Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
da mir gerade keine auch nur ansatzweise vernünftige Einleitung einfällt, starte ich gleich in die nächste Etüde, von Christiane organisiert und von Veronika mit den oben stehenden Worten ausgestattet.
300!, schoss es ihm sofort durch den Kopf, als er auf seiner Pritsche erwachte. Gemeint war nicht der Film – wie sehr er sich wünschte, alles wäre nur ein Film -, sondern die Anzahl der Tage, die er jetzt schon in diesem Knast verbrachte. Immer noch ohne Anklage, immer noch ohne Aussicht auf Freiheit. Pah, Freiheit! dachte er, es wird sich mehr wie auferstehen anfühlen, wenn ich hier rauskomme.
Von seinem vergitterten Fenster hatte er einen guten Blick auf den kleinen Bereich mit Blumenbeeten, den die Insassen dort angelegt hatten. Im Herbst hatte er von hier dabei zugesehen, wie dort die Tulpenzwiebeln gesetzt wurden, jetzt konnte er bereits die Blüten betrachten.
Die Riegel seiner Zellentür wurden zurückgeschoben, die Tür öffnete sich, sein Anwalt betrat den Raum.
„Mein liebster Talar-Träger, wie geht es Ihnen?“
„Das wollte ich eigentlich Sie fragen!?“
„Na, als kurzweilig würde ich meinen Aufenthalt nicht gerade bezeichnen. Gibt es Neuigkeiten? Einen medialen Aufschrei? Demos zu meiner Befreiung?“
„Na, Demos ja, aber …“
„Gegen was?“
„Den Klimawandel.“
„Löblich.“
„Für freies Internet.“
„Hätte ich jetzt auch gerne.“
„Für bezahlbare Mieten.“
„Ha, ich wohne gerade umsonst.“
„Und zur Verhinderung des Brexits.“
„Die sind immer noch nicht ausgetreten?“
„Jetzt mal Spaß beiseite. Natürlich verhandeln die Regierungen weiterhin im Hintergrund, aber für Ihre Freilassung sieht es derzeit schlecht aus. Das Thema ist weit aus dem Fokus geraten. Um genau zu sein, existiert es in der öffentlichen Wahrnehmung momentan nicht mehr.“
„Aber diese Deutschen hat man auch freigelassen. Die Dingens und den Bummens.“
„Ich weiß, aber das waren Journalisten. Sehen Sie es realistisch: Sie sind Blogger, keine Sau kennt Sie!“
„Na, herzlichen Dank!“
„Ist doch so. Ich rufe heute nochmal beim Auswärtigen Amt und der Staatsanwaltschaft an. Dann sehen wir weiter. Okay?“
„Okay. Danke.“
Sein Anwalt ging, die Tür schloss sich, wurde verriegelt. Und er war wieder allein.
300 Worte
Nach Angaben von „Reporter ohne Grenzen“ sitzen derzeit weltweit nicht nur 168 Journalisten in Haft, sondern auch 152 Blogger und Bürgerjournalisten.
„Unsere“ (vermeintliche) Freiheit hängt an einem dünnen Fädchen, da muss es nur einen poltischen Wechsel gebenund schwupps könnte auch ich es sein, die plötzlich hinter Gittern sitzen würde, dann aber würde ich mir singende Vögel vor meinen Gitterfenstern wünschen und auch Tulpen …
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Exakt so ist es. Ich habe auch schon öfter nur so halb-scherzhaft gesagt, dass ich bei einer Regierungsbeteiligung der AfD schon mal an der Haustür warten darf, bis mich der Lastwagen aus Gründen der Volksgesundheit abholt. Falls ich Glück habe, bekomme ich einen Sitzplatz …
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bitter, aber wahr, auf dass es nie dazu kommen wird – ja, solche Gednkanen sind mir leider auch nicht fremd :(
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Lustiger Text, der einen ziemlich abrupt auf den Boden der Tatsachen holt. Finde ich eine tolle Idee. Vor allem der Dialog – toll.
Grüße, Katharina
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Vielen Dank. Und ja, genau so sollte es sein, dann hat der Text wenigstens sein Ziel nicht verfehlt. :-)
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Irgendwie ist mir das Lächeln über den wirklich großartigen Dialog dann doch stecken geblieben. Ich möchte nicht wissen, wie viele sich in so einer Situation befinden. Umso bewundernswerter der Humor, den dein Protagonist an den Tag legt.
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Humor ist meines Erachtens unerlässlich im Leben. :-)
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Ich kenne einen, der war neben seinem Brot-Job religions-kritischer Blogger im Irak. Er konnte rechtzeitig flüchten.
Die Tulpen kommen einem wie Hohn vor. Noch scheint der Gefangene seinen Witz aber nicht restlos verloren zu haben.
Nachdenkliche Grüße,
Veronika
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Dann hat er Glück im Unglück gehabt, nachweislich gilt das ja leider nicht für alle.
Und nein, seinen Witz hat er noch nicht verloren. Erfahrungsgemäß kommt man mit Humor aber am besten durchs Leben. Erst wenn der verschwindet, wird es wirklich kritisch.
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Immerhin steht der Knast irgendwo, wo es Tulpenzwiebeln gibt, und anscheinend leidet dein Blogger „nur“ unter dem Abgeschnittensein.
So ernst das Thema ist, ich musste bei dem Dialog schon lachen.
Vergnügte Grüße
Christiane
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Zugegeben, die Tulpen – und ich WUSSTE, dass dieser Einwand kommt ;-) – deuten zumindest darauf hin, dass es irgendwo in Europa, Nordafrika oder Zentralasien sein muss. Das bietet genug Möglichkeiten. :-)
Und ja, in erster Linie leidet er und dem Abgeschnittensein, vielleicht, nur ganz vielleicht befindet er sich aber auch schon auf dem Weg in eine Art fatalistische Hysterie, wer weiß!? :-)
Und wenn Lachen Deine Reaktion auf den Dialog war, hat er seine Funktion erfüllt.
Vielen, lieben Dank!
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Gesetz und Ordnung: in vielen Staaten immer noch reine Willkür. Und bei uns und unseren Verbündeten in sog. „politischen“ Fällen ja auch. Man denke nur an Waffenlieferungen in Krisengebiete, US-Verhörzellen in Bulgarien, Steuerung der Kriegsdrohnen in Afghanistan aus Ramstein, Guantanamo, Vatikan, etc. etc.
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Ja, die Beispielliste wäre nahezu unendlich.
Unter anderem deswegen gibt es in meiner Etüde auch keine Ortsangabe, das Problem existiert weltweit flächendeckend.
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Hach, ja!
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So isses! :-)
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Sehr ironisch – mag ich – der Nachtrag bringt einen dann doch wieder auf den ernsten Boden der Tatsachen zurück.
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Vielen Dank! Ich kann halt auch ernst. ;-)
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