Wie man erfolgreich Leser vergrault: Deutschland und barrierefreies Lesen

Hallo, liebe Leserinnen und Leser,

wenn eine Literaturkritikerin die Leserinnen und Leser in Deutschland unterschwellig beleidigt – wie in meinem gestrigen Beitrag zu lesen war -, dann ist das eine Sache. Dass der aufmerksame Beobachter derzeit betrachten kann, dass es Gruppen von Lesern gibt, denen von staatlicher Seite Knüppel zwischen die Beine geworfen werden, wenn es um den Zugang zu Literatur geht, ist nochmal eine ganz andere.

Reden wir also mal über die Marrakesch-Richtlinie. Die was? Die Marrakesch-Richtlinie! Ohne mit Gesetzestexten, Paragrafen und Fachchinesisch um mich zu werfen, versuche ich den Inhalt der Richtlinie mal vereinfachend runterzubrechen:

Die Marrakesch-Richtlinie sieht vor, lese- oder sehbehinderten Menschen den Zugang zur Literatur zu vereinfachen bzw. überhaupt erst zu ermöglichen. So soll es (Blinden-)Bibliotheken beispielsweise ermöglicht werden, Hörbuch- oder Brailleschriftausgaben von Büchern zu erstellen – das Ganze, ohne den Urheber befragen zu müssen – und diese dann lese- oder sehbehinderten Menschen zur Verfügung zu stellen. Angesichts der Tatsache, dass nach Angaben der Bundesregierung nur etwa 5 % der weltweit veröffentlichten Werke der Literatur in barrierefreier Form vorliegen, ist das ein hehres Ziel.

Der entsprechende Vertrag wurde 2013 ausgehandelt, trat 2016 in Kraft, wurde schließlich auch von Deutschland unterschrieben und nunmehr EU-weit ratifiziert. Bis zum 11. Oktober (also morgen!) hat die Bundesregierung nun noch Zeit, die Richtlinie entsprechend umzusetzen.

Und da liegt nun der sprichwörtliche Hase im Pfeffer, wer auch immer ihn dort hingelegt hat.

Schon im August berichtete aerzteblatt.de – ein von mir ansonsten eher selten frequentiertes Medium -, dass, laut eines Berichts der Internationalen Bibliotheksvereinigung, Deutschland bislang EU-weites Schlusslicht sei, wenn es um die Umsetzung der Marrakesch-Richtlinie gehe.

Angesichts des Standes der Umsetzung der Inklusion an Schulen wundert mich das kaum. Seinerzeit hat man – meines Wissens 2009 – die entsprechende Behindertenrechtskonvention unterzeichnet, die Frage nach der Umsetzung der Inklusion aber erst mal nach hinten verschoben, dann weiter nach hinten und dann mit einem freundschaftlichen „Ihr macht das schon!“ an die Schulen selbst weitergereicht.

Und so etwas ärgert mich. Mich ärgert auch, dass das Durchwinken des Bundesteilhabegesetzes (ein Wort, das nicht mal die Rechtschreibprüfung erkennt – nur so nebenbei …)  im letzten Jahr von der Masse der Bevölkerung weitgehend unbemerkt geschehen ist. Klar, es betrifft die meisten Menschen ja auch nicht. Jedenfalls heute nicht. Morgen könnte das schon der Fall sein. So weit denkt aber niemand. Andererseits rufen gefühlt jeden zweiten Dienstag Leute bei Experten an, die im öffentlich-rechtlichen Fernsehen auftauchen und Fragen der Menschen zu den Themen Testament, Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht beantworten, weil die Menschen offensichtlich im Hinterkopf haben, dass ihnen ja mal was passieren könnte. Das muss ich nicht verstehen …

Aber kommen wir wieder zurück zur Marrakesch-Richtlinie. Der Knackpunkt bei der Diskussion ist nun folgender:

Der Zugang zu Werken der Literatur für lese – und sehbehinderte Menschen soll auch nach dem Willen der Bundesregierung vereinfacht werden. (Blinden-)Bibliotheken dürfen also in Zukunft barrierefreie Formate von Texten erstellen und diese auch weltweit mit anderen Einrichtungen austauschen, wie es auf der Internetseite des Bundesministeriums für Justiz und Verbraucherschutz heißt. Das Problem liegt in dem diesen Ausführungen folgenden Satz: „Zugleich sind Nutzungen durch befugte Stellen auf Grundlage des neuen Rechts angemessen zu vergüten, damit die Rechtsinhaber einen finanziellen Ausgleich erhalten.“

Die Einhaltung dieser Vergütung durch das Deutsche Patent- und Markenamt soll „nicht im Gesetz, sondern in einer gesonderten Rechtsverordnung geregelt werden.“ Was im Klartext bedeutet: Noch mehr Bürokratie und noch mehr Kosten. Nicht nur der Behindertenbeauftrage Jürgen Dusel ist not amused, wie auch bei kobinet-nachrichten.org zu lesen war.

Es ist ja nicht so, dass Bibliotheken finanziell auf Rosen gebettet sind. Sollte dem doch so sein, bitte ich um Benachrichtigung und Korrektur. In der Konsequenz bedeutet das nun also, dass die (Blinden-)Bibliotheken ihrer Kundschaft barrierefreie Formate zukommen lassen dürfen, dieses aber wohl in der Zukunft aus finanziellen Gründen nicht können, womit sich für die Zielgruppe effektiv mal gar nichts ändert. Und wenn, dann nicht zum Positiven, sofern die (Blinden-)Bibliotheken in Zukunft möglicherweise auch für ihren schon vorhandenen Bestand zahlen sollen, wobei das eine reine Mutmaßung meinerseits ist.

Ich stelle mir das zukünftig folgendermaßen vor:

„Guten Tag, ich hätte gerne das Berliner Architekten- und Baukammergesetz in Brailleschrift.“

„Hammwa nich!“

„Ja, aber, es gibt doch die Marrakesch-Richtlinie – könnten sie da nicht eine barrierefreie Ausgabe erstellen!? Ich brauche die wirklich dringend.“

„Dürfen wa, könn wa aba nich – is zu teuer!“

 

Ich würde ja zu gerne mal wissen, um welche Summen es da geht, die den Rechtsinhabern entgingen und ob sie wirklich am Hungertuch nagen würden, wenn ihnen die Nutzungsentgelte fehlen würden. Ich habe leise Zweifel …

Bereits 2001 hat man in Großbritannien den Eintritt für alle Museen des Landes gestrichen, den Zugang also kostenlos gestaltet. Das ist eine Art Zugangserleichterung zur Kultur durch den Staat, für den sich die „Dancing Queen“ Theresa May zu recht feiern lassen könnte und der ihr berechtigten Grund zum Tanzen gäbe, wenn sie denn an dieser Entscheidung beteiligt gewesen wäre. Hierzulande erschwert man Menschen, die in der allermeisten Fällen ganz andere Schwierigkeiten haben, den Zugang zur Literatur durch Gesetzgebung, die eigentlich eine Vereinfachung darstellen sollte.

Nein, ich muss es wirklich nicht verstehen.

 

Gehabt euch wohl!

9 Antworten auf „Wie man erfolgreich Leser vergrault: Deutschland und barrierefreies Lesen

  1. Frank, Du wirst mir von Zeile zu Zeile unsympathischer: Immer diese ellenlangen Texte mit inhaltsschwangeren Themen! Wer soll das denn alles lesen. Das geht doch völlig an der Massentauglichkeit vorbei – genau wie die „Marrakesch-Richtlinie“.

    Müssen die Blinden uns Sehenden ALLES nachmachen. Was gibt´s denn als nächstes? Das auch der Gummibaum plötzlich Brailleschrift lesen darf? Oder Cousin und Cousine plötzlich gemeinsam „braillen“ dürfen?

    Oh, Verzeihung – ich habe die Themen verwechselt: Das waren ja die Argumentationen konservativ-denkender Mitmenschen zum Thema „Ehe für alle“.

    Scherz beiseite: Bei diesen Themen leide ich extrem unter Sarkasmus. Es ist wie bei einer Kontakt-Allergie: Kaum angetriggert, schon habe ich Herpes!

    Was viele Menschen bei diesen Themen vergessen, ist dies:
    Niemand hat dadurch weniger, aber die Lebensqualität und das Lebensgefühl einiger Menschen verändert sich extrem ins Positive. Es geht bei all diesen Themen um elementare Menschenrechte.

    Gruß
    Andreas

    P.S.: Übrigens: Ich arbeite als Krankenpflege seit 1999 mit Menschen mit Behinderung und habe die Anfänge der Inklusion mit ihren fragwürdigen Auswüchsen hautnah erleben dürfen.

    P.P.S: …und Frank, in Wirklichkeit finde ich Dich gaaanz toll! 😉

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    1. Ja, was soll ich denn machen, solche Themen lassen sich nicht in einen Steno-Stil verpacken!? ;-) Und massentauglich waren meine Texte wohl noch nie. :-)

      Ich kenne das mit dem Sarkasmus. Manche Themen muss man auch mit Sarkasmus angehen, weil es sonst „BUMM“ macht und irgendjemand die Sauerei wegwischen muss …

      Dass niemand dadurch weniger hat, ist auch genau der Punkt, aber es gelingt der Politik auf – wie ich finde – schon fast perfide Art und Weise, beispielsweise eine Bevölkerungsgruppe, die wenig hat, gegen eine andere, die gar nichts hat, aufzubringen, um damit davon abzulenken, dass wir eigentlich nur ein massives Verteilungsproblem haben. :-(

      P.S. Respekt! Für den Job braucht man heutzutage entweder Idealismus oder einen Schatten. :-)

      P.P.S. Puh, danke! ;-)

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  2. Und wieder was gelernt. Es geht doch nix über die Schlange, die sich selbst in den Schwanz beißt. Und nein, ich fange da jetzt nicht noch zusätzlich an, die Kiste der Pandorra im Hinblick auf Geld für Flüchtlinge ist da, aber ansonsten gibbet nix, aufzumachen. Das ist nämlich ein Thema, an dem man sich genauso heiß reden kann.

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