„Wolf in White Van“ von John Darnielle – Kaleidoskop in scharz-weiß

Buch: „Wolf in White Van“ (2016)

Autor: John Darnielle

Verlag: Eichborn

Ausgabe: Gebunden, 255 Seiten

Der Autor: John Darnielle, geboren  1967 in Bloomington, Indiana, ist ein amerikanischer Musiker und Autor. Er wuchs in Kalifornien auf, zog aber bald nach seinem Highschool-Abschluss nach Portland, da er unter seinem gewalttätigen Stiefvater litt. Dort rutschte er jedoch in die Drogensucht und lebte einige Zeit auf der Straße. In dieser Zeit begann er, Songs zu schreiben.

Darnielle bekam sein Leben durch eine Tätigkeit am Metropolitan State Hospital wieder in den Griff, schrieb sich am College ein und schloss ein Englisch-Studium ab.

1991 gründete er die Band „The Mountain Goats“. Wie diese Band ein Vierteljahrhundert an mir vorbeigehen konnte, erschließt sich mir absolut nicht…

„Wolf in White Van“ ist, nach einem Beitrag zur „33 1/3“-Serie, in der mehr oder weniger prominente Autoren einen hunderseitigen Text zu einem Rockalbum ihrer Wahl schreiben dürfen – Darnielle entschied sich für „Master of reality“ von „Black Sabbath“ -, sein zweiter erschienener Text und sein erster Roman.

Das Buch: Sean Phillips hatte es nicht leicht im Leben. Bereits in der Schule war der Junge ein Außenseiter, fühlte sich von seinen Eltern unverstanden und flüchtete sich in die Welten blutiger Filme und Fantasy-Literatur, vorzugsweise „Conan, der Barbar“, der eine Art Idol für den jungen Sean darstellte.

Im Alter von 16 Jahren wird sein Gesicht durch einen Unfall schwer entstellt. Während eines langen Krankenhausaufenthaltes muss Sean Operationen und starke Schmerzen über sich ergehen lassen. Dabei flüchtet sich der Junge immer öfter in eine von ihm selbst erdachte Fantasy-Welt.

Jahre später, nach seinem Schulabschluss, wird diese Fantasy-Welt der Grundstein für seinen Lebensunterhalt sein: Er entwickelt Anfang der 90er das Rollenspiel „Trace Italian“, bei dem die Spieler in einem postapokalyptischem Amerika die Flucht vor verstrahlten Zombies antreten und sich in die sagenumwobene Festung „Trace Italian“ retten müssen. Die Teilnahme am Spiel erfolgt per Post, die Teilnehmer schließen ein Abo für 5 $ monatlich ab und schicken ihre Spielzüge per Brief zu Sean, der daraufhin einen Brief mit den Auswirkungen und neuen Entscheidungsmöglichkeiten für die Spielfigur an die Spieler schickt usw.

Der junge Mann kann recht gut davon leben, gründet eine Firma und erfindet weitere Rollenspiele. Dann jedoch wird Sean mit dem Tod einer jungen Frau konfrontiert, die zusammen mit ihrem Freund Spielerin bei „Trace Italian“ war. Die beiden jungen Leute haben beschlossen, ihre Spielzüge in der realen Welt auszuführen, was zum Erfrierungstod des Mädchens führt. Plötzlich findet sich Sean vor Gericht wieder.

Fazit: Ja, eigentlich hatte ich an dieser Stelle die Rezension des Buches „Spektrum“ von Sergej Lukianenko angekündigt. Das hole ich demnächst nach. Gestern war nämlich der „Embrace-your-geekness-day“, der – frei übersetzt – „Sei-stolz-ein-Geek-zu-sein-Tag“. Kein Witz!“ Und da passt dieses Buch viel besser!

Tja, Bücher und ihre Klappentexte… Zugegeben, bei „Wolf in White Van“ hätte ich auch allein aufgrund des Titels zugegriffen, ohne auch nur irgendetwas vom Klappentext zu lesen. ;-) Aber irgendwann tut man das ja doch, und dann sollte das, was da steht auch stimmen bzw. wenigstens keine falschen Erwartungen beim Leser wecken. In diesem Fall tut der Text das aber schon, denn er impliziert, dass es in der Handlung primär um den Todesfall der jungen Rollenspielerin geht. „Und Sean muss sich die Frage stellen, welche Verantwortung er dafür trägt“, heißt es da. Falsch ist das nicht, ganz richtig aber auch nicht. Tatsächlich ist dieser Teil der Handlung nämlich eher Beiwerk, ganz im Zentrum des Buches steht die Frage, welcher Art der Unfall ist, den Sean in jungen Jahren erlitten hat und wie es dazu kam.

Dafür kann aber John Darnielle nichts und dieser Text – der offensichtlich von jemandem verfasst wurde, der das Buch entweder nicht gelesen oder aber nicht verstanden hat – macht „Wolf in White Van“ auch keinesfalls zu einem schlechten Buch!

Sean selbst als Ich-Erzähler bringt dem Leser die Geschichte seines Aufwachsens vor und nach dem Unfall nahe. Dabei erhält man tiefe Einblicke in das Seelenleben des Jungen, der sich plötzlich mit den Anforderungen des Erwachsenwerdens konfrontiert sieht. Mit den Auswirkungen des Unfalls, also seinem entstellten Gesicht, undeutlicher Aussprache und vielen anderen Dingen, hat sich Sean bereits relativ schnell arrangiert. „Ich hatte so früh aufgehört, normal zu sein, dass es mir schwerfiel, mir vorzustellen, irgendwie anders zu sein, als ich war“, heißt es dazu auf Seite 97. Mit den Anforderungen, die das Leben ihm stellt, kommt er aber auch als Erwachsener nicht unbedingt besser klar. „Ich habe ein tiefes Bedürfnis nach Stillstand, und größtenteils habe ich diesen Zustand im Laufe der Zeit auch erreicht.“, stellt er diesbezüglich fest (S. 45). Daher schottet sich Sean auch weitestgehend von der Außenwelt ab, sowohl physisch als auch emotional. „(…) ich muss ständig die Mauer verstärken, die meine Gefühle im Zaum hält, oder ich werde etwas empfinden, das zu groß ist, um es zu kontrollieren.“ (S.14)

Darnielle lässt seinen Protagonisten zusammenhanglos erzählen, Sean springt in seinem Bericht zeitlich wild vor und zurück. Das macht es dem Leser nicht unbedingt einfacher, der Handlung zu folgen. „Wolf in White Van“ ist kein Buch, dass man nach einem langen Arbeitstag zur Entspannung lesen würde. Gut, das habe ich gestern getan, aber ich wusste es ja nicht besser. Die Erzählweise finde ich persönlich spannend und vollkommen passend, da Sean in seiner Gedankenwelt auch eben mal häufig in Fantasy-Welten abdriftet, da ist es nur stringent, wenn er bei der Erzählung der Ereignisse öfter mal hierhin und dorthin abschweift.

Stilistisch gefällt mir „Wolf in White Van“ ebenfalls sehr gut, die düstere Stimmung in der sich Sean befindet zieht sich über 250 Seiten durch den Text. Ein Wohlfühl-Buch ist es nun wahrlich nicht, aber wer sich angesichts der geschilderten Ereignisse wohl fühlen würde, der… na, dem sollte man helfen. ;-)

John Darnielle hat mit seinem ersten Roman ein sowohl sprachlich als auch hinsichtlich der Handlung intensives Buch geschrieben. Ein Buch über Außenseiter und wie sie sich fühlen. Ein Buch über das Erwachsenwerden. Ein Buch über das Scheitern. Ein Buch, bei dem es sich mal wieder lohnt, zum Abschluss meinen Lieblingssatz zu zitieren:„Aber manchmal fällt mir die Decke auf den Kopf und ich hasse es, dass ich mit meinem Leben nicht all das anstellen kann, was alle anderen als selbstverständlich betrachten.“ (S.89)

Wertung:

Handlung: 8,5 von 10 Punkten

Stil: 9 von 10 Punkten

Charaktere: 10 von 10 Punkten

Atmosphäre: 9 von 10 Punkten

Gesamtwertung: 9,125 von 10 Punkten

Demnächst in diesem Blog: Demnächst widme ich mich vielleicht doch Lukianenkos „Spektrum“, vielleicht aber auch erst „Die Entdeckung des Unendlichen“ von David Foster Wallace ooooder „Wittgensteins Mätresse“ von David Markson oder, oder, oder… Kurz: Ich weiß es noch nicht genau!

Übrigens war das mein 100. Beitrag. Ich werfe kurz ein wenig Konfetti und dann sehe ich etwas aus dem Fenster. Oder wie John Darnielle sagen würde: „Du hast Dir einen leeren Moment oder zwei verdient.“

 

6 Antworten auf „„Wolf in White Van“ von John Darnielle – Kaleidoskop in scharz-weiß

  1. Herzlichen Glückwunsch zur 100. Rezension. Reife Leistung. Bin weiterhin gespannt und erwarte sehnlichst eine Rezension über ein Buch, das ich bereits gelesen habe. Um zu sehen, in wieweit unsere Ansichten (noch) übereinstimmen ;)

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  2. *schmeißt auch ein wenig Konfetti* Und dann gleich ein Lesetipp für meine Liste. Danke dafür. Das Buch klingt nämlich nach meinem Geschmack. :)
    Wittgensteins Mätresse? Aus purem Egoismus würde mich das ja am Meisten interessieren. 😊

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