„Das Genie“ von Klaus Cäsar Zehrer – Frühkindliches Erziehungstrauma

Buch: „Das Genie“

Autor: Klaus Cäsar Zehrer

Verlag: Diogenes

Ausgabe: Gebunden, 645 Seiten

Der Autor: Klaus Cäsar Zehrer, geboren 1969 in Schwabach, ist promovierter Kulturwissenschaftler und lebt als freier Autor, Herausgeber und Übersetzer in Berlin. Er veröffentlichte u.a. zusammen mit Robert Gernhardt die Anthologie ›Hell und Schnell‹, das Standardwerk der deutschsprachigen komischen Lyrik. ›Das Genie‹ ist sein erster Roman. (Quelle: Diogenes)

Das Buch: Boston, 1910. Der elfjährige William James Sidis wird von der amerikanischen Presse als »Wunderjunge von Harvard« gefeiert. Sein Vater Boris, ein bekannter Psychologe mit dem brennenden Ehrgeiz, die Welt durch Bildung zu verbessern, triumphiert. Er hat William von Geburt an mit einem speziellen Lernprogramm trainiert. Durch Anwendung der Sidis-Methode könnten alle Kinder die gleichen Fähigkeiten entwickeln wie sein Sohn, behauptet er. Doch als William erwachsen wird, bricht er mit seinen Eltern und seiner Vergangenheit. Er weigert sich, seine Intelligenz einer Gesellschaft zur Ver­fügung zu stellen, die von Ausbeutung, Profitsucht und Militärgewalt beherrscht wird. Stattdessen versucht er, sein Leben nach eigenen Vorstel­lungen zu gestalten – mit aller Konsequenz.

Fazit: Ich habe lange überlegt, was ich denn an „Das Genie“ so kritisieren könnte, bis ich zu dem Schluss kam: Herzlich wenig! Denn – das darf ich vorwegnehmen – Klaus Cäsar Zehrer hat einen wunderbaren, beeindruckenden Debütroman geschrieben.

Der Autor beleuchtet die Lebensläufe des Psychologen Boris Sidis sowie seines Sohnes William James Sidis. Boris wandert 1886 aus der Ukraine in die USA aus, nachdem er bereits als 17-Jähriger festgenommen wurde, weil er ukrainischen Bauern und deren Angehörigen unerlaubt Schulunterricht erteilt und sich auch sonst für deren Bildung stark gemacht hat.

Unter diesen Eindrücken hat sich bei ihm ein grundliegendes Misstrauen gegenüber der Macht des Staates sowie eine Abneigung gegen Krieg im Speziellen und das Militär im Allgemeinen verankert. Gleichwohl verliert er diesbezüglich nicht den realistischen Blick auf die Welt. „Lachen besiegt gar nichts. Wäre das Lachen stärker als die Gewalt, dann würden sie keine Soldaten in den Krieg schicken, sondern Spaßmacher.“ (S. 78)

Dennoch fehlt dem jungen Hochbegabten das Verständnis für das Leben der „normalen“ Menschen. Mehr noch, er lehnt diese „normalen Leute“ sogar ab. „Wie angepasst sie sind (…) Sie machen immer nur das, was andere von ihnen verlangen. (…).“ (S 157) Nein, einer von diesen normalen Leuten soll sein Sohn nicht werden. Er soll es einmal besser haben als sein Vater. „Wir müssen darauf achten, dass er eine starke und selbständige Persönlichkeit wird, die sich niemals von anderen herumkommandieren lässt.“ (S. 157)

Sei vorsichtig mit Deinen Wünschen, sie könnten in Erfüllung gehen, kann man da nur sagen.

Aus dieser Motivation heraus beginnt Boris, seinen Sohn, bereits wenige Wochen nach dessen Geburt, ganz strukturiert zu fördern. Mit Erfolg, wie es scheint. Der Junge kann mittels Buchstabenbauklötzchen bereits im Alter von zwei Jahren schreiben, wenig später flüssig Texte aus der Zeitung lesen. Auch Fremdsprachen und Naturwissenschaften sind später kein Problem für ihn. Die „Sidis-Methode“, wie Boris seine Art der frühkindlichen Förderung nennt, scheint erfolgreich zu sein. Das Wunderkind wird berühmt – und mit ihm der stolze Vater.

Aber irgendwann wird es dem jungen William James Sidis zu bunt und er bricht mit seiner Familie und versucht, sein eigenes Leben zu leben. Nur eines hat William eben nie gelernt: Den Umgang mit den „normalen“ Menschen.

Und so stößt William mit seiner nüchternen Weltsicht auf vielerorts auf Ablehnung, wenn er beispielsweise sagt: „Ich habe nie verstanden, wozu Kunst gut sein soll. Ich weiß nicht, warum Leute die Mühe auf sich nehmen, ein Lied zu singen, anstatt den Text aufzusagen. Man könnte eine Menge Zeit sparen und außerdem die Worte leichter verstehen.“ (S. 352) Ich gebe zu, an der Stelle hat es mich ein bisschen geschüttelt…

Eine solche Geschichte, wie die, die Zehrer in „Das Genie“ erzählt, hängt stark von den Charakteren ab. Und zum Glück sind ihm – nicht nur – Sidis senior und Sidis junior glänzend gelungen. Immer wieder steht man als Leser teilweise kopfschüttelnd vor Vater oder Sohn, manchmal möchte man sie schütteln, ihnen helfen oder auch – ganz selten – mal gepflegt eine scheuern. Und manchmal, ganz unerwartet, nickt man mit dem Kopf, weil sie in ihrer nüchternen Weltsicht etwas sehr treffend formulieren.

Apropos „treffend formulieren“: Ich kann gar nicht genau beschreiben, woran es lag, aber Zehrers Stil entwickelte bei mir das, was ich mal ausnahmsweise als Sogwirkung beschreiben möchte – fast hätte ich sogar gesagt, dass ich das Buch „kaum aus der Hand legen konnte“, aber man sollte es mit Allgemeinplätzen nicht übertreiben. Jedenfalls habe ich bei „Das Genie“ ein selbst für mich schnelles Lesetempo an den Tag gelegt. An Zehrers Stil kann man mithin nichts kritisieren, er liest sich leicht und dennoch nicht anspruchslos und besticht durch hervorragend geschriebene Dialoge.

Darüber hinaus ist die Handlung „von überraschender Aktualität“, wie Benedict Wells sagt. Und das stimmt durchaus, denn diese Geschichte von Förderung und Überforderung lässt sich durchaus in moderne Zeiten übertragen, in denen Schüler und Innen immer häufiger Stresssymptome aufweisen, der Anteil an Abiturienten und Innen innerhalb eines Jahrgangs im Laufe der letzten 10 Jahre von 40 auf über 50 % gestiegen ist und 900 Millionen Euro jährlich in Nachhilfe investiert wird. Der Leistungsgedanke kann den Nachfolgegenerationen anscheinend nicht früh genug vermittelt werden…

Apropos genug: Genug der Lobhudelei! Denn schon in einem kitschigen Buch aus den 90ern stand – wenn ich mich recht entsinne – „Manche Dinge verlieren ihren Reiz, wenn man zu viel darüber redet“

Deshalb schließe ich jetzt mit der gutgemeinten Aufforderung, das Buch dringend zu lesen und mit meinem Lieblingszitat aus „Das Genie“: „Wenn gezielt versucht wird, den Charakter und Willen eines Menschen zu brechen, nur damit er die Erwartungen der Außenwelt erfüllt, wenn er systematisch verbogen werden soll zu einem Wesen, dass seinem innersten Selbst entfremdet ist, dann ist das Folter auf psychischer Ebene.“ (S. 455)

Wertung:

Handlung: 9,5 von 10 Punkten

Charaktere: 10 von 10 Punkten

Stil: 9,5 von 10 Punkten

Atmosphäre: 9,5 von 10 Punkten

Gesamtwertung: 9,625 von 10 Punkten

Demnächst in diesem Blog: Ausnahmsweise kann ich das nicht sagen, weil ich es selbst noch nicht weiß…

9 Antworten auf „„Das Genie“ von Klaus Cäsar Zehrer – Frühkindliches Erziehungstrauma

  1. Das Schluss-Zitat entspricht so voll und ganz meiner Überzeugung – und auch gewissen Erfahrungen aus meiner Kindheit. Deshalb habe ich immer versucht, bei all meinen Kindern die jeweilige Persönlichkeit zu erkennen sowie auf Druck und Beschränkung zu verzichten. Und dann haute ich bisweilen doch so unbedachte, flapsige Sätze raus, wonach ich mir oft dachte: Hoffentlich sitzt das jetzt nicht so tief.
    Z. B. im Beisein meines mittleren Sohnes : „Wenn eins meiner Kinder Banker wird, hab ich versagt.“ Das hat in der Tat bewirkt, obwohl ich das oft genug differenziert erklärte, dass er sein Talent zu Geschäften lange Zeit vor sich selbst verbarg. Er engagiert sich heute nach der Gemeinwohlökonomie – Geschäfte ja, aber nur nach ethischen Maßstäben. Es wird unterschätzt, wie lähmend in der Persönlichkeitsentwicklung besonders abwertende Worte sein können.

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    1. Ich finde den Satz über die Banker ja eher witzig, weiß aber natürlich, was Du meinst. Trotzdem kann man sicherlich nicht alles auf die Goldwaage legen und bei jedem Satz abwägen, wie er beim Gegenüber ankommt, weil eine normale Unterhaltung ansonsten sehr viel mehr Zeit in Anspruch nehmen würde. ;-) Auf jegliche abwertenden Worte sollte man in jedem Fall verzichten, da bin ich ganz Deiner Meinung!

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      1. Ich fand es ja auch witzig. Und für die meisten dieser Spezies galt und gilt das für mich auch nach wie vor. Aber mit der Zeit fiel mir halt auf, wie sehr er sich damit auseinandersetzte. Weil er auch noch sehr jung war, als ich das sagte. In einem Alter, als er nicht darauf reagieren oder angemessen argumentieren konnte. Wenn wir uns heute in dieser Weise bis hin zu brutalem Sarkasmus unterhalten, macht das nur noch Spaß.
        Das Problem ist auch nicht, etwas gesagt zu haben, sondern nicht zu bemerken, wenn es dem Gegenüber Probleme bereitet in der Selbstfindung.

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