner in einem Fluss öder Tage dahinschleppen – bis ihre Gemeinschaft durch die Ankunft von Samuele Radi aufgerüttelt wird, der in Le Case geboren und aufgewachsen ist, aber den Absprung geschafft hat. Seine Rückkehr haucht alten Geheimnissen und Animositäten neues Leben ein Samueles heimliche Liebesbeziehung zu Eleanora, die neu im Dorf ist, macht die Sache auch nicht einfacher. (Quelle: Kein & Aber)

Fazit: In Sasha Naspinis neuem Roman „Hinter verschlossenen Türen“ befinden wir uns im kleinen Dörfchen Le Case – zu deutsch: Die Häuser -, dessen unbeugsame Einwohner nicht aufhören würden, den Eindringlingen Widerstand zu leisten – wenn es die denn gäbe. Stattdessen geht in diesem kleinen beschaulichen Dörfchen alles seinen gewohnten Gang, wie es das schon seit Ewigkeiten tut.

Dann aber gibt es doch so eine Art Eindringling: Samuele Radi, geboren und aufgewachsen in Le Case, begeht die Dreistigkeit, erst mit der Justiz in Konflikt zu kommen, und dann auch noch nach Le Case zurückzukehren, um wieder im Haus seiner Kindheit einzuziehen. Und es regt sich auch Widerstand dagegen bei den bei genauerer Betrachtung manchmal doch gar nicht so unbeugsamen Dorfbewohnern.

Sasha Naspini nimmt uns nun zu einer Art Rundreise durch das Dorf und seine Einwohner mit. Sein Roman hat keinen klar auszumachenden Protagonisten bzw. Erzähler, aus dessen Sicht wir die Ereignisse verfolgen. Stattdessen springt der Autor von Einwohner und Einwohnerin, und manchmal auch wieder zurück, und lässt sie ihren jeweiligen Anteil an der Geschichte erzählen.

So erleben wir insgesamt, wenn ich mich nicht verzählt habe, 24 unterschiedliche kleine oder größere Geschichten, die allesamt mehr oder weniger eng miteinander im Zusammenhang stehen – wie sollte das in einem kleinen Dorf, in dem jeder jeden kennt, auch anders sein? – und die zudem im Bezug zur Rahmenhandlung rund um die Rückkehr von Samuele Radi stehen. Die meisten der persönlichen Geschichten der Einwohner sind vergleichsweise kurz und man wird ihnen, also den Einwohnern, zumindest als Erzähler, im weiteren Verlauf des Romans nicht mehr begegnen. Lediglich die Hintergrundgeschichte von Adele Centini, im Dorf als „Witwe Isastia“ bekannt, nimmt mehr Raum ein und wir kehren öfter zu ihr zurück.

Naspini gelingt auf diese Weise das Kunststück, peu à peu ein vergleichsweise komplexes und – zumindest für mich – faszinierendes Erzählgeflecht entstehen zu lassen, dessen Einzelteile über ausreichend Eigenständigkeit verfügen, um schon für sich alleine zu unterhalten, die aber erst im jeweiligen Zusammenspiel miteinander ihre volle Wirkung entfalten.

Dazu trägt auch bei, dass der Autor mit den Erwartungen seiner Leserschaft spielt und selbige letztlich bricht. Die Erwartungen, nicht die Leser. Immer wieder gleiten die einzelnen Geschichten unerwartet ins Düstere, zuweilen ins sehr Düstere ab, immer wieder stellen sich Sachverhalte, Figuren, Hintergründe als anders dar, als man es als Leser angenommen hat. Schwarzen Humor zu mögen, ist insofern sicherlich nicht unbedingt nötig, um das Buch zu mögen, wenn man ihn – wie ich – aber hat, dann kann man mit „Hinter verschlossenen Türen“ ein geradezu diebisches Vergnügen haben.

Auch die Figuren selbst tragen das Ihre zur Faszination des Buches bei. In den meisten Fällen allein schon deswegen, weil ihre Geschichten selbst eben gelungen sind. Man hätte sich nahezu beliebig Geschichten aus „Hinter verschlossenen Türen“ heraussuchen – beispielsweise die des jungen Mannes, der sich anschickt, als Schachgenie zu ziemlichen Ruhm und Reichtum zu gelangen, um letztlich aber doch wieder in der Einöde von Le Case zu langen -, und daraus selbst einen vollständigen, eigenständigen Roman entwickeln können.

Durch die Kürze der einzelnen Kapitel bzw. Erzählperspektiven – die meisten bekommen nur eine Handvoll Seiten spendiert, um ihre Sicht der Dinge, der Welt, des Lebens, des Universums und des ganzen Rests darzulegen – würde es eigentlich schwerfallen, irgendwelche Bezüge zu den Figuren zu entwickeln, dadurch, dass in Naspinis Roman irgendwie alles mit allem verbunden ist, gelingt das letztlich spannenderweise aber eben doch.

Wie es sich gehört für so ein kleines Bergdorf in karger Umgebung, so ist auch Naspinis Erzählweise in sprachlicher bzw. stilistischer Hinsicht gelegentlich ziemlich ruppig gehalten. Zudem weisen seine Figuren in irritierend hoher Zahl eine irritierend hohe Begeisterung für sexuelle Aktivitäten jeglicher Art auf. Gut, nun könnte man sagen: „Was will man in einem solchen abgelegenen Bergdorf denn sonst den ganzen Tag tun!?“, das alleine scheint mir als Begründung jedoch ungeeignet. Worin der offensichtliche Wunsch eines Großteils der Einwohnerschaft, sich gefühlt permanent amourös zu betätigen, begründet liegt, erschließt sich mir letztlich nicht, tut dem positiven Gesamteindruck aber nun auch keinen Abbruch.

Was Sprache und Stil angeht, so haben hier zudem die Übersetzerinnen, so weit ich das beurteilen kann, einen sehr überzeugenden Job gemacht. Den sie für mich im Nachwort jedoch ein wenig beschädigen, in welchem sie drauf verweisen, weniger „dem Wörtlichen verhaftet, sondern um Wirkungsäquivalenz bemüht“ gewesen zu sein. Daher habe man die „sprachliche Gewalt“ an einigen Stellen zurückgenommen und eher „einen allgemeinen Fluch oder ein konkretes Adjektiv, das keine bestimmte Gruppe Menschen beleidigt“ eingefügt, wenn im Original „verletzende Worte beiläufig eingestreut waren und so Gefahr liefen, sich unbewusst festzusetzen und Stereotype fortzuschreiben“.

Nun kann man das meinetwegen so machen. Und ich hatte auch nicht den Eindruck, dass mir sprachlich hier etwas fehlen würde oder gar vorenthalten wurde. Rückblickend fragt man sich dann aber eben schon, ob man beispielsweise den ortsansässigen Quotenfaschisten und Mussolini-Anhänger in Le Case sprachlich entschärft hat, und ob es jetzt Usus wird, nicht nur literarische Werke der Vergangenheit an heutige Standards anzupassen, welche man damit implizit als für alle Zeiten in Stein gemeißelt erklärt, sondern ob man mittlerweile auch hergeht, und Neuerscheinungen in einer Weise sprachlich modifiziert, die die entsprechenden Autorinnen und Autoren so nicht vorgesehen haben werden, da sie ihre Texte sonst ja selbst anders formuliert hätten.

Auch wenn mir, wie gesagt, gefühlt nichts gefehlt hat, finde ich die Vorgehensweise unglücklich gewählt. Andererseits will ich auch kein Politikum draus machen, denn im Gesamten gesehen ist das Leiden auf ziemlich hohen Niveau.

Insgesamt ist „Hinter verschlossenen Türen“ nämlich eine mehr als empfehlenswerte Leseerfahrung, insbesondere für Leserinnen und Leser, die komplexe, mosaikartige Erzählweisen zu schätzen wissen.

Ich danke Kein & Aber für die freundliche Übersendung des Leseexemplars. Die Tatsache, dass es sich um ein Leseexemplar handelt, beeinflusst meine Meinung selbstredend nicht.

Demnächst in diesem Blog: „Evas Rache“ von Thomas Ziebula.

400!

Liebe Leserinnen und Leser,

ich hatte Hoffnung, dass die Happiness Engineers bei WP mich mit einer entsprechenden Einblendung darüber informieren würden, um selbige dann in diesem Beitrag abbilden zu können, kann darauf aber vermutlich lange warten, weswegen wir jetzt ohne besagte Abbildung auskommen müssen.

Und eigentlich braucht es die auch nicht, um an dieser Stelle nur kurz darauf hinzuweisen, dass die Zahl meiner „Follower“ – irgendwie klingt der Begriff für mich immer noch ein bisschen nach Religionsführer – unlängst die 400 überschritten hat. Bei gleichbleibender Zuwachsrate und der zugegebenermaßen unrealistischen Annahme eine stagnierenden Weltbevölkerung würde das bedeuten, dass mir in irgendwas um 2 Millionen Jahren wirklich alle Menschen des Planeten „folgen“, falls ich mich nicht verrechnet habe, was als durchaus unwahrscheinlich angenommen werden kann.

Das könnte insofern schwierig werden, als ich plane, in etwa 2.000 Jahren das gesamte bis dahin besiedelte Universum zu regieren – und ob dann noch Zeit fürs Bloggen bleibt … wer weiß!? Andererseits findet ja sogar Olaf Scholz jetzt Zeit für TikTok …

Angesichts des Überschreitens der 300 Follower rief ich seinerzeit wegen des entsprechenden historischen Bezugs noch in einem offensichtlichen Anfall geistiger Umnachtung zu einer Reise zu den Thermopylen auf. Da böte sich ja eigentlich für die 400 Follower ein ähnliches Happening mit historischem Bezug an – nur, was war eigentlich im Jahr 400 …?

Aha – die Westgoten begannen nach Italien zu ziehen und verwüsteten einige Jahre später Rom … – gut, nun bin ich Protestant, aber Rom zu verwüsten, erscheint mir irgendwie … unangemessen. Außerdem hat mir Papst Franziskus nichts getan. Andererseits gäbe mir dieser Plan vielleicht die Möglichkeit Italien zu regieren. Und das vielleicht sogar länger am Stück als die Italiener das gewohnt sind. Und wenn ich keine Lust mehr habe, gehe ich einfach wieder, das kennt man dort ja. Hm, nein, vielleicht besser doch nicht.

Also, was war im Jahr 400 noch? Oh, das erste Konzil von Toledo fand statt. Dabei wurde unter anderem beschlossen, Giftmischerei mit lebenslanger Haft zu bestrafen. Na, dann ist ja gut. Okay – dann könnten wir unter Verweis auf dieses Konzil so eine Art riesiges Follower-Treffen veranstalten, auf dem dann bindende Beschlüsse für die Blogosphäre verabschiedet werden. Unter anderem die Verpflichtung für die Happiness Engineers, ein Badge für 400 Follower zu implementieren. Und den alten Editor zurückzubringen.

Ein solches Treffen würde mein oben erwähntes persönliches Empfinden als Religionsführer zudem zusätzlich stärken.

Aber dieser Aufwand! Nein!

Also, noch was anderes – was war 400 noch?

Die Erfindung des Bucheinbands. Aha. Nun, meinetwegen, aber den gibt es dann ja jetzt bereits. Einen neuen Bucheinband zu erfinden, wäre demnach witzlos. Weiter.

Die Kölner Basilika St. Ursula wurde gebaut. Eine Kirche bauen? Nein, dann lieber ein Follower-Treffen. Oder doch Rom verwüsten.

Tja, ich fürchte, da gibt es nichts, an dem man sich orientieren könnte …

Dann fällt das großangelegte Happening wohl aus und mir bleibt nur, mich allseits für die teils schon recht lange Treue bei meiner Leserschaft zu bedanken. Also: Ganz herzlichen Dank allerseits.

Gehabt euch wohl.

„Schlafes Bruder“ von Robert Schneider

Buch: „Schlafes Bruder“

Autor: Robert Schneider

Verlag: Reclam

Ausgabe: Taschenbuch, 212 Seiten

Der Autor: Der österreichische Schriftsteller Robert Schneider wurde am 16. Juni 1961 in Bregenz geboren. Seinen Durchbruch und größten Erfolg erzielte der Autor mit dem Roman Schlafes Bruder, der 1992 erstmals bei Reclam Leipzig erschien. Die international erfolgreiche Erzählung über einen jungen Musiker, der sich durch Schlafentzug das Leben nimmt, wurde in über dreißig Sprachen übersetzt und diente als Vorlage für Oper, Film und Ballett. Neben weiteren Romanen, Lyrikbänden und einer Novelle schrieb Schneider auch Texte für die Bühne. Sein Theaterstück Dreck mit dem Untertitel Über die Angst vor dem Fremden erhielt 1993 den Preis der Potsdamer Theatertage. Heute widmet sich der Autor vorwiegend dem Dokumentarfilm. (Quelle: Reclam)

Das Buch: »Das ist die Geschichte des Musikers Johannes Elias Alder, der zweiundzwanzigjährig sein Leben zu Tode brachte, nachdem er beschlossen hatte, nicht mehr zu schlafen.«


So beginnt der Debütroman von Robert Schneider, mit dem ihm vor 30 Jahren ein literarischer Welterfolg gelang. Der Auftaktsatz nimmt die Geschichte über das Leben eines Genies in der Enge eines österreichischen Bergdorfs vorweg: Schon als Kind ist der 1803 geborene Elias Außenseiter, sein außergewöhnlich scharfes Gehör und sein musikalisches Talent sorgen bei den Dorfbewohnern für Aufsehen und Argwohn. Die unerfüllte Liebe zu seiner Cousine Elsbeth quält ihn im Laufe der Jahre, und sie treibt ihn an. Bei einem Orgelwettbewerb in Feldberg improvisiert Elias über den Bach-Choral »Komm, o Tod, du Schlafes Bruder« und entfacht eine ungeahnt starke Wirkung auf sein Publikum und sich selbst. (Quelle: Reclam)

Fazit: Ursprünglich war ich davon ausgegangen, dass es sich bei meiner Lektüre von „Schlafes Bruder“ um das handelt, was Vertreter meiner Nachfolgegenerationen unnötigerweise als „Reread“ bezeichnen würden, wenn sie einfach sagen wollen, dass sie ein Buch nicht zum ersten Mal lesen. Denn eigentlich war ich mir ziemlich sicher, das Buch bereits einmal gelesen zu haben – vor so gefühlten 30 Jahren. Tatsächlich musste ich feststellen, mich aber an absolut nichts aus dem Buch erinnern zu können, weswegen berechtigterweise angezweifelt werden kann, dass ich es tatsächlich schon mal gelesen habe, denn ich bin ziemlich sicher, dass ich mich andernfalls erinnern könnte.

Woran ich mich jedoch zweifelsfrei erinnern kann, ist, die Vilsmeier-Verfilmung von 1995 gesehen haben, und fortan der bis heute ungebrochenen Überzeugung zu sein, dass man André Eisermann seinerzeit alle Filmpreise hätte zuwerfen müssen, die man gerade in die Hände bekommen hätte und es sich bei ihm um einen der unterbewertetsten Schauspieler handelt, die ich kenne.

Jener André Eisermann verkörpert in Vilsmeiers Film Johannes Elias Alder, der im Jahre 1803 in einem kleinen Dorf im Vorarlberg zur Welt kommt, in dem es exakt zwei Familiennamen gibt. Die entsprechenden Folgen des überschaubaren Genpools dürften klar sein, Elias jedoch scheint unter einen guten Stern geboren worden zu sein. Eigentlich. Irgendwie.

Denn im Alter von 5 Jahren vollzieht sich bei ihm eine spontane Änderung, die ihn vorzeitig pubertieren und altern und seine Augen gelb werden lässt. Er entwickelt in diesem Zusammenhang aber auch ein immens gutes Gehör. Auch seine Stimme entwickelt sich, wird tiefer, eignet sich für wohlklingenden Gesang und die Stimmenimitation verschiedenster Dorfbewohner.

Im späteren Verlauf verliebt sich Elias bis über beide Ohren in seine Cousine Elsbeth. Als ihm die Worte eines Wanderpredigers wieder einfallen, der sinngemäß propagiert hat, dass Schlaf Sünde sei, weil man währenddessen nicht lieben könne, beschließt Elias letztlich, als Liebesbeweis für Elsbeth, nie mehr zu schlafen …

Über 30 Jahre nach der Veröffentlichung des Buches sitze ich nun hier, und versuche, die offensichtliche Anziehungskraft desselben zu verstehen. Denn die ist zweifellos vorhanden. Man mag das Buch ungern aus der Hand legen und es hallt nach Ende der Lektüre noch lange nach. Nur woran das liegt, das lässt sich für mich schwerlich festmachen.

Sicher ist da der Aspekt der Sprache zu erwähnen. Zahlreiche Schneidersche Neologismen, viele Dialektbegriffe und Worte, vorzugsweise irgendwie aus dem landwirtschaftlichen Themenbereich, die ich vorher nie gehört, und von denen ich sicher bin, dass ich sie auch nie wieder brauche, sowie eine insgesamt häufig antiquiert wirkende Sprache, verbunden mit einem auktorialen Erzähler, der sich immer mal wieder direkt an die Leserschaft wendet, lassen das Buch ungemein lebendig wirken. Passagen wie die gleich zu Beginn, als sich besagter Erzähler beispielsweise seitenlang in den Gedanken der Hebamme verliert, die sich mit der Frage plagt, wen sie denn nun heiraten soll, während Elias Mutter daneben in den Wehen liegt und schmerzerfüllt vor sich hin schreit, nur um dann eben noch beiläufig zu erwähnen, wie das weitere Leben der Hebamme vonstatten ging und festzustellen, dass wir dieser Figur im weiteren Verlauf nicht wieder begegnen werden, verleihen dem Text eine gewisse Nonchalance und einen gewissen Charme.

Aber das alleine kann es nicht sein.

Vielleicht ist es das Figurenensemble, denn Schneider bevölkert seinen Roman mit eine Vielzahl mehr oder weniger schräger Charaktere, von denen die meisten gut getroffen sind. Seien es Elias Eltern, die auf die offensichtliche Veränderung ihres Sohnes so reagieren, wie viele andere Menschen auch auf Dinge, die sie nicht verstehen oder die ihnen nicht gefallen: Sie sperren ihn weg, und tun einfach so, als wäre alles wie immer. Sei es Eilas Cousin Peter, der zu Gewaltausbrüchen neigt und vor heutigen Standards wohl als verhaltensoriginell durchgehen würde. Sei es aber eben dieser Johannes Elias Alder selbst, an dessen Schicksal man so viel Anteil hat und nimmt.

Aber auch das kann es noch nicht so wirklich sein.

Vielleicht ist es auch die Geschichte selbst, die – zumindest damals – herzerfrischend unverbraucht dahergekommen sein muss, und die die Frage aufwirft, wie viel menschliches Genie eben dieser Menschheit wohl verlorengeht, weil die Personen dahinter in Regionen und/oder unter Umständen leben, die es ihnen unmöglich machen, ihr jeweils individuelles Potenzial auch wirklich abzurufen.

Letztlich vermag auch Rainer Moritz in seinem – trotzdem ansonsten sehr erhellenden – Nachwort zu „Schlafes Bruder“ nicht abschließend zu klären, was es denn genau ist, was die Faszination und den bis heute anhaltenden Erfolg ausmacht. Zwar thematisiert er in diesem Zusammenhang die anhaltende verstörende Wirkung des Buches sowie vielleicht einfach einen gewissen Zeitgeist, den der Autor mit der Veröffentlichung seines Buches getroffen  haben könnte – letztlich wird das allein es aber sicher auch nicht sein.

Vielleicht muss man manchmal aber auch gar nicht so genau benennen können, was die Faszination eines bestimmten Buches ausmacht. Vielleicht genügt es manchmal ja auch, festzustellen, dass eben diese Faszination halt einfach da ist. Und das ist bei „Schlafes Bruder“ zweifellos der Fall. Wer diesen modernen Klassiker also bislang verpasst hat, kann ihn meines Erachtens guten Gewissens nachholen.

Demnächst in diesem Blog: „Hinter verschlossenen Türen“ von Sacha Naspini.