„Dein Fortsein ist Finsternis“ von Jón Kalman Stefánsson

Buch: „Dein Fortsein ist Finsternis“

Autor: Jón Kalman Stefánsson

Verlag: Piper

Ausgabe: Hardcover, 544 Seiten

Der Autor: Jón Kalman Stefánsson, geboren 1963 in Reykjavík, zählt zu den bedeutendsten Schriftstellern Islands. Er arbeitete in der Fischindustrie, als Maurer und Polizist, bevor er sich in Mosfellsbær bei Reykjavík niederließ. Sein Werk wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und in ganz Europa ausgezeichnet, u.a. mit dem isländischen Literaturpreis. Der internationale Durchbruch gelang ihm mit „Himmel und Hölle“, zuletzt erschienen „Etwas von der Größe des Universums“ und „Ástas Geschichte“. 2018 war Jón Kalman Stefánsson für den alternativen Literaturnobelpreis nominiert. (Quelle: Piper)

Das Buch: Ein Mann erwacht in einer Kirche, irgendwo tief in den Westfjorden Islands, und erinnert sich an nichts. Doch die Frau, der er auf dem Friedhof begegnet, erkennt ihn wieder. Rúna berichtet von ihrer verstorbenen Mutter, und sie schickt ihn zu ihrer Schwester Sóley, mit der ihn eine brüchige Nähe zu verbinden scheint. Mithilfe ihrer und anderer Erzählungen setzt er sein Leben neu zusammen – bis sich nicht nur sein, sondern das Schicksal aller Menschen dieses einsamen Fjords vor uns erhebt. (Quelle: Piper)

Fazit: Um es gleich vorweg zu sagen: Ich will Sonne! Und ich will nicht nur Sonne, ich will auch Wochenende. Ich weiß, wir hatten gerade eines. Und ich will beides zusammen, nicht jeweils separat für sich. Ich will – ich möchte für gewöhnlich, mittlerweile will ich aber – also Sonne und Wochenende. Am besten gleich. Das würde nämlich die Gelegenheit bieten, sich mal wieder ein ganzes Wochenende lang mit einem Buch im Garten einzufinden, und selbiges dann auch zügig durchzulesen. Denn es gibt Bücher – und „Dein Fortsein ist Finsternis“ ist so eins -, die profitieren vermutlich ungemein davon, wenn man sie in recht kurzer Zeit durchlesen kann und nicht nur hier und da mal ein wenig vorankommt. Der zögerliche Lesefortschritt ist vermutlich einer der Gründe, warum Stefánssons Buch, um auch das gleich vorweg zu sagen, bei mir nicht vollständig gut ankam.

Dabei wollte ich nach etwa 150 zügig gelesenen Seiten dieses Buch sogar noch verschenken. Also, nicht in dem Sinne, dass ich es einfach nur loswerden wollte, und notfalls auch für lau, sondern in dem Sinne, dass ich durchaus Menschen kenne, von denen ich sicher bin, dass ich ihnen mit diesem Buch eine kleine Freude gemacht hätte.

Auf diesen 150 Seiten lernen wir den namenlosen Protagonisten des Buches kennen – und er sich selbst auch ein bisschen -, der eines Tages in einem isländischen Örtchen in der Kirche aufwacht und sich weder daran erinnern kann, wer er ist, noch an sonst irgendwas. Für gewöhnlich, das gebe ich gerne zu, kann ich mit dem Motiv der Amnesie in der Literatur nicht mehr so wirklich etwas anfangen, weil ich es als arg überstrapaziert empfinde, vor dem Hintergrund der gesamten Thematik des Buches ergibt es aber mehr als nur ein wenig Sinn.

Beim Verlassen der Kirche trifft der Protagonist auf Rúna, die ihn zu kennen scheint. Unser vergesslicher Held versucht, sich nichts anmerken zu lassen, und sich durch die Erzählungen der Menschen so langsam selbst ein Bild zusammenzusetzen. Beispielsweise, indem Rúna ihm die Geschichte ihrer Eltern erzählt, die nur deshalb zueinander fanden, weil Rúnas Mutter und ihr damaliger Freund auf dem Weg in ein weiter nördlich gelegenes Seebad eine Reifenpanne hatten und dabei auf Rúnas späteren Vater trafen.

Ausgehend von dieser Geschichte geht Stefánsson immer weiter zurück in der Zeit, wendet sich einer durchaus nennenswerten Zahl an Figuren und deren (Vor)-Geschichten zu und setzt somit Stück für Stück ein Gesamtbild der Bewohner und eine Art Stammbaum des isländischen Örtchens zusammen.

Und das ist auf handwerklicher Ebene wirklich sehr gut gemacht, und erreicht mich anfänglich durchaus auch in emotionaler Hinsicht, reißt zuweilen zu diversen „Ahs!“ und „Ohs!“ hin. Und dem Wunsch, das Buch zu verschenken. Mit zunehmender Seitenzahl, die in umgekehrt proportionalem Verhältnis zum Lesetempo stand, offenbaren sich für mich dann aber doch so einige Schwierigkeiten, die den anfänglich positiven Eindruck ein wenig verhagelt haben.

Denn was zu Beginn noch emotional wirkt, wirkt früher oder später – weil gefühlt so wirklich jede Figur ein in irgendeiner Weise tragisches Schicksal hat – leider nur noch nervtötend. Man möchte dem Buch irgendwann: „ICH HAB ES AUCH NICHT IMMER LEICHT!“ entgegenbrüllen. Und es wirkt nervtötend, weil im späteren Verlauf deutlich wird, dass das, was Stefánssons Figuren, oder sein Protagonist, an vermeintlich hochphilosophischen Gedanken zum Leben, dem Universum und dem ganzen Rest, beizutragen haben, zwischenzeitlich nicht über Gemeinplätze hinausgeht, die nicht nennenswert tiefsinniger sind, als würde ich „Es is‘ ja, wie es is‘ …“ sagen, die aber so bedeutungsschwanger daherkommen, als wäre die Weisheit der gesamten Menschheit in ihnen gefangen. Vielleicht ist sie das ja auch und sie kommt deswegen nicht raus.

Dazu kommt dann noch die unfassbar redundante Erzählweise. Nicht, indem Handlungselemente häufiger erzählt würden, sondern eher durch die massenhafte Verwendung einzelner erzählerischer Motive und Formulierungen. Beispielsweise wird gefühlt tausendfach über die Frau des Pastors Pétur gesagt, dass sie „Hände aus Licht“ habe. Und wenn man kein unfassbar schlechtes Namensgedächtnis hat – und gut ist meins keinesfalls -, dann weiß man auch, dass Guðríður irgendwann mal einen Artikel über Regenwürmer geschrieben hat und dieser in einer Fachzeitschrift veröffentlicht wurde. Man muss das nicht milliardenfach wiederholen. Ähnliche Beispiele gäbe es zuhauf. Das mag Poesie sein, ich persönlich finde es irgendwo zwischen befremdlich und fürchterlich.

Dabei ist Stefánssons erzählerisches Anliegen ein recht hehres, denn nach meinem Verständnis des Romans liegt es im Versuch, gegen das Vergessen anzuschreiben. Er beschäftigt sich viel mit der Frage, was von uns denn bleibt, wenn wir gehen. Denn „Tot nur ist, wer vergessen wird.“, wie es nicht bei Yoda, sondern bei Christian von Zedlitz heißt. Aber was dann? Wenn die, die sich noch an uns erinnern können, ebenfalls gehen? Und die danach? Fällt man gänzlich der Vergessenheit anheim? Und ist das schlimm? Denn tragen wir nicht – in irgendeiner Hinsicht – dazu bei, dass folgende Generationen auf vergangenen und aktuellen aufbauen können? Ist es dann so tragisch, wenn die oder der Einzelne in Vergessenheit gerät? Und falls ja, kann man dagegen vielleicht irgendwas tun? Vielleicht dagegen anschreiben? Seine Gedanken und Gefühle, seine vollständige Weltsicht schriftlich festhalten, auf dass potenziell für alle Zeiten erhalten bliebe, was ich über das Leben, das Universum und den ganzen Rest denke? Und was dann?

Der isländische Autor wird diesem Anliegen mit seinem Buch in handwerklicher Hinsicht sogar vollkommen gerecht. „Dein Fortsein ist Finsternis“ ist hervorragend aufgebaut, das muntere und teils willkürlich wirkende Umherspringen zwischen Zeiten und Personen macht Spaß zu lesen und letztlich widmet er sich den im letzten Absatz genannten Fragen intensiv.

In Summe scheitert der Roman für mich aber eben an den erwähnten, erzählerischen Verschrobenheiten und dem gravitätischen, tiefgründigen Anstrich, den sich der Roman selbst verleiht, durch den aber zuweilen der Firnis der Banalität durchschimmert.

Vielleicht tue ich dem Buch aber auch unrecht. Vielleicht hätte es mir bei sonniger Wetterlage besser gefallen. An einem Wochenende. So jedoch habe ich, das gebe ich zu, die letzten etwa 80 Seiten allenfalls quergelesen und stelle fest, dass man sich dem allenthalben geäußerten Lob über einen Roman ja nicht immer anschließen muss.

Demnächst in diesem Blog: Entweder Clemens J. Setz oder Richard Osman. Oder ganz was anderes.

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9 Kommentare zu „„Dein Fortsein ist Finsternis“ von Jón Kalman Stefánsson

    1. Vielen, herzlichen Dank! Ein sonniges Wochenende scheint der passende Hintergrund für die Lektüre zu sein, auch wenn es bis zu einem solchen wohl noch eine Weile dauern wird. ;-) Zusätzlich muss erwähnt werden, dass das Buch allenthalben gelobt wurde, ich hier also eher so etwas wie ein Minderheitenvotum vertrete … :-)

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  1. Falls Du eine Entscheidungshilfe brauchst, mich würde Clemens J. Setz interessieren, da ich einen Bekannten habe, der mir inzwischen schon penetrant von ihm vorschwärmt, andere Quellen lassen mich jedoch sehr skeptisch sein. Bin also gespannt auf Deine Meinung, egal, ob es der nächste oder übernächste Beitrag wird :)

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  2. Umwerfend gute Buchbesprechung!
    Manchmal frage ich mich, warum du nicht selbst Romane schreibst, anstatt die anderer Autoren zu rezensieren, bei der Fabulier- und Formulierkunst, die du dein eigen nennst …
    LG vom Lu

    Gefällt 3 Personen

    1. Vielen Dank für die Blumen!

      Nun soll Gustave Flaubert ja sinngemäß gesagt haben: „A man is a critic when he cannot be an artist.“ – auch wenn er sich vermutlich der französischen Sprache bedient hat. :-)

      Aber recht hatte er trotzdem. Es ist sehr viel einfacher, über etwas zu schreiben, weil der Gegenstand des Schreibens schon existiert. Für ein Buch müsste ich mir ja was ausdenken. Und Zeit investieren. Und Arbeit. Und so. Neee … ;-)

      Gefällt 2 Personen

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