„Corpus Delicti“ von Juli Zeh – In 10 Schritten zur Dystopie

Buch: „Corpus Delicti“ (2010)

Autorin: Juli Zeh

Verlag: btb

Ausgabe: Taschenbuch, 264 Seiten

Die Autorin: Juli Zeh ist eine 1974 in Bonn geborene deutsche Juristin und Schriftstellerin. Sie studierte Jura sowie Europa- und Völkerrecht in Passau, Leipzig, Prag und New York.

Bereits mit ihrem Debütroman „Adler und Engel“ konnte sie die Leser begeistern. Dem Erstling folgten viele weitere Romane, Essays, Kinderbücher, Theaterstücke, Hörspiele und Kurzgeschichten. Ihre Werke wurden mittlerweile in über 35 Sprachen übersetzt.

Die Autorin ist neben ihrer literarischen Tätigkeit auch für ihr politisches Engagement bekannt. So äußerte sie sich öffentlich zur Einführung des biometrischen Reisepasses sowie der NSA-Affäre. Darüber hinaus verfasst sie in regelmäßigen Abständen Essays für „Die Zeit“ und die „FAZ“.

Zeh lebt im Landkreis Havelland in Brandenburg.

Das Buch: Deutschland in der Mitte des 21. Jahrhunderts. Die Menschen leben in einer Art Gesundheits-Diktatur, die sich die METHODE nennt. Alle Krankheiten sind vollständig ausgerottet, die Menschen leben in vollkommen keimfreien Häusern und meiden die freie Natur. Im Fokus der METHODE liegt das gesundheitliche Wohl des Einzelnen, woraus das Allgemeinwohl entstehen soll. Sie legitimiert sich durch den unbedingten Überlebenswillen jedes Einzelnen.

Diese Art des sorgenfreien Lebens hat allerdings seinen Preis: Der Staat führt peinlich genau Aufsicht über die Lebensweise seiner Einwohner. Die freie Wahl eines Lebenspartners ist illegal und gehört der Vergangenheit an, sie werden von der METHODE nach immunologischem Profil vorgeschlagen. Darüber hinaus sind die Menschen verpflichtet, sich sportlich zu betätigen, z.B. indem sie festgelegte Strecken auf dem Heimtrainer laufen. Sie müssen regelmäßig Schlaf- und Ernährungberichte abgeben sowie medizinische und hygienische Proben einreichen. Der Konsum von Zigaretten, Alkohol oder sonstigen gesundheitsschädlichen Substanzen ist verboten und wird von der METHODE juristisch verfolgt bzw. bestraft.

In dieser Welt lebt Mia Holl, Wissenschaftlerin und Vernunftmensch. Sie ordnet sich im System ein und hält es für gerecht, geradezu unfehlbar. Ihr Bruder Moritz sieht es ganz anders, er fühlt sich vom System eingeengt und wünscht sich die Freiheit, auch mal unvernünftige Dinge tun und Risiken eingehen zu dürfen.

Dann folgt der große Schock: Eine Frau wird umgebracht, die Behörden können am Mordopfer die DNA von Moritz Holl sicherstellen. Mia aber weiß intuitiv, dass ihr Bruder keinen Mord begangen haben kann, schließlich kennt sie ihn so gut wie niemanden sonst. Mia muss eine Entscheidung fällen: Entweder sie glaubt daran, dass ihr Bruder ein Mörder ist, oder aber die METHODE hat einen Fehler gemacht, somit ist sie nicht unfehlbar und das ganze System müsste hinterfragt werden.

An der Seite des Rechtsanwalts Rosentreter versucht Mia schließlich doch, die Unschuld ihres Bruders zu beweisen

Fazit: Auf dieses Buch aufmerksam geworden bin ich durch einen Kommentar von keinmenschenfeind. Vielen lieben Dank für die Anregung!

Trotz des überschaubaren Umfangs von 264 Seiten ist „Corpus Delicti“ kein Buch, das man mal eben so weglesen kann. Das Buch wehrt sich, es sperrt sich, ist schwer zugänglich. Diese Wirkung erreicht die Autorin durch die Wahl eines sehr charakteristischen Stils. Zeh erzählt die Geschichte in Zeitsprüngen zwischen Gegenwart und Vergangenheit und auf eine sehr nüchterne, fast steril wirkende Art und Weise. Das muss man nicht mögen! Und wäre mir dieser Stil in einem anderen Buch untergekommen, dann hätte ich es wahrscheinlich nach kurzer Zeit entnervt und befremdet weggelegt. Hier aber passt dieser Stil einfach unheimlich gut in den gewählten Handlungsrahmen, schließlich ist die beschriebene Welt in „Corpus Delicti“ eine ebenso sterile.

Auch die Dialoge lösten bei mir mal wieder eine „So-redet-doch-kein-Mensch“-Reaktion aus. Aber auch das finde ich unter Berücksichtigung des Handlungsrahmens – ich vermeide gerade erfolgreich den Anglizismus „Setting“ – irgendwie passend. Zur Mitte unseres Jahrhunderts reden die Menschen möglicherweise tatsächlich so oder ähnlich.

Die Charakterzeichnungen leiden ein wenig unter dem geringen Umfang von „Corpus Delicti“. Bis auf Mia haben alle Charaktere nur ein gewisses Grundmerkmal, dass sie ausmacht: Anwalt Rosentreter will das System aus persönlichen Gründen zu Fall bringen, der für die METHODE werbende Kramer fungiert als Bösewicht, Moritz zeichnet sich in erster Linie durch seine Freiheitsliebe und seine Unangepasstheit aus usw. Eine Wendung der Weltanschauungen oder sonstige Entwicklung der Charaktere im Laufe der Handlung findet nicht statt.

Im Fokus der Handlung steht bei Zeh kein sonderlich spektakulärer Spannungsbogen, schließlich ist das Buch kein Thriller. Die Autorin stellt im Rahmen der Handlung in erster Linie die Kritik am dargestellten System in den Fokus. Daher verzeihe ich ihr auch den Einfall zur Auflösung der Mordermittlung gegen Moritz Holl. Diesbezüglich kann und möchte ich natürlich nicht spoilern, muss aber mal eine mir nahestehende ganz zauberhafte Person, die in den Naturwissenschaften – speziell der Biologie – sehr bewandert ist, fragen, ob das alles so stimmen kann, was mir Frau Zeh da vorsetzt. Nun, jedenfalls regt die geäußerte Kritik am diktatorischen System und am gläsernen Menschen, die die Autorin über ihre Figuren äußert, wirklich zum Nachdenken an. Inwieweit haben wir es denn schon geschafft, die Weichen für ein solches System in naher oder ferner Zukunft zu stellen? Also denke ich jetzt mal nach:

Nehmen wir mal an, es wären wirklich 10 Schritte, die es bräuchte, um vom Ist-Zustand in die Dystopie der Autorin zu geraten… Dann haben wir Schritt 1 vielleicht schon damit gemacht, dass irgendwann mal „elektronische Gesundheitskarten“ eingeführt wurden, die in naher Zukunft sämtliche medizinischen Daten über den entsprechenden Patienten enthalten sollen, welche aber genialerweise nicht im System des behandelnden Hausarztes gespeichert werden, sondern irgendwo in der „Cloud“, um einem potentiellen Hacker die Arbeit zu erleichtern und ihn nicht zu überfordern.

Auch Schritt 2 haben wir bereits getan, indem wir – überspitzt gesagt – Facebook mehr persönliche Daten anvertrauen, als die Stasi je erspitzeln wollte und wir zusätzlich noch eine Unmenge weiterer Informationen über uns, unser Leben und unsere Lebensweisen unreflektiert ins Netz rausposaunen, einfach weil wir es können.

Schritt 3 haben wir hinter uns gebracht, als bei Umfragen die befragten Menschen in der großen Mehrzahl eine hohe Bereitschaft zu dem Vorschlag äußerten, Fitnessarmbänder zu tragen und die aufgezeichneten Daten über Blutdruck, Puls, gelaufene Kilometer und dergleichen mehr der Krankenkasse zu überlassen – und das einzig und allein für niedrigere Krankenkassenbeiträge.

Schritt Nummer 4 wurde gemacht, als die AfD sich öffentlich für das Lebensmodell der Familie als Basis des Staates stark machte und sich gleichzeitig gegen staatliche Förderung von „individuellen“ Lebensweisen wie z.B. des „selbstgewählten“ Lebensmodells der „Alleinerziehenden“ aussprach. Ich muss bei solchen Äußerungen immer arg würgen , aber irgendwie blieb dieser Vorschlag – in meiner Wahrnehmung – weitgehend unwidersprochen und niemand ging auf die Straße, um mit Fackeln und Forken für gesellschaftliche Errungenschaften zu kämpfen. Vielleicht waren Deutschlands Marktplätze gerade aber auch nur durch „Pegida“ besetzt…

Schritt 5 schließlich wurde gerade heute absolviert, und zwar mit der gesetzlichen Vorgabe, Zigarettenschachteln in Zukunft mit Schockbildern von Raucherlungen, Leichen und ähnlichem zu versehen. Wobei ich damit in keiner Weise den Tabakgenuss als solchen gut heißen möchte, ich bin lediglich der Meinung, dass es nicht die Aufgabe des Staates sein kann, die Menschen vor ihrer eigenen Dummheit zu beschützen! Außerdem müssten dann auch weitere Dinge mit Warnhinweisen versehen werden. Bierflaschen mit Bildern einer Säuferleber in den verschiedensten Stadien des Verfalls, Zapfsäulen an der Tankstelle mit Bildern von Unfallopfern und Chipstüten mit Bildern von verstopften Herzkranzgefäßen. Macht aber keiner! Warum nur?

Belassen wir es bei diesen schon getätigten 5 ersten Schritten hin zur Gesundheitsdiktatur. Diese Schritte wurden alle in einem überschaubaren Zeitraum innerhalb der letzten paar Jahre getätigt. Sollten die Schritte 6 bis 10 eine ähnlich kurze Dauer benötigen, dann ist „Corpus Delicti“ bald kein dystopischer Roman mehr, sondern ein Sachbuch. Oder verboten…

Edit 2020: Zu ihrem mittlerweile über ihren Roman veröffentlichten Buch „Fragen zu „Corpus Delicti““ gelangt man hier.

Wertung:

Handlung: 8,5 von 10 Punkten

Stil: 9 von 10 Punkten

Charaktere: 7 von 10 Punkten

Atmosphäre: 9 von 10 Punkten

Gesamtwertung: 8,375 von 10 Punkten

Demnächst in diesem Blog: Bald geht es mal wieder in das hier weiterhin unterrepräsentierte Fantasy-Genre. „Das Lied des Blutes“ von Anthony Ryan.

8 Antworten auf „„Corpus Delicti“ von Juli Zeh – In 10 Schritten zur Dystopie

  1. Ich finde das Buch ideal als Schullektüre, weil es jeder Menge fachfremder Schwafelthemen Raum gibt (einerseits kann man doch nicht … andererseits muss man … (gähn)). So kriegt man den Leistungskurs ohne viel Arbeit durch das Schuljahr. Der Deutschlehrer muss sich nicht auf sein Kerngeschäft besinnen, jungen Erwachsenen zu zeigen, woran man einen schlechten von einem guten Text unterscheidet.
    Ich hätte mich sehr gefreut, wenn es mal eine Schriftstellerin oder einen Schriftsteller aus Bonn gäbe, der dauerhaft zur Ehre der Altäre (also zur Schullektüre) erhoben worden wäre, aber der Wunsch hat sich mit Juli Zeh nicht wirklich erfüllt.

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    1. Mir hats gefallen. :-)

      Ob man das Buch zwingend als Schullektüre nutzen sollte, darüber kann man unterschiedlicher Meinung sein, und wenn, dann nicht unbedingt im Deutsch-LK. Im Grunde sind sich dann doch nur alle einig, dass es alles zu tun gilt, um das Zeh´sche Schreckensszenario zu vermeiden.

      Ich versuche, mich übrigens gerade zurückzuerinnern und stelle mir die Frage, ob ich jemals Deutsch-Lehrer hatte, die mir erklären konnten, was einen guten von einem schlechten Text unterscheidet. Ich hatte durchaus Deutsch-Lehrer, die die zu lesende Lektüre als gut und wichtig angesehen haben, meist aber, ohne zu begründen, warum eigentlich. Ich weiß beispielsweise bis heute nicht, was mein LK-Lehrer an „Nachdenken über Christa T.“ von Christa Wolf so toll fand. Ich fand – und finde – es indiskutabel. Vielleicht liegt die Frage nach einem guten oder schlechten Text auch immer im Auge des Betrachters bzw. Lesers.

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  2. Fantastisch :) Ich muss allerdings sagen, dass das Buch in der Klasse nicht gerade beliebt war – meine Altersklasse scheint tendenziell eher auf…anderes zu stehen. Was so in den Charts ist. :D
    Ich persönlich habe Kramer gar nicht so richtig als Bösewicht gesehen, den „Bösewicht“ sehe ich in dieser Geschichte nicht – die Menschen haben halt nicht aufgepasst und plötzlich war die Zukunft da, Kramer seh ich nur als das Gesicht der ausführenden Kräfte^^

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    1. Danke! ;-)

      Ich muss ganz ehrlich zugeben: Hätte ich das Buch damals zu Schulzeiten lesen müssen – ich hätte es auch nicht gemocht! ;-) Für manche Bücher muss man irgendwie einfach bereit sein und sich auch darauf einlassen. Bei manchen Lesern ist das eben früher, bei manchen später und bei wieder anderen nie der Fall.

      Ja gut, der klassische Bösewicht ist Kramer jetzt nicht. Eher ein Lakai der ausführenden Macht, das stimmt schon. Trotzdem ein ausgesprochener Unsympath! :-)

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