„Die Vergessenen“ von Ellen Sandberg – Abbitte

Buch: „Die Vergessenen“

Autorin: Ellen Sandberg

Verlag: Penguin

Ausgabe: Taschenbuch, 509 Seiten

Die Autorin: Ellen Sandberg ist das Pseudonym einer erfolgreichen Münchner Autorin, deren Kriminalromane regelmäßig auf der Bestsellerliste stehen. Sie arbeitete zunächst in der Werbebranche, ehe sie sich ganz dem Schreiben widmete. Mit dem groß angelegten Spannungs- und Familienroman »Die Vergessenen« schlägt sie einen neuen schriftstellerischen Weg ein und widmet sich dabei einem Thema, das ihr ein persönliches Anliegen ist: den Verbrechen der jüngeren Vergangenheit und der Notwendigkeit, diese nicht zu vergessen. (Quelle: Penguin)

Das Buch; 1944. Kathrin Mändler tritt eine Stelle als Krankenschwester an und meint, endlich ihren Platz im Leben gefunden zu haben. Als die junge Frau kurz darauf dem charismatischen Arzt Karl Landmann begegnet, fühlt sie sich unweigerlich zu ihm hingezogen. Zu spät merkt sie, dass Landmanns Arbeit das Leben vieler Menschen bedroht – auch ihr eigenes.

2013. In München lebt ein Mann für besondere Aufträge, Manolis Lefteris. Als er geheimnisvolle Akten aufspüren soll, die sich im Besitz einer alten Dame befinden, hält er das für reine Routine. Er ahnt nicht, dass er im Begriff ist, ein Verbrechen aufzudecken, das Generationen überdauert hat … (Quelle: Penguin)

Fazit: Nach gut 50 Seiten stand für mich eindeutig fest: Ich würde dieses Buch abgrundtief verabscheuen! Ich würde den Verriss meines Lebens schreiben. Ich würde den Umfang meiner Rechtschutzversicherung überprüfen, um für die Folgen gewappnet zu sein. Doch dann kam irgendwie alles anders …

Zu Anfang allerdings hat die Autorin sich tatsächlich Mühe gegeben, mich größtmöglich zu ärgern, beispielsweise mit ihrem Protagonisten Manolis Lefteris, mit dem ich übrigens über die ganze Strecke des Buches nicht warm geworden bin. Aus familiären Gründen, die genauer zu erwähnen jetzt zu weit führen würde, hat Lefteris kein Vertrauen mehr in Staat und Justiz. Und das äußert er auch – andauernd. „Sie ist nicht blind. Sie urteilt ohne Ansehen der Person. Das bedeutet die Augenbinde.“, sagt seine Schwester auf Seite 13 über die Justiz. Darauf Manolis: „Aber nicht ohne den Einfluss der Mächtigen.“ Gähn …

Und da er nun diese Meinung vertritt, handelt er nur ganz konsequent, indem er das Recht und Gesetz selbst in die Hand nimmt – er wird Auftragskiller. Gut, nur im Falle von freigesprochenen Straftätern, die seiner Meinung aber trotzdem schuld sind, aber hey … Na, und manchmal belässt er es ja auch bei Observierungen.

Das Problem, das ich mit Manolis habe, ist, dass sich dieser vollkommen empathiebefreite, durchgeknallte Mensch damit auch noch völlig im Recht fühlt. Zitieren wir dazu nochmal seine Schwester auf Seite 19. „Das Recht des Stärkeren ist nicht Gesetz.“ Darauf Manolis: „Natürlich ist es das. Der Stärkere und Anpassungsfähigere überlebt, das nennt man Evolution.“ Ich bin also der Stärkere und Anpassungsfähigere, wenn ich einem beliebigen Mitmenschen mittels Verwendung einer Schusswaffe das Licht auspuste. Aha.

Dabei wäre Manolis in jungen Jahren selbst einmal ein Fall für die Justiz gewesen. Er hat nämlich einmal einen Menschen getötet, während er damit gleichzeitig einen anderen gerettet hat. Manolis entzieht sich aber der Justiz, der Gerettete zeigt sich, insbesondere finanziell, höchst erkenntlich, was zur Folge hat, dass Manolis Jahre später ein gutsituiertes Leben führen kann. „Ohne ihn, der ihn unter seine Fittiche genommen hatte und in gewisser Weise die Vaterstelle bei ihm vertrat, hätte er weder seine Wut in den Griff bekommen, noch die schönen Seiten des Lebens entdeckt und gelernt, sie zu genießen. Malerei, Musik, das Theater, gutes Essen, Literatur.“ (Seite 34) Hach, wie gut dieser gebildete Feingeist doch seine Wut in den Griff bekommen hat … Nochmal: der Mann ist ein Killer! Punkt, aus, Ende!

Aber Manolis ist nicht der einzige Charakter, der mir sauer aufstieß. Irgendwie machte sich nach kurzer Zeit der Eindruck breit, als sei jeder männliche Charakter in diesem Buch eine außerordentliche Flitzpiepe und als handele es sich bei „Die Vergessenen“ um ein Emanzipationspamphlet.

Da wäre beispielsweise der Chefredakteur einer großen Zeitung. Im Vorstellungsgespräch mit einer jungen Frau kommt man angesichts eines Bildes der Callas auf das Thema Gesang und die junge Frau sagt: „Für die Bühne reicht es bei mir nicht. Nur für die Dusche.“ Darauf der Chefredakteur: „Ach? Da wäre man ja gerne mal dabei.“ Oh, bitte! Wen soll dieser Charakter darstellen? Rainer „Herrenwitz“ Brüderle?

Als die junge Frau nach dem – erfolglosen – Gespräch nach Hause kommt, fügt sie sich in ihr Schicksal, stattdessen Chefredakteurin bei der Frauenzeitschrift zu werden, für die sie bereits arbeitet. Dort wartet dann ihr Freund, der es wagt, sie darauf aufmerksam zu machen, dass damit ihre Träume platzen könnten, wieder im „ernsthaften“ Journalismus zu landen – ein Gedankengang, den die junge Frau selbst vorher laaang und breit gewälzt hat. Und nur dafür macht sie ihm dann a) eine Szene und b) ihn zur Minna.

Das war dann endgültig der Punkt,  an dem ich mich fragte: „Können die Männer in diesem Buch auch nur überhaupt irgendwas richtig machen?“ Und es war auch der Punkt, an dem ich begann, vieles andere auf die Goldwaage zu legen. Beispielsweise die Tatsache, dass Manolis in seiner Jugend wegen „zwei Polen“ die „Autos verschoben“ (S.36) in Konflikt mit dem Gesetz kommt.  Wie klischeehaft. Oder die Tatsache, dass Manolis seinen späteren Wohltäter aus den Händen eines Kerls „vom Typ Tschetschenen-Inkasso“ (S. 38) befreit. Die Frage trat in den Raum, ob jetzt wohl alle Bösewichte des Buches einen osteuropäischen oder russischen Background bekamen und was das überhaupt sollte.

Dann jedoch, kurz bevor ich begann, die Geduld mit Ellen Sandbergs Roman zu verlieren, glückte der Autorin auf bemerkenswerte Art und Weise eine 180-Grad-Wende. Passenderweise gerade mit ihrer Handlung.

Klar, mit den Charakteren würde ich nicht mehr warm werden und wurde ich durch die Bank auch nicht – zumindest was den Handlungsstrang in der Gegenwart betraf. Und stilistisch bewegt sich Ellen Sandberg auf gutem, angenehm zu lesenden Niveau, jedoch ohne, dass mir der Stil als Alleinstellungsmerkmal im Gedächtnis bleiben würde.

Aber diese Geschichte!

Naturgemäß kann ich leider nicht viel über die Handlung verraten, was meine Zeilen überwiegend doch wie einen Verriss wirken lassen könnte, was sie aber gar nicht sein sollen. Nur so viel: Sandberg greift ein Thema auf, das in der Aufarbeitung der deutschen Geschichte viel zu wenig Beachtung fand. Ein Thema, das mir naturgemäß am Herzen liegt. Ein Thema, das berührt und zu Herzen geht. Und sie tut das dermaßen gut, eindringlich, spannend und in sich schlüssig, dass ich nur sagen kann:

Lest dieses Buch! Ganz ehrlich!

Wertung:

Handlung: 10 von 10 Punkten

Charaktere: 5,5 von 10 Punkten

Stil: 8,5 von 10 Punkten

Atmosphäre: 10 von 10 Punkten

Gesamtwertung: 8,5 von 10 Punkten

Demnächst in diesem Blog: „Der Weltenfinder“ von Bernd Perplies.

 

13 Antworten auf „„Die Vergessenen“ von Ellen Sandberg – Abbitte

    1. Mission erfüllt! ;-)

      Ich glaube durchaus, dass es Dir gefallen könnte, gebe aber zu bedenken, dass mir das Thema persönlich wichtig war und ich in der Bewertung daher vielleicht ein bisschen voreingenommen war. Ein bisschen. Ganz wenig. Eigentlich kaum. ;-)

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        1. Eigentlich überhaupt nicht das Richtige für lange, weiße Krankenhausflure, aber mach ruhig. ;-) Ich wage auch zu bezweifeln, ob es überhaupt die richtige Lektüre für lange, weiße Krankenhausflure gibt …

          Nicht Ernstes, hoffe ich!?

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          1. Dann wünsche ich alles Gute und harre des Berichts. ;-)

            Nüchtern bis 16 Uhr? Ist das nicht laut irgendwelcher Menschenrechtskonventionen verboten? ;-) Das ist ja grausam!

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