Buch: „Über Menschen“
Autorin: Juli Zeh
Verlag: Luchterhand
Ausgabe: Hardcover, 416 Seiten
Die Autorin: Juli Zeh, 1974 in Bonn geboren, studierte Jura in Passau und Leipzig. Schon ihr Debütroman „Adler und Engel“ (2001) wurde zu einem Welterfolg, inzwischen sind ihre Romane in 35 Sprachen übersetzt. Ihr Gesellschaftsroman „Unterleuten“ (2016) stand über ein Jahr auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Juli Zeh wurde für ihr Werk vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Rauriser Literaturpreis (2002), dem Hölderlin-Förderpreis (2003), dem Ernst-Toller-Preis (2003), dem Carl-Amery-Literaturpreis (2009), dem Thomas-Mann-Preis (2013), dem Hildegard-von-Bingen-Preis (2015) und dem Bruno-Kreisky-Preis (2017) sowie dem Bundesverdienstkreuz (2018). 2018 wurde sie zur ehrenamtlichen Richterin am Verfassungsgericht des Landes Brandenburg gewählt. (Quelle: Random House)
Das Buch: Dora ist mit ihrer kleinen Hündin aufs Land gezogen. Sie brauchte dringend einen Tapetenwechsel, mehr Freiheit, Raum zum Atmen. Aber ganz so idyllisch wie gedacht ist Bracken, das kleine Dorf im brandenburgischen Nirgendwo, nicht. In Doras Haus gibt es noch keine Möbel, der Garten gleicht einer Wildnis, und die Busverbindung in die Kreisstadt ist ein Witz. Vor allem aber verbirgt sich hinter der hohen Gartenmauer ein Nachbar, der mit kahlrasiertem Kopf und rechten Sprüchen sämtlichen Vorurteilen zu entsprechen scheint. Geflohen vor dem Lockdown in der Großstadt muss Dora sich fragen, was sie in dieser anarchischen Leere sucht: Abstand von Robert, ihrem Freund, der ihr in seinem verbissenen Klimaaktivismus immer fremder wird? Zuflucht wegen der inneren Unruhe, die sie nachts nicht mehr schlafen lässt? Antwort auf die Frage, wann die Welt eigentlich so durcheinandergeraten ist? Während Dora noch versucht, die eigenen Gedanken und Dämonen in Schach zu halten, geschehen in ihrer unmittelbaren Nähe Dinge, mit denen sie nicht rechnen konnte. Ihr zeigen sich Menschen, die in kein Raster passen, ihre Vorstellungen und ihr bisheriges Leben aufs Massivste herausfordern und sie etwas erfahren lassen, von dem sie niemals gedacht hätte, dass sie es sucht. (Quelle: Random House)
Fazit: Braucht es zur erfolgreichsten Neuerscheinung des Jahres 2021 wirklich eine weitere Rezension? Habe ich den unzähligen Stimmen, die sich zu Juli Zehs „Über Menschen“ äußerten, wirklich noch neue, relevante Gedankengänge hinzuzufügen? Beide Fragen müssen ehrlicherweise wohl mit „Nein!“ beantwortet werden. Da hierzu also wohl alles gesagt ist, nur noch nicht von jedem, muss ich meinen Eindruck zu Juli Zehs Roman dennoch loswerden. Gesprächsstoff liefert dieser nämlich allemal. Deswegen ist nachfolgender Text auch nichts für die „tl;dr“-Generation. Ich sag´s nur vorher …
Dora, die Protagonistin des Romans, lebt zusammen mit ihrem Freund Robert, tätig für eine Online-Zeitung, in Berlin. Dann bricht die Pandemie über das Land herein. War Robert vorher schon mit einem umfassenden ökologischen Bewusstsein und einer großen Begeisterung für die Fridays-for-Future-Bewegung ausgestattet, was in der Beziehung mit Dora bereits zu Konflikten geführt hat – und sei es nur über die Mülltrennung -, so ändert sich seine Persönlichkeit während der Pandemie noch zusätzlich. Er beginnt, neurotische Züge auszubilden und die Pandemie sowie die beiden unterschiedlichen Sichtweisen darauf bildet praktisch das einzige Gesprächsthema zwischen den beiden Mittdreißigern.
Konsequenz für Dora: Sie muss da ganz dringend raus! Wie gut, dass sie sich in weiser Voraussicht ein kleines Häuschen in einem Örtchen namens Bracken – phonetisch reine Poesie -, irgendwo im Brandenburgischen, gekauft hat. Mit Sack und Pack und ihrer Hündin namens „Jochen-derr-Rochen“ – was entweder den Versuch, die Genderthematik ins ländliche Brandenburg zu tragen, einen sehr individuellen Humor oder schlicht Blödsinn darstellt – siedelt Dora nach Bracken über.
Im Folgenden schildert Juli Zeh den Versuch ihrer Protagonistin, sich im ländlichen Brandenburg einzuleben, sich mit Gegebenheiten wie einem praktisch nicht existenten ÖPNV zu arrangieren und die Bewohner des Dörfchens kennenzulernen.
Diese Bewohner, Dora inbegriffen, wirken ausnahmslos ziemlich klischeebeladen. Offensichtlich gibts auf dem brandenburgischen Land nur Nazis. Heini, der Nachbar von Gegenüber, hilft Dora zwar immer mit massivem Werkzeug bei Arbeiten am bzw. ums Haus, sondert dabei aber regelmäßig rassistische Witze ab. Auch das schwule Pärchen ein paar Häuser weiter scheint recht AfD-affin zu sein. Frau Weidel ist also nicht allein. Und dann wäre da ja noch Gote, der direkte Nachbar, der sich Dora am Gartenzaun mit dem Hinweis vorstellt, er sei hier so was wie der „Dorfnazi“. Spätestens nachdem er dieser Selbsteinschätzung Taten folgen lässt, indem er mit Kumpels Bier trinkend im Garten sitzt und gemeinschaftlich das Horst-Wessel-Lied grölt, lässt sich von Leserseite besagter Selbsteinschätzung wenig Widerspruch entgegenbringen.
Dora lernt Gote aber auch von einer anderen Seite kennen. So hilft er der jungen Frau tatkräftig, sich im Ort zurecht zufinden, stellt zwischendurch aber auch mal die Antwort auf eine Frage dar, die nie gestellt wurde. Beispielsweise, wenn Dora nach Hause kommt und feststellt, dass Gote ihr in ihrer Abwesenheit ein Bett gezimmert und ins Haus gebracht hat. Ich finds gruselig-übergriffig, Dora findet es toll, irgendwie rührend. Deswegen beschreitet Juli Zeh diesen Weg auch weiter. DIe Bindung zwischen den beiden Hauptfiguren wird enger, immer wieder schildert die Autorin der Leserschaft, die natürlich immer im Hinterkopf hat, dass es sich hier um den „Dorfnazi“ handelt, die andere Seite von Gote. Die freundliche. Die nachbarschaftliche. Die fürsorgliche. Auch Dora selbst ist bewusst, dass Gotes Weltanschauung im Grunde verabscheuungswürdig ist. Aber er ist doch so nett. Da wundert es auch nicht, dass Dora dann auch an Gotes Seite bleibt, als es für ihn mal nicht so rund läuft.
Irgendwann war dann der Punkt erreicht, an dem ich Fragen hatte. Der Punkt, an dem ich mich beispielsweise fragte, was, um alles in der Welt, mir Juli Zeh mit ihrem Roman sagen möchte. Stellt „Über Menschen“ nichts anderes dar, als die Aufforderung, mit Nazis zu reden? Die Menschen dahinter und ihre Beweggründe zu erkennen? Weil sie vielleicht Gründe haben, so geworden zu sein, wie sie nunmal sind? Schlägt sie hierbei in dieselbe Kerbe wie ein ehemaliger Bundespräsident, der vor einigen Jahren eine „erweiterte Toleranz in Richtung rechts“ forderte? Hat sich Juli Zeh hier irgendwie vertellkampt?
Falls dem so ist, hat sich die Autorin verhementen, dreifachen Widerspruch verdient.
Zum einen wäre ihre Darstellung der Hauptfigur dann eben nicht so wirklich stringent. Denn es darf schon fragend eingeworfen werden, warum sich Dora so sehr bemüht, den Menschen hinter der eigentlich verabscheuungswürdigen Figur Gote zu erkennen, sie sich aber bei ihrem eigenen Freund Robert – mit dem sie immerhin einige Jahre zusammen verbracht hat, und der wenigstens kein gewaltbereiter Nazi ist, sondern allenfalls etwas anstrengend – offensichtlich außerstande sieht, zu hinterfragen, warum er so ist, wie er ist. Vielleicht hat Robert Gründe dafür, nicht so ganz stressresistent, resilient und krisenfest zu sein. Das aber interessiert Dora nicht. Allerdings hat Robert ihr auch kein Bett gezimmert …
Zum zweiten reden wir hier bezüglich der Figur des „Dorfnazis“ Gote eben nicht nur von einem, der nur mal am Stammtisch blubbert, dass die Ausländer an allem schuld sind und sowieso schon viel zu viele davon hier – und ein Bier später dann in individuellem Verständnis von logischer Konsequenz den Fachkräftemangel anprangert, gegen den ja niemand was tut. Nein, wir reden hier von jemandem, der wegen versuchten Totschlags im Knast gesessen hat. Wir reden hier von jemandem, der über die Geschehnisse von Rostock-Lichtenhagen sagt: „“Abends Pyro, Bier und geile Stimmung. War ein Volksfest.“
Kurzer Exkurs, da es Leserinnen und Leser unter 30 gibt: In Rostock-Lichtenhagen fanden 1992 die schwersten rassistischen Angriffe auf Menschen seit Ende des Zweiten Weltkriegs statt. Schon im Jahr davor hatte die Anzahl fremdenfeindlicher Angriffe massiv zugenommen – ähnlich wie ab 2015, weil die Menschen offensichtlich nicht dazu lernen oder nur nachsehen wollten, ob sie Pogrome noch beherrschen. Über einen Zeitraum von 4 (!), in Worten: vier, Tagen waren zunächst die „Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber“ Ziel von Attacken mit Molotow-Cocktails und Betonplatten durch die Verdummten und Vermummten. Dieses wurde später evakuiert, ein angrenzendes Asylbewerberheim, in dem sich noch 115 Vietnamesen und ein Team des ZDF aufhielten, jedoch nicht. In der Folge richteten die Randalierer, die teilweise in die Trikots gewandet herumliefen, in denen zwei Jahre zuvor Andy Brehme und Rudi Völler den WM-Titel holten, ihren Frust auf dieses Gebäude und dessen Bewohner. Am dritten Tag der Randale konnten die Bekloppten und Bescheuerten – um mal Dietmar Wischmeyer zu zitieren – dann das Gebäude stürmen, auch weil die Polizei wegen Fehlern auf der Leitungsebene immer mal wieder mit Abwesenheit oder Inaktivität glänzte. Dass es letztlich keine Todesfälle gab, dürfte reine Glückssache und der Tatsache geschuldet sein, dass die Bewohner des Gebäudes sich selbständig aufs Dach retten konnten.
Mein 15 Jahre altes Ich, geschichtsunterrichtlich entsprechend vorgebildet und daher mit einer unerschütterlichen und nach wie vor vorhandenen „Nie wieder“-Überzeugung ausgestattet, von der ich annahm, jeder normal denkende Mensch müsste sie teilen, saß damals fassungslos vor dem Fernseher. In den Flammen des Sonnenblumenhauses verbrannte mein Idealismus.
Exkurs Ende.
Wir reden also von einem Typen, der die genannten Ereignisse als „Volksfest“ einstuft, der dessen „geile Stimmung“ lobt. Ganz ehrlich: Mit so einem Menschen, für den Gewalt nicht die letzte Zuflucht des Unfähigen darstellt, um es mal mit Asimov zu sagen, sondern für den sie adäquates Mittel zum Zweck ist, mit so einem Menschen möchte ich gar nicht reden! Und es interessiert mich dann auch nicht im Geringsten, warum Gote so tickt, wie er tickt. Es ist mir völlig egal, ob er eine schwere Kindheit hatte – auch weil aus dem Kind irgendwann ein erwachsener Mann wird, der Dinge hinterfragen sollte -, es ist mir egal, ob er sich in irgendeiner Art und Weise abgehängt sieht, und reflexhaft andere dafür verantwortlich machen muss. Nein, ich möchte nicht den Menschen hinter dem Dorfnazi kennenlernen, nicht die möglicherweise gepeinigte Seele eines Menschen, der ein ach so hartes Leben gehabt haben mag. Stattdessen ist mir Gote angesichts seiner Vorgeschichte, aus der er nicht dazulernt, sondern ableitet, dass das alles schon irgendwie so seine Richtigkeit hatte und irgendwie „geil“ war, vor allem eines: Vollkommen egal!
Und der dritte Einwand, der gegen Juli Zehs Auforderung zum Dialog spricht: Sollte man der Aufforderung, mit Nazis zu reden, nachkommen, würde man ihre Weltsicht von einer verabscheuungswürdigen, buchstäblich indiskutablen Ideologie zu einer ernstzunehmenden Gesprächsgrundlage befördern. Und spätestens da steige ich aus. Hass ist keine Meinung!
Hat sich Juli Zeh denn nun, wie oben bereits gefragt, vertellkampt oder vergauckt?
Ich denke nicht. Ich denke, „Über Menschen“ ist nichts weiter als das Abbild einer nach meinem Dafürhalten leicht naiven Weltsicht, in der sich doch bitte alle lieb haben sollen, um mich in meiner Komfortzone nicht über Gebühr zu stören. Eine Weltsicht, die sich unlängst auch dadurch ausdrückte, dass die Autorin sich bezüglich des Ukraine-Kriegs dafür aussprach, dass beide Seiten eine Verhandlungslösung finden müssten und dabei ausblendete, dass der Aggressor dieses Konflikts dabei an so ziemlich allem interessiert sein dürfte, insbesondere am gesamten ukrainischen Staatsgebiet, aber sicherlich nicht an Verhandlungen.
Als solches kann ich Juli Zehs Appell durchaus respektieren, teile ihn aber in keiner Weise.
Trotz der umfassenden vorangegangenen Kritik muss ich allerdings zugeben, dass ich „Über Menschen“ ausgesprochen gerne gelesen habe. Juli Zeh verfügt über einen gewissen Sprachwitz, die Dialoge sind zuweilen absolut auf den Punkt und die Charaktere mögen klischeebeladen sein, andererseits werden diese Klischees im Roman nicht selten auch ausgehebelt. Dass ich einen Roman gerne gelesen habe, der bei mir während der Lektüre solche Widerstände hervorruft, wundert mich selbst am meisten. Und wenn ein Buch so etwas schafft, dann ist es wohl ein gutes.
Demnächst in diesem Blog: „Als Einstein und Gödel spazieren gingen“ von Jim Holt.
Ich habe dieses Buch als Hörbuch „genossen“ und fand es recht gut.
Klar kann man darüber diskutieren ob man mit einem Nazi überhaupt näheren Kontakt haben wollte oder nicht. Für mich hat es gezeigt, dass hinter jede noch so extreme Richtung auch nur ein Mensch steckt, der abgesehen von seiner „Neigung“ auch nur ein normales Leben führt.
Was mir sehr gefallen hat, war die Tatsache, dass sie ihre Story gut in die gegenwärtige Situation eingebunden hat.
Gute Rezension von dir Fraggle.
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Zunächst mal danke für das Lob und entschuldige die späte Rückmeldung.
Zugegeben, die Gestaltung des Romans als gefühlt den ersten „Pandemie-Roman“ hatte eine gewisse Cleverness. :-)
Was den Umgang mit Nazis angeht, so finde ich eben nicht, dass man darüber diskutieren kann. Es darf keine Toleranz gegenüber Intoleranz geben. Und rechtes Gedankengut ist auch nicht nur eine „Neigung“. Fußfetischismus ist eine „Neigung“, rechtes Gedankengut dagegen ist widerlich, verscheuungswürdig und mit Sicherheit keine Diskussionsgrundlage. Der Mensch dahinter ist mir dann absolut scheißegal, andere sind es ihm ja schließlich auch.
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Gerne und kein Problem.
Ja, das sehe ich genauso.
Trotzdem habe ich mich nach dem Hörbuch gefragt wie ich oder andere handeln würden, wenn man erst viel später herausfinden würde, dass jemand den man kennengelernt hat, ein Nazi ist.
Glatze ist ja kein zwingendes Merkmal. Oder wie würden wir reagieren wenn man nach Jahren feststellt, dass ein direkter Nachbar Nazi wäre. Ehrlich gesagt, hatte ich darauf keine Antwort.
Dies könnte auch der Hintergrund des Buches sein, zu zeigen wie viele Facetten in jedem von uns stecken.
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Das mag sein, für die Deutung wäre die Darstellung Gotes dann aber zu plakativ. Es wird mit seiner Weltanschauung ja nicht wirklich hinterm Berg gehalten, im Grunde genommen ist das ja sogar der Einstieg in den ersten Dialog der beiden.
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Im Fall des Buch nicht, klar.
Da ist die Story geradezu absurd, weil wer würde dann freiwillig weiterhin Kontakt haben wollen.
Äußerst mutig der Autorin diesen Weg zu wählen.
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Ja, schöne Unterhaltung. Danke dafür. Verstehe Deinen Punkt, ahne persönliche Betroffenheit und möchte gar nichts genaueres wissen.
Nur noch kurz: Vielleicht beschreibt sie sehr eindringlich die Perspektive von pflegenden oder begleitenden oder auch Hinterbliebenen Verwandten oder Freunden. Und da ist das beherrschende Gefühl sehr gut getroffen, nämlich Hilflosigkeit, die sich allmählich in Wut verwandelt, wo maximale Destruktivität nicht als Erlösung, die gibt es nicht mehr, sondern als bloße Entspannung und kurzfristig willkommene Ablenkung erscheint.
In Adler und Engel nimmt die Protagonistin Ekelerregendes und Entmenschlichendes in Kauf, um einen psychisch kranken Freund zu erreichen. Ich meine, letztlich erfolglos, aber ich weiß es nicht genau.
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Abbas hat das H-Wort gesagt! Steinigt ihn! Ich stelle mir grade alle Berufsempörten als Frauen mit angeklebtem Vollbart vor.
Ja, sämtliche Ideale, Dogmen Prinzipien, die du mir da aufgeführt hast, kenne ich. Jahrgang 1977, im links-humanistischen Bildungssystem erwachsen geworden. Nie wieder! Wir müssen Haltung zeigen!
Dann kam 1991 bis 1996 die Belagerung von Sarajevo. Jeden Abend in den Nachrichten, Bilder von ausgemergelten Körpern hinter Stacheldraht, abtransportierte Männer, grinsende Offiziere. Und die Nie-Wieder-geht-gar-nicht-Fraktion hat empört Kein Blut für Öl geschrien und fleißig gegen den NATO-verfreundeten demonstriert.
Und die Lager fleißig ignoriert. Oder betreten geguckt, ja, das ist schwierig, was hätten wir denn machen sollen…
Zum Beispiel auf der Sniper Alley demonstrieren fahren. Den Weg kannten sie auswendig, bin selber mit einer sozialbewegten Jugendfreizeit 1988 nach Kroatien gefahren, schön sonnig solidarisch. Hätten sie nur kurz vor der Küste links abbiegen müssen.
Mag irrational sein. Aber seit dem kommt mir alles sozialidealistisch bewegte reichlich bigott vor, eine autistische Nabelschau, die niemandem nützt und keinen rettet.
Es ist mir egal, ob die jeweilige Regierung kommunistisch, idealistisch oder in Uniform daherkommt. Es tötet das Nachbarschaftskommitee, das ins Umerziehungslager mobbed, wen immer es nicht riechen kann.
Dabei denke ich an Hobbes Leviathan. Es sind eben nicht Schlafschafe, sondern vernünftige, Kompromissbereite Individuen, deren Summe aber etwas völlig anderes ist als die Summe ihrer Teile, sondern ein instinktgeleitetes Monster. Die Stampede ist nicht bösartig, sondern bloß in Panik, das macht sie so zerstörerisch.
Aber zurück zum Thema, Dein Ekel vor Waterboarding und Menschenverwertung in Ehren. Aber da fand ich ‚Adler und Engel‘ wirklich teils unerträglich ekelig. Da wird auch eine ganz ähnlich verkorkste Freundschaftsbeziehung der Hauptcharaktere ausgeführt, wie in Leere Herzen. Und mit Genugtuung las ich da, dass Frau Zeh von den Balkankriegen und dem Verhalten der westlichen Gesellschaften dazu ähnlich desillusioniert war, wie ich.
Ich muss wohl erstmal Unterleuten lesen.
Derweil kümmere ich mich in der Brennpunktschule weiter um kriegstraumatisierte Flüchtlingskinder, egal woher auf der Welt und verfestige meinen Konservatismus und meine allergie gegen idealistische Illustrationen. Mit Jungs aus Afghanistan und Irak kommt man gut ins Gespräch, wenn man mit ihnen ihre kindliche Freude teilt, wenn sie davon erzählen, dass sie gern mit Pistolen Strassenhunde quälen.
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Ich gehe tatsächlich lieber „idealistisch“ bzw. „sozialidealistisch“ durchs Leben als mit einer zynisch-liberalen Weltsicht – was ich übrigens völlig wertfrei meine. Das „idealistische“ bzw. „sozialidealistische“ trägt nämlich Verbesserungspotenziel in sich, das andere eher ein „Ist halt so! Wir könnens nicht ändern. Ich kann euch aber sagen, wer schuld ist.“
Wir werden uns diesbezüglich also nicht einig, müssen wir aber ja auch nicht. :-)
Insofern nehme ich den Tipp des mir bis dato unbekannten „Adler und Engel“ mal mit, für den ich mich herzlich bedanke, weise nur kurz nochmal darauf hin, dass es mir bei „Leere Herzen“ weniger um meine Abscheu vor Waterboarding und Menschenverwertung geht, sondern eher um das darin transportierte Bild von Depressionskranken, denen man ein „Wenn ich mich schon umbringen will, kann ich gleich noch andere mitnehmen“ unterstellen will – was einfach falsch ist. Grundfalsch. – und wünsche noch eine erhebende Sitzung. :-)
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Danke für den Tipp. Höchst interessant, nachdem ich Leere Herzen mit Begeisterung las. Die bittere Erkenntnis für alle die sich für die guten halten, ist, glaube ich, die: Das Böse ist nicht fertig nur mit den bösen, gewalttätigen, lauten. Die wichtigste Zutat sind die vielen guten, die sich verführen lassen oder passiv bleiben oder aber, besonders gut sein wollen und ihre Menschlichkeit vergessen. Die Sünde mit den schlimmsten Folgen war der gutmütige Kniefall der SPD vor dem Kaiser.
Gefährlich wird es, wenn die Guten immer bornierter werden und dabei nicht mal ein stabiles Bett zimmern können.
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Ich danke fürs Lesen und bitte für die späte Rückmeldung um Entschuldigung – dein Kommentar ist mir irgendwie … „durchgeflutscht“ …
Ich gestehe, mit „Leere Herzen“, vielmehr mit der Grundprämisse des Buches, so immense Probleme zu haben, dass ich es noch nicht gelesen habe und das vermutlich auch nicht nachholen werden. Suizidgefährdete Menschen als – ich vereinfache bewusst – potenzielle Selbstmordattentäter darzustellen, ist meiner Meinung nach ein Schlag ins Gesicht eines jeden von Suizidgedanken betroffenen Menschen und stellt überdies eine zusätzliche Stigmatisierung von Menschen hierzulande dar, die an einer wie auch immer gearteten psychischen Erkrankung leiden. Suizidgefährdete Menschen sind – den im Familienbereich vorkommenden erweiterten Suizid mal ausgenommen – in erster Linie keine Gefahr für die Gesellschaft, sondern für sich selbst und bräuchten schnellere und zielsicherere Hilfe, sicherlich aber keine zusätzliche, literarische Stigmatisierung.
Für die „wichtigste Zutat“ des Bösen würde ich indes nicht die Passiven und die darüber hinaus Genannten sehen, sondern durchaus die Bösen, Gewalttätigen und Lauten, denn von denen geht „das Böse“, was immer das dann sein mag, ja aus und ohne diese gäbe es besagtes „Böse“ ja nicht.
Was den „Kniefall“ angeht, so sehe ich im politischen Bereich durchaus die eine oder andere schlimmere Verfehlung als besagten „Kniefall“, aber clever oder gar standhaft war das damals nicht, das gebe ich zu. Dass die SPD auch anders kann, zeigte sie dann mit dem zweiten Kniefall, dem von Willy Brandt.
Aber hier gilt wie bei vielen anderen Dingen glücklicherweise auch: Man kann dazu unterschiedlicher Meinung sein. :-)
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Ich bleibe bei meiner Ansicht, die lauten bösen Verführer sind der Zuckerguss, Mehl und Eier, das was am Kuchen satt macht ist die verformbare Masse. Und Frau Zeh hat in ihrem Buch eben nicht die Lebesmüden stigmatisiert, sondern schmerzhaft präzise gezeichnet, wie eine normale, aufstiegsorientierte, trotzdem überzeugte Sozialdemokratin die Stigmatisierung der schwachen hinnimmt, aktiv verstärkt und ihren persönlichen, sozial-marktwirtschaftlichen Nutzen aus dem Humankapital zieht. Als rechts-wirtschaftsliberaler für mich höchst vergnüglich. Für alle, die von der gleichzeitig von Wohlstand, Menschlichkeit und Gerechtigkeit träumen ein unerträglicher Zerrspiegel: So seid ihr, die Zombie-me selfie app.
Natürlich, man muss den Spiegel hassen. Und die Verführer sowieso. Denn was bringt die Erkenntnis, Teil der verführbaren Masse zu sein, wenn gleichzeitig keine Chance und Möglichkeit aufgezeigt wird, das irgendwie zu ändern.
Das System getragen hat jeder Sparsame und Bedürftige, der billig Hausrat beim Winterhilfswerk besorgt hat. Es wäre natürlich unfair, jemandem Bedürftigkeit moralisch anzukreiden. Allein, ich fürchte mehr die bedürftige Masse als den Schreihals, der seinen Hass hörbar und damit berechenbar herausbrüllt.
Mit WP ist übrigens alles in Ordnung, ich hab erst spät Abends gestern geschrieben.
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Nun, wie gesagt, man kann diesbezüglich unterschiedlicher Meinung sein, weswegen ich bei meiner bleibe und – um im Kuchenbeispiel zu bleiben – sage: Wenn die verformbare Masse das Mehl und die Eier sind, dann sind die bösen Verführer der Konditor, nicht der Zuckerguss. Der kommt nämlich zuletzt, nicht zuerst. Ohne den Willen des Konditors, einen Kuchen zu backen, gäbe es gar keine Möglichkeit, Mehl und Eier davon zu überzeugen, dass das eine gute Idee ist. Ich mag das Bild. :-)
Abseits davon: Nun, wie gesagt, ich habe „Leere Herzen“ nicht gelesen, insofern mag es so sein, wie von dir dargestellt. Aber: Werden in diesem Buch Suizidgefährdete nach Therapie, Waterboarding und was weiß ich nun als potenzielle Terrorattentäter meistbietend verschachert oder nicht? Falls ja, dann mag man ob der Gesellschaftskritik als Rechts-Wirtschaftsliberaler – bedeutet das eigentlich gelb oder blau …? – aufjauchzen, aber falls ja, ist es eben auch eine Stigmatisierung, weil es implizit behauptet, Suizidgefährdete wären potenziell zu solchen Taten imstande. Ich finde das widerlich!
Und ja, sicherlich ist eine „bedürftige Masse“ reiner Sprengstoff für eine Gesellschaft. Will man denen wirklich vorwerfen, wenn sie irgendwann Schuldige für ihre Situation suchen und einfache Antworten auf komplexe Fragen? Eben deswegen muss es meines Erachtens eines der Hauptanliegen der Politik sein, diese „bedürftige Masse“ so klein wie nur irgend möglich zu halten, also so nahe an „Wohlstand, Menschlichkeit und Gerechtigkeit“ zu gelangen, wie es nur geht. Mag man für naiv-utopisches Geblubber halten, ich hielte es eher für eine adäquate Staatsräson.
Insbesondere die Wirtschaftsliberalen, die den Eindruck vermitteln, als würden sie den Bedürftigen wirklich ihre Bedürftigkeit ankreiden, sehe ich aber als dafür gänzlich ungeeignet an. Deren Geblubber zwischen „spätrömischer Dekadenz“ und „Gratismentalität nach dem Beispiel des bedingungslosen Grundeinkommens“ (wobei eben gerade das BGE etwas wäre, das die psychische Gesundheit der Menschen langfristig gewährleisten könnte, aber das ist ein anderes Thema) zeigt mir, dass die Damen und Herren völlig das Bewusstsein dafür – sogar auch nur die Vorstellung davon – verloren haben, was es bedeutet, am 25. des Monats die leeren Wasserflaschen im Haus zusammenzusammeln, um vom Pfand ein Brot zu kaufen, mit dem man dann bis zum Monatsende hinzukommen muss.
Nein, wenn Lindner von „Gratismentalität“ spricht, ist das reinstes Armen-Bashing, reinstes „Euro Armut kotzt mich an!“ und damit insgesamt genau so widerlich wie seine gesamte Partei und alles wofür sie steht. Nämlich für ein System, in dem wenige viel und viele nichts haben. Dass er aus nachvollziehbaren Gründen diese Klientelpolitik macht, versteht sich von selbst ich finds halt nur verabscheuungswürdig.
Insgesamt ist mir deine Sicht der Dinge tatsächlich etwas zu zynisch. Etwas zu sehr fokussiert auf arme, dumme, manipulierbare „Schlafschafe“, die nur „erwachen“ müssen. Etwas zu sehr darauf ausgerichtet, dass letztlich ja doch jeder selbst seines Glückes Schmied ist. Ist nur leider nicht so. Aber wie gesagt: Man kann hier unterschiedlicher Meinung sein. :-)
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Da stimme ich in allen Punkten zu. Fast. Der Konditor oder knetende Bäckergeselle war Bismarck, wir müssen seit dem mit dem Teig zurecht kommen, auch wenn einzelne Pfannkuchen für die deutschen Stämme, Regionen und Städte vielleicht besser gewesen wären. Gelb selbstverständlich, als echter Demokratieverächter wählt man natürlich den elitären Verein, der, das wissen wir wohl, aus menschenverachtenden arroganten idioten besteht. Aber wenigstens lassen sie nur Offiziere rein. Von denen erwarten wir auch nichts, ausser dass sie das schlimmste verhindern. Und von dem Schlimmen haben aus sogenannt kommunistischen Diktaturen geflohene und entkommene Verwandte anschaulich berichtet. Dagegen war die Deutsche Katastrophe, zumindest von den Sterbezahlen her, das weitaus geringere Übel. Wir mögen dieses Volk, nur braucht es ein wenig mehr Denker wie Frau Zeh, die auf die absurden und mitunter halsstarrigen Auswüchse der – durchaus verständlichen – ewigen Nabelschau hinweisen und Humor, erweiterte Perspektive und Ambivalenz verfechten. Sonst hat man Angst, die Masse verkrampft und läuft am Ende blau an. Oder: es gibt nichts entspannenderes, als mit Wehrdienstleistenden der israelischen Armee intelligente Holocaust-Witze zu machen, während man sich erkundigt, wo es was gutes zu Rauchen gibt.
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Wenn ich mir vorstelle, dass das heutige bundesdeutsche Staatsgebiet immer noch in zahllose, kleine (Stadt-)Staaten unterteilt wäre, gruselt es mich. :-) Ich wage zu bezweifeln, dass das im heutigen Europa von Vorteil wäre. Stattdessen hätte es globalpolitisch viel mehr geholfen, wenn diverse Sieger- oder Kolonialmächte nicht willkürlich Vielvölkerstaaten gegründet oder ebenso willkürlich schnurgerade Grenzen durch Afrika gezogen hätten.
Als „Demokratieverächter“ würde ich jemanden innerhalb des Spektrums der politischen Parteien übrigens nie bezeichen. Ebenso würde ich dem „elitären Verein“ – das ist er allerdings wirklich ;-) – unterstellen, dass da nur „menschenverachtende, arrogante Idioten“ drin sind. Aber es gibt sie, ebenso wie in allen anderen Parteien aber vermutlich auch. Im Falle des elitären Vereins sitzen sie nur leider entweder in Person von Lindner in verantwortungsvollen Positionen oder im Falle von Kubicki in jeder verfügbaren Talkshow.
„Das Schlimmste“ zu verhindern – ausgehend davon, dass damit die „kommunistischen Diktaturen“ gemeint sind -, scheint mir zwar momentan recht leicht zu verhindern zu sein, denn die Tendenz einer kommunistischen Diktatur sehe ich jetzt nicht über uns hereinbrechen – besagte Verhinderung könnte aber noch viel leichter umgesetzt werden, wenn man seitens der FDP mal ein wenig von der Klientelpolitik für die oberen Zehntausend abrücken würde. Kostet vielleicht Stimmen bei der Klientel bei der nächsten Wahl, bringt aber auch vielleicht welche aus anderen politischen Lagern.
Darüber hinaus mag man es so empfinden, dass hierzulande eine fortwährende „Nabelschau“ stattfindet, aber dieses Land und seine Bevölkerung haben nun mal ihre folgenreiche und tragische Geschichte, und vor dem Hintergrund fände ich es noch viel fataler, wenn gesamtgesellschaftlich auf diese Nabelschau verzichtet werden würde.
Im Übrigen gibt es keine „intelligenten Holocaust-Witze“. Wobei ich hier die Einschränkung gelten lasse, dass es davon abhängt, wer sie macht. :-)
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Über Menschen muss ich natürlich auch lesen. Und entschuldige manche autokorrektur-ungenauigkeit. Sitze grad in ner langweilen Belegschaftsversammlung
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